Wie berichtet, hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin im Gefolge der rückschrittlichen Kopftuchentscheidung des BVerfG, 1. Senat, von 2015 einer muslimischen Lehrerin im Februar 2017 eine Entschädigung in Höhe von zwei Monatsgehältern zuerkannt. Im Hinblick auf das Berliner Neutralitätsgesetz (das im Einklang mit dem 1. Kopftuchurteil des BVerfG 2003, 2. Senat, erlassen worden war) war ihr das Unterrichten mit Kopftuch untersagt worden. Diese Untersagung hatte das jetzt im Wesentlichen aufgehobene Urteil des Arbeitsgerichts Berlin als rechtens bestätigt. Es liege eine rechtliche Ungleichbehandlung, aber keine entschädigungspflichtige Diskriminierung vor.
Das Arbeitsgericht (ArbG) hielt eine Auslegung der Berliner Regelung im Sinn der neuen Entscheidung des BVerfG für möglich (Volltext). Es vertrat die Ansicht, auch der 1. Senat des BVerfG (2015) lasse dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum, eine "Einschätzungsprärogative für die Beurteilung der tatsächlichen Gegebenheiten und Entwicklungen, von der abhängt, ob gegenläufige Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern oder andere Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die Lehrkräfte aller Bekenntnisse zu äußerster Zurückhaltung in der Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug verpflichtet." Die Bundesländer könnten daher zu verschiedenen Regelungen kommen, weil auch Schultraditionen, die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung berücksichtigt werden dürften. Das ArbG stellte dann eingehend die religiös-weltanschaulichen Besonderheiten von Berlin heraus mit dem Ergebnis der Vereinbarkeit des Neutralitätsgesetzes mit dem GG.
Rechtsprechungskritik
Nach Ansicht des Kommentators haben beide Gerichte, vor allem das LAG, Fehler begangen. Das ArbG hat dem strengen Berliner Neutralitätsgesetz (dem m. E. mit Abstand besten und klarsten aller Bundesländer) einen Anwendungsspielraum zuerkannt, den es nach der Entscheidung des BVerfG von 2015 aber nicht hat. Der 1. Senat des BVerfG räumte - im Gegensatz zur Entscheidung des anderen Senats von 2003 - der Religionsfreiheit der Musliminnen einen grundsätzlichen Vorrang vor dem Neutralitätsgebot ein, von dem nur in begründeten Sonderfällen (konkrete Gefährdung des Schulfriedens) Ausnahmen gemacht werden könnten. Im Gegensatz dazu untersagte das Berliner Neutralitätsgesetz in § 2 generell allen Schulpädagogen (ausgenommen nur bestimmte Bildungseinrichtungen, § 3) alle sichtbaren religiös-weltanschaulichen Symbole und entsprechend geprägte Kleidungsstücke. Der Widerspruch ist ungeachtet der ausführlichen Entscheidungsbegründung des ArbG unüberbrückbar. Das ArbG hätte daher prüfen müssen, ob und inwieweit es an die Rspr. des BVerfG überhaupt gebunden ist. Im Ergebnis ist das nicht der Fall (s. unten). Bei ordnungsgemäßer Begründung der an sich richtigen Entscheidung des ArbG wäre es vielleicht gar nicht zu einer Berufungsentscheidung gekommen.
Fehlleistung des Landesarbeitsgerichts
Das LAG hat den Widerspruch zwischen dem Neutralitätsgesetz und dem BVerfG-Urteil von 2015 herausgearbeitet und sich nicht nur an ihm orientiert, sondern es regelrecht durch lange Zitate und Wiedergaben ausgeschlachtet. Mit keinem Satz hat es aber begründet, warum es sich der Entscheidung von 2015 und nicht der von 2003 angeschlossen hat. Das ist der entscheidende Punkt. Denn wenn zwei Senate des BVerfG in tragenden Entscheidungsgründen sich widersprechende Meinungen vertreten, verlieren beide Entscheidungen die Bindungswirkung aller Staatsorgane an die tragenden Entscheidungsgründe (§ 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Um das zu verhindern, muss vor einer abweichenden Entscheidung eine Plenarentscheidung beider Senate herbeigeführt werden, was vor 2015 unerklärlicherweise unterblieben ist). Die Entscheidungen der zwei Senate sind im Kollisionsfall gleichberechtigt, und zwar unabhängig von der zeitlichen Abfolge. Jeder Senat kann nur von seinen eigenen tragenden Gründen jederzeit abweichen. Hatte somit das Urteil von 2015 keine entscheidende Aussagekraft für das LAG, so hätte es eine eigene Position in der Frage des Verhältnisses von Neutralitätsgebot und Glaubensfreiheit finden und genau begründen müssen. Wenn das Ergebnis dann wiederum nicht mit dem Neutralitätsgesetz hätte vereinbart werden können, hätte das LAG das Gesetz wegen Entscheidungserheblichkeit der Frage dem zuständigen Senat des BVerfG nach Art. 100 GG zur Entscheidung vorlegen müssen. Der Ausgang wäre offen gewesen.
Nur infolge der unprofessionell kritiklosen Übernahme des Urteils von 2015 konnte sich das LAG auf den Standpunkt stellen, es liege eine entschädigungspflichtige, nicht durch das Neutralitätsgebot gerechtfertigte Ungleichbehandlung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz vor. Der Gesamtvorgang erscheint als Rechtfertigung des Schiller’schen Satzes: "Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fortzeugend Böses muss gebären."
Konsequenzen
In dieser Situation wäre es unverantwortlich vom Berliner Senat, keine Revision beim Bundesarbeitsgericht einzulegen. Solange das Neutralitätsgesetz nicht förmlich vom BVerfG für nichtig erklärt ist, hat es Bestand. Definition und Gewichtung des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebots sind von grundlegender Bedeutung für unser Staatsverständnis weit über das islamische Kopftuch hinaus.
Vgl. auch den hpd-Artikel "Wenige Wochen zu spät" zum gleichen Thema.