Der blinde Fleck der Literatur-Zensur

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Die niederländische Verleger der Werke Dahls haben inzwischen erklärt, dass sie die Bücher des berühmten britischen Kinderbuchautors im Original belassen werden.

Hunderte von Wörtern und Passagen in den Kinderbüchern von Roald Dahl wurden vom Puffin-Verlag umgeschrieben, im Einverständnis mit Dahls Erben. Die Sprachhygieniker kübelten Adjektive wie fett und hässlich; sogar die Farbe der schwarzen Traktoren (im "Fantastic Mr. Fox") wurde politisch korrekt ausgegraut. Gute Idee? Schlechte Idee? Slippery Slope?

Die Weltpresse schimpft, seit Roald Dahls Klassiker nun in neuer, bereinigter Form erscheinen. Salman Rushdie etwa, selbst prominentes Zensur-Opfer, twitterte von "Verhunzung" und "Empfindsamkeits-Polizei". Andererseits sagt man Dahl rassistische, misogyne und antisemitische Tendenzen nach – kein Stoff für heutige Gute-Nacht-Geschichten.

Die Entpeinlichung alter Schinken ist keine neue "woke" Praktik. Daniel Defoes Robinson Crusoe, viel schlimmer als Dahl, wurde zum Beispiel schon vor Jahrzehnten mit grober Schere fürs Kinderzimmer redigiert. Als ich unlängst auf Facebook ausgewählte Scheußlichkeiten aus dem Originalroman zitierte, landete ich wham, ban, im FB-Jail.

Sind solche Eingriffe in die Weltliteratur klug? Natürlich müssen Zeitdokumente erhalten bleiben: für die Gelehrten. Doch spätestens seit Robinson räume ich ein, dass modrige Werke aus der Moralkloake für ein gutes Betthupferl zuweilen der Entschlackung bedürfen.

"Warum ist der monströseste Wälzer aus dem Fiction-Regal nach wie vor Kindern frei zugänglich: die Bibel?"

Müssen wir nicht aber befürchten, dass, einmal losgeschnippt, bußfertige Scheren zu voreilig ins Kraut fahren? War bei Dahl wirklich jede Änderung nötig? Und wieso sind Shakespeare und die Grimm'schen Märchen sakrosankt? Warum ist der monströseste Wälzer aus dem Fiction-Regal nach wie vor Kindern frei zugänglich: die Bibel?

Denn vergleicht man die mensch- und tierverachtenden Absätze bei Daniel Defoe und die passiv-aggressiven Seitenhiebe von Roald Dahl mit dem viel gelobten "Buch der Bücher", das ohne Genierer die Männerherrschaft glorifiziert, das Verkaufen der Töchter, die Unterwerfung der Sklaven, die Mordaufträge gegen Schwule und Ungläubige, verpackt in ein donnerdrohendes Konvolut zur Rechtfertigung von Genozid, Raubbau, Babykilling und "heiligen" Kriegen – dagegen sehen Defoe und Dahl aus wie Osterhäschen und duften nach Rosen.

Wennschon, dennschon, ihr Scherenschleifer und Kinderschützer: Welches Buch kommt als Nächstes in den Häcksler? Ich hätte da einen Vorschlag.

Erstveröffentlichung des Textes auf der Webseite des Humanistischen Verbands Österreich (HVÖ). Übernahme mit freundlicher Genehmigung. 

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