Rezension

Autobiographie eines Abtrünnigen von Islamismus und Nationalismus

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Der sogenannte "Wolfsgruß" – das Erkennungszeichen der Grauen Wölfe
Der sogenannte "Wolfsgruß"

"Der Abtrünnige" heißt das autobiographische Buch von Erol Ünal über "15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und rechtsextremen über Radikale bis zu Sufis". Es wird ein sehr persönlicher und eben subjektiver Einblick in eine Parallelwelt gegeben, welche in der Forschung wie der Öffentlichkeit viel zu wenig ein Thema ist.

Durch die Debatte um Migrationsfolgen geistert "Parallelgesellschaft" als Stichwort. Doch was ist mit dieser Bezeichnung überhaupt gemeint, mangelt es doch meist an einer Definition. Eine gewisse Absonderung kann auch für bloßen Pluralismus stehen, schwieriger wird es bei dogmatischen Einstellungen und unsozialen Verhaltensweisen. Doch wie es darum im konkreten Innenleben von spezifischen Minderheitengesellschaften bestellt ist, bleibt häufig ein nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft weniger beachtetes Thema. Einen diesbezüglichen Einblick will demgegenüber Erol Ünal geben. "Der Abtrünnige" heißt sein Buch, das folgenden langen Untertitel hat: "15 Jahre in Moscheegemeinden. Meine Einblicke in eine Welt von Fundamentalisten und Rechtsextremen über Radikale bis zu Sufis". Es geht entsprechend um eine besondere Autobiographie, worin der Autor seine persönliche und politische Entwicklung schildert: Als Anhänger des islamischen Glaubens und türkischen Nationalismus sozialisiert, wurde er zu einem "linksgerichteten Agnostiker" (S. 226).

Cover

Das Buch ist persönlich gehalten, aber auch politisch gemeint, was ja kein Gegensatz sein muss. Indessen schildert der Autor die entsprechenden Entwicklungen eben aus subjektiver Perspektive, Prüfungen zu den genauen Schilderungen und eventuellen Verallgemeinerungen können so nicht vorgenommen werden. Gleichwohl hat man es mit einem interessanten Blick in das Innenleben der gemeinten Minderheitengemeinschaften zu tun. Ünal beschreibt anschaulich, wie er im religiösen Sinne durch die familiäre Sozialisation geprägt wurde. Dabei verweist der Autor auch auf den Einfluss der Musik, wobei die von Yusuf Islam, dem früheren Cat Stevens, besonders wirksam gewesen sei. Anschaulich schildert er danach seinen Entwicklungsweg in ganz unterschiedlichen Gruppen: Dazu gehörten zunächst die nationalistischen Grauen Wölfe (Alter: 5 bis 13), danach die islamistische Millî Görüş (Alter: 13), dem folgend die strenggläubige Süleyman-Gemeinde (Alter: 13 bis 18) und schließlich die ebenso ausgerichtete Gülen-Gemeinde (Alter: 16 bis 20).

Darüber hinaus gibt es auch Ausführungen zum "Kalifatsstaat" von Metin Kaplan oder der türkischen DITIB-Organisation. Es werden die besonderen Räumlichkeiten beschrieben, die jeweiligen Gemeindemitglieder skizziert und die politischen Komponenten betont. Darüber hinaus sind die in Deutschland auszumachenden konkreten Strukturen noch ein besonderes Thema. Und dann geht es auch um Betrugsskandale im Millî-Görüş-Umfeld oder um die politische Entwicklung in der Türkei. "Erdoğan und die AKP", so der Kapiteltitel, seien "die bittere Enttäuschung" für Ünal gewesen. Er macht hierbei auch darauf aufmerksam, dass Erdoğan seine islamistische Ideologie eher indirekt und damit umso wirkungsreicher vermittele und einen schleichenden islamistischen Wandlungsprozess vorangetrieben habe. Deutlich wird dabei auch Erdoğans Antisemitismus betont. Und dann geht es schließlich noch um den Bruch Ünals, der sich als "Der Abtrünnige" vom Islam als Religion sowie vom Nationalismus als Wertvorstellung weg bewegte.

Beachtenswert sind die aufgeführten Gründe von jemandem, "der seit seiner Zeit im Kindergarten islamische und nationalistische Musik gehört und ein muslimisch-nationalistisches Umfeld hat, der seit seiner Kindheit Mitglied in Dutzenden Moschee-Gemeinden war" (S. 226) und dann zum linksgerichteten Agnostiker wurde. Als einen Einflussfaktor wird ein Vergleich genannt: "Wenn ich abfällige Kommentare der türkischen Nationalisten über Aleviten sowie über andere Religionszugehörige las oder hörte, erinnerte ich mich an die abfälligen Kommentare der deutschen Nationalisten über Muslime und den Islam" (S. 230). Derartige Beobachtungen und Gedanken verdienen Interesse. Gleiches gilt für die informativen, wenn auch nur kurzen Sachinformationen. Gleichwohl hat man es mit einem autobiographisch geprägten Buch und eben keinem wissenschaftlichen Werk zu tun. Aber die Einblicke in das Innenleben der genannten Parallelgesellschaften sind gegenwärtig kaum anders möglich. Die kritische Forschung schläft hierbei doch sehr tief.

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