Prof. Günther Schönrich von der Berliner Charité im Interview

In der Coronakrise möglichst transparent mit Fakten operieren

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SARS-CoV-2-Virionen mit den namensgebenden "Kronen"
SARS-CoV-2-Virionen mit den namensgebenden "Kronen"

Es kursieren viele abstruse Theorien, Falschaussagen und Fehleinschätzungen rund um das Coronavirus in der Gesellschaft. Ein Interview mit Prof. Dr. Günther Schönrich, dem stellvertretenden Institutsdirektor für Virologie an der Berliner Charité, verschafft hier Klarheit.

hpd: Die Gefahr, welche von SARS-CoV-2 ausgeht, wurde lange Zeit unterschätzt. Unter anderem, weil die Allgemeinheit keine gute Vorstellung von exponentiellem Wachstum hat. Wie würden Sie eben jenes für Laien erklären?

Prof. Dr. Günther Schönrich: Exponentielles Wachstum lässt sich anschaulich darstellen durch eine Legende, von der es verschiedene Versionen gibt und die mit der Erfindung des Schachspiels verknüpft ist. Demnach soll der Erfinder des Schachspiels vom Herrscher für seine Leistung belohnt werden. Er wünschte sich ein Reiskorn für das erste Feld des Schachbretts, welches insgesamt 64 Felder aufweist. Für die nächsten Felder sollte dann jeweils die doppelte Anzahl der Reiskörner, die sich im vorhergehenden Feld befanden, hingelegt werden (Also 1 Reiskorn im ersten Feld, 2 Reiskörner im zweiten Feld, 4 Reiskörner im dritten Feld und so weiter bis zum 64. Feld). Dem Herrscher schien dieser Wunsch lächerlich zu sein, da er die Anzahl der Reiskörner sich am Ende nicht vorstellen konnte. Doch schon im 30. Feld waren 536.870.912 Reiskörner fällig. Für das 64. und letzte Feld schließlich ergab sich eine Anzahl von 9.223.372.036.864.775.808 Reiskörner. Wenn das Gewicht eines Reiskorns mit 0,03 Gramm veranschlagt wird, dann ergibt sich daraus 277 Milliarden Tonnen Reis. Wenn man dann noch die vorhergehenden Felder dazurechnet, dann kommt dabei die unglaubliche Menge von 540 Milliarden Tonnen Reis heraus (Zum Vergleich: Im Jahr 2018/19 betrug die gesamte Ernte auf der Welt – nach Daten des USDA Foreign Agricultural Service – 499,2 Millionen Tonnen Reis). Das ist exponentielles Wachstum.

Es gibt einige, die die Gefahr des neuen Virus mit einem Verweis darauf relativieren, dass sich SARS-CoV-2 im Wesentlichen nicht von der Grippe unterscheide. Ist das gerechtfertigt?

Prof. Dr. Günther Schönrich, Foto: privat
Prof. Dr. Günther Schönrich, Foto: privat

Nein! Es gibt wesentliche Unterschiede. Erstens, die ganz "normale" Grippe, die uns jeden Winter heimsucht und deshalb "saisonale" Grippe genannt wird, infiziert viel weniger Menschen (ungefähr 10 bis 15 Prozent der Weltbevölkerung). Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass in großen Teilen der Bevölkerung schon eine gewisse Immunität gegenüber den saisonalen Grippeviren vorhanden ist. Gegenüber dem neuen Coronavirus, das wir auch SARS-CoV-2 nennen, ist hingegen so gut wie keine Immunität vorhanden, weil dieses Virus erst vor kurzem vom Tier auf den Menschen übergesprungen ist. Es ist damit für den Menschen beziehungsweise menschliche Immunsystem neu. Zweitens, die Letalität (Anzahl der Todesfälle unter den Infizierten) bei der durch SARS-CoV-2 hervorgerufenen Erkrankung (COVID-19) scheint ein wenig höher zu sein (schätzungsweise 0,3 bis 0,7 Prozent) als bei der saisonalen Grippe (schätzungsweise 0,1 bis 0,2 Prozent). Die Letalität von COVID-19 muss allerdings noch in weiteren Studien verifiziert werden. Zusammenfassend bedeutet dies: Die Neuheit des Virus für das menschliche Immunsystem und die etwas höhere Letalität bilden einen gravierenden Unterschied zur ganz normalen Grippe.

Eine kleine Zahl von Forscher*innen behauptet, dass die Unterscheidung zwischen Infektion und Krankheitsausbruch meist unterschlagen würde, wodurch die Lage künstlich als schlimmer dargestellt werde, als sie eigentlich sei. Was würden Sie diesen antworten?

Die Unterscheidung zwischen Infektion und Infektionskrankheit, das heißt zwischen symptomloser beziehungsweise symptomarmer Infektion einerseits und Infektionskrankheit (klar erkennbare Symptome) andererseits, wird bei oberflächlicher Betrachtung manchmal nicht berücksichtigt. Das Problem ist, dass infizierte Menschen mit schwachen oder überhaupt keinen Symptomen bisher nicht akkurat erfasst werden können, weil sie nicht zum Arzt gehen. Dadurch kann bei der Berechnung der Letalität in der Tat ein Bias in Richtung höherer Sterblichkeit entstehen. Der oben genannte Schätzwert (0,3 bis 0,7 Prozent) dürfte aber richtig sein. Es laufen gerade Studien, um die sogenannte Durchseuchung in Deutschland besser zu erfassen. Die Durchseuchung beruht auf Antikörper-Tests und gibt an, wieviele Personen bisher mit dem Virus infiziert worden sind, unabhängig von den Symptomen. Damit kann die Sterblichkeit noch genauer berechnet werden. Man kann demnach nicht von einer falschen Darstellung sprechen, sie basiert auf dem neusten Stand der Wissenschaft, der ständig überprüft und verifiziert wird.

Einige monieren, dass die weitreichenden Maßnahmen zur Eindämmung unnötig seien, da lediglich fünf Prozent der deutschen Bevölkerung in Gefahr sei. Welche Folgen hätte es, das Virus als derart harmlos anzusehen?

Schätzungsweise fünf Prozent der Erkrankten benötigen tatsächlich eine intensivmedizinische Betreuung nach Infektion mit SARS-CoV-2. Wenn aufgrund der fehlenden Immunität große Teile der Bevölkerung (50 bis 70 Prozent) infiziert werden, dann müssen in Deutschland (Bevölkerung 83 Millionen) innerhalb relativ kurzer Zeit etwa zwei bis drei Millionen Menschen auf den Intensivstationen behandelt werden. Das würden unsere Krankenhäuser nicht schaffen. Daher muss die Ausbreitung verlangsamt werden, so dass die Intensivstationen nicht mit Schwerstkranken "überflutet" werden. Zusätzlich möchte ich zu bedenken geben, dass auch ein schwerer Verlauf, der nicht intensivmedizinisch betreut werden muss, zu gravierenden Folgen und Einschränkungen für unsere Gesellschaft führen kann und das Gesundheitssystem belastet.

Wie steht es um die Schmierinfektion? Selbst renommierte Wissenschaftler wie etwa Prof. Hendrik Streeck verweisen darauf, dass diese ausgeschlossen werden könne. Allerdings hat Herr Streeck eine entsprechende Studie noch nicht publiziert und dieses Ergebnis wurde bislang von anderen Forscher*innen nicht bestätigt. Wie gehen Sie mit dieser Sachlage um?

Herr Streeck hat inzwischen im Rahmen einer Pressekonferenz Zwischenergebnisse seiner sogenannten Heinsberg-Studie öffentlich gemacht. Details zur Methodik der Studie wie sonst üblich im wissenschaftlichen Diskurs liegen mir nicht vor, so dass ich dazu auch nicht wissenschaftlich Stellung beziehen kann. Allerdings ist auch klar, dass Schmierinfektionen bei der Übertragung von SARS-CoV-2 nicht ausgeschlossen sind. Ich kenne keine Publikation, die diese Möglichkeit kategorisch verneint. Die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, möglichst transparent mit Fakten zu operieren, um rationale Argumente zu liefern und damit eine Orientierung zu ermöglichen.

Immer mehr Stimmen werden laut, wonach eine vermeintlich kontrollierte Durchseuchung bei gleichzeitiger Isolation der Risikogruppen sinnvoll sei – etwa um die Wirtschaft vor Schäden zu bewahren. Wie stehen Sie dazu und wie schätzen Sie die Gefahr für eine Überlastung des Gesundheitswesens ein?

Eine mehr oder weniger kontrollierte Durchseuchung wird es geben, so oder so. Das Virus wird sich nicht mehr einfangen lassen. Die Frage ist nur, auf welchem Weg die Kontrolle am besten gelingt, so dass einerseits das wirtschaftliche Leben und das Bildungswesen wieder Fahrt aufnehmen und andererseits die Intensivstationen nicht "überrollt" werden. Die bisher getroffenen Maßnahmen greifen (!): Erweiterung der Kapazität in der Intensivmedizin einerseits und sogenanntes Social Distancing andererseits. Wir befinden uns im Augenblick nicht mehr im exponentiellen Wachstum der Anzahl der Infizierten. Das ist eine große Chance, die Durchseuchung langfristig zu kontrollieren.

Wir bewegen uns jedoch auf einem schmalen Grat und sollten die gegenwärtige Chance nicht vertun. Vorsichtige Lockerungen, begleitet von breit angelegtem Testen auf akute Infektionen (vor allen Dingen bei Personen, die besonders exponiert sind, zum Beispiel medizinisches Personal, Bewohner von Altenheimen, Lehrer, etc.) und auf stattgefundene Infektionen (Antikörper-Tests) sind notwendig. Personen mit Antikörpern gegen SARS-CoV-2 sind höchstwahrscheinlich immun – trotz mancher, in den Medien gesäter Zweifel – und daher sicher vor Ansteckung. Es wird nicht möglich sein, Risikogruppen (zum Beispiel Bewohner von Altenheimen) auf lange Zeit zu isolieren. Das wäre unmenschlich.

Enorm wichtig, vielleicht sogar entscheidend, im Kampf um die Kontrolle des Virus ist die Contact Tracing App, um Kontaktpersonen von Infizierten möglichst rasch zu informieren. Konventionelles Contact Tracing über Gesundheitsämter ist nicht schnell genug. Das liegt daran, dass das Virus auch von Trägern ohne Symptome weitergegeben wird. Damit hat es immer schon einen Startvorsprung vor seinen Verfolgern, wenn die Infektion bemerkt wird. Es wird besonders wichtig sein, die Contact Tracing App so zu gestalten, dass sie unseren hohen Ansprüchen an Datenschutz genügt. Nur wenn diese elementare Voraussetzung erfüllt ist, kann sie ein wichtiges Instrument bei der Kontrolle der Virusausbreitung werden. Das Ziel muss sein, dass wir uns irgendwann in hoffentlich naher Zukunft alle wieder sicher und frei bewegen können und dafür müssen wir uns jetzt mit Besonnenheit auf weitere Regularien beziehungsweise Maßnahmen einigen.

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