Das "Jahrbuch für Antisemitismusforschung" erschien erneut mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, wozu diesmal auch die Frage nach dem Antisemitismus unter Flüchtlingen gehört. Dessen Existenz wird dabei deutlich, die Relevanz ist indessen unklar. Insofern besteht hier weiterhin hoher Forschungsbedarf.
Das "Jahrbuch für Antisemitismusforschung", das vom "Zentrum für Antisemitismusforschung" an der Technischen Universität Berlin herausgegeben wird, versteht sich nicht nur als Forum für wissenschaftliche Beiträge zur Judenfeindschaft. Auch andere Aspekte der Minderheiten- und Vorurteilsforschung wurden in ihm immer wieder aufgegriffen. Dabei nutzten die Autoren mitunter die Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung, um damit andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu untersuchen. Auch wenn die Beiträge von Historikern meist überwiegen, handelt es sich doch um ein interdisziplinär angelegtes Jahrbuch. Genau dies macht in Kombination mit der Vielfalt der Themen auch immer wieder den Reiz jeder Ausgabe aus. Mittlerweile liegt der Band 26 vor, welcher ganz unterschiedliche Schwerpunkte hat. Dabei kommt den Beiträgen zur Frage, inwieweit es auch unter Flüchtlingen antisemitische Ressentiments gibt, besondere Relevanz zu.
Aber der Reihe nach: Zunächst finden sich zwei Aufsätze zu Werner Bergmann, der die Arbeit des Zentrums für Antisemitismusforschung jahrzehntelang mit geprägt hat. Dem folgen Abhandlungen unter der Rubrik "Nationalsozialismus und Antisemitismus im 20. Jahrhundert". Darin geht es um die Organisation "Bund Völkischer Europäer" zwischen 1933 und 1936, einen Fall von antisemitischer Selbstmobilisierung zu Beginn der NS-Herrschaft und die Judenfeindschaft ohne Juden am Beispiel der Region Kargopol im Nordrussland gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Der darauf folgende Schwerpunkt lautet "Sexuelle Gewalt während des Völkermords an den Armeniern und des Holocaust". Dabei geht es um das Schicksal armenischer Frauen und die Sex-Zwangsarbeit in KZ-Lagerbordellen. Außerdem widmen sich Beiträge dem Verhältnis von "Kritische Theorie und Antisemitismusforschung", wobei der Kontext mit der psychoanalytischen Sozialpsychologie und der Deutung des Holocaust, aber auch das Werk des Forschers Paul W. Massing im Zentrum stehen.
Erst danach geht es um "Migration, Islam und Antisemitismus": Dabei werden zunächst die Ergebnisse einer qualitativen Analyse bei der Befragung von 24 Flüchtlingen präsentiert, wobei die Existenz antisemitischer und antizionistischer Einstellungen konstatiert, aber auch die Komplexität einschlägiger Bilder deutlich wurde. Es heißt u. a.: "Ein Kausalzusammenhang zwischen religiöser Identität der Befragten als Muslime und antisemitischen Einstellungen kann … nicht festgestellt werden" (S. 323). Eine weitere Abhandlung fragt danach, inwieweit man von einem "importierten Antisemitismus" sprechen könne. Deutlich wird dabei zunächst, dass es nur wenige belastbare Informationen dazu aus wissenschaftlichen Studien gibt. Bilanzierend heißt es: "Es fanden sich keine Belege für einen auf die Geflüchteten aus den MENA-Ländern zurückzuführenden Anstieg antisemitischer Vorfälle" (S. 360). Und dann wurden hier auch die besonderen jüdischen Perspektiven auf den Antisemitismus unter Muslimen in Deutschland thematisiert.
Das Jahrbuch schließt mit einem Blick auf die Debatte um den "Fall Mendivil" als Beispiel für einen israelfeindlichen Antisemitismus an der FU Berlin und einem Literaturbericht zu den geschichtspolitischen Irrwegen der Wagnerianismusforschung. Die größte gesellschaftliche Bedeutung dürften aber die erwähnten Beiträge zum Antisemitismus unter Flüchtlingen haben. Sie kommen nicht zu einem klaren Ergebnis, was mit der unterentwickelten Forschung zum Thema zu tun hat. Darüber hinaus gibt es bei der Deutung in hohem Maße politische Implikationen: Es gibt sowohl die Neigung, darüber hinwegzusehen, da man Betroffenen von Verfolgung nur ungern Antisemitismus zuschreibt. Es gibt aber auch die Neigung, darauf besonders intensiv zu starren, fällt doch so der Antisemitismus in der deutschen Mehrheitskultur aus dem Blick. Die drei Abhandlungen machen indessen sehr wohl die Existenz einschlägiger judenfeindlicher Ressentiments deutlich. Deren Bedeutung und Hintergründe müssen stärker erforscht werden.
Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung 26, Berlin 2017 (Metropol-Verlag), 439 S., ISBN: 978-3-86331-380-7, 16,00 Euro
5 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
"Ein Kausalzusammenhang zwischen religiöser Identität der Befragten als Muslime und antisemitischen Einstellungen kann … nicht festgestellt werden...
Wie bitte? Mit dieser naiven oder vorsätzlichen Ignoranz werden wir uns dem wichtigen Thema leider nicht nähern können.
"Es gibt aber auch die Neigung, darauf besonders intensiv zu starren, fällt doch so der Antisemitismus in der deutschen Mehrheitskultur aus dem Blick."
Vielleicht liegt dies vielmehr in der vorherrschenden Neigung begründet, Antisemitismus aus dem muslimischen Kulturkreis größtenteils zu ignorieren, abzustreiten oder kleinzureden. Siehe oben.
Bernd am Permanenter Link
Ach David... David... Da steht im Artikel, dass es noch grundlegender Forschung bedarf, ehe man sich ein Urteil erlauben könne... und Du weißt es trotzdem besser.
little Louis am Permanenter Link
Der Hinweis auf den "Bedarf nach noch grundlegenderer Forschung" ist immer sehr bequem: Das Thema ist erst einmal vom Tisch und ob die Forderung dann später tatsächlich erfüllt wird, interessiert die meisten
Oder etwas polemischer: Es ist das Abwiegelungsrinzip: "Schaun wa mal....." (-:
David am Permanenter Link
Da haben Sie natürlich Recht. Wir sollten tatsächlich noch grundlegender forschen, bevor wir uns hier ein Urteil erlauben dürfen.
Wie lange meinen Sie, sollten wir hier bei diesem Thema eigentlich noch forschen? Und wieso reichen Ihnen nicht all die eindeutigen Indizien in den genannten Ländern, die sich aus Schulbuchtexten, politischen Zeitungsartikeln, gesellschaftlich unkritischen Rezeptionen zu antisemitischen Texten wie zB den Protokollen der Weisen von Zion, Wahrnehmung von Hitler, Einstellung zu Israel usw. speisen und die uns eine spezifische Antisemitismustendenz förmlich entgegenschreien?
Ich bin ganz bei Ihnen, wenn Sie Details meinen, die es zu erforschen gilt. Aber das war nicht die Aussage. So zu tun, als ob wir hier aufgrund von unzureichender Forschung keine Erkenntnisse über ein spezifisches Antisemitismusproblem in diesem Kulturkreis ausmachen können (und damit inzwischen auch in Europa), ist einfach nur grotesk.
carola am Permanenter Link
In den Herkunftsländern wird Antisemitismus schon in der Schule gelehrt. Lesen Sie mal Bassam Tibi.