Kommentar zum staatlichen Verbot der Suizidhilfe in Deutschland

Ein Eingriff in die Selbstbestimmung

Der Deutsche Ethikrat behauptet, dass eine ausnahmsweise Zulassung des Medikaments Natrium-Pentobarbital (NaP), wie sie das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 2. März 2017 beschloss, der staatlichen Neutralität gegenüber Lebenswertvorstellungen widerspreche. Der Verein DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben ist anderer Meinung: Nicht die ausnahmsweise Zulassung, sondern ein Verbot der Abgabe widerspricht dem Prinzip der Neutralität gegenüber individueller Lebensgestaltung und stellt einen unzulässigen staatlichen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des Menschen dar. Eine staatliche Bevormundung verhindert zudem weder tragische Suizidversuche noch trägt sie zur dringend nötigen Enttabuisierung des von kirchlichen Kreisen sowie Ärztefunktionären nach wie vor stigmatisierten Suizidthematik bei.

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschied am 2. März 2017 letztinstanzlich, dass der Zugang zum Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) in Deutschland in Ausnahmefällen möglich sein soll, um einen sicheren und schmerzlosen Suizid vollziehen zu können. Dieses Urteil stieß in gewissen Kreisen auf Widerstand.

Am 1. Juni 2017, kurz nach der Veröffentlichung der Urteilsbegründung, erließ der Deutsche Ethikrat eine "Ad-Hoc Empfehlung", in der er behauptet, mit diesem Urteil werde die so genannte Selbsttötungsassistenz von einer staatlichen Bewertung und Erlaubnis abhängig gemacht. Dies widerspreche der ethischen Leitidee der staatlichen Neutralität gegenüber Lebenswertvorstellungen. Daneben bekräftigt das Gremium mit Nachdruck die Notwendigkeit einer Stärkung suizidpräventiver Maßnahmen sowie des Ausbaus der Hospiz- und Palliativversorgung im ambulanten und stationären Bereich sowie allgemein der Versorgung von Menschen in der letzten Lebensphase.

Der Deutsche Ethikrat übersieht in seinen Überlegungen noch immer, dass die Freiheit und das Recht, über Zeitpunkt und Art seines Lebensendes selber zu bestimmen – und dazu gehört eben auch die Option einer ärztlich unterstützten Freitodbegleitung – nicht nur 2011 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt wurde1, sondern dass diese Möglichkeit auch wesentlich zur Verhinderung von einsamen und hochriskanten Suizidversuchen beiträgt.

Wahlfreiheit verlängert Leben

Die ärztlich unterstützte Freitodbegleitung ist ein letzter Ausweg. Er ist immer eine persönliche, wohl erwogene Entscheidung eines Menschen, der eine lange Leidensgeschichte hinter sich hat. DIGNITAS berät seit bald 20 Jahren Personen, die einen begleiteten Freitod in Erwägung ziehen. Nur wenige Personen entscheiden sich am Ende dafür, diesen Weg tatsächlich zu gehen, selbst wenn alle für eine Freitodbegleitung notwendigen medizinischen und rechtlichen Kriterien erfüllt sind.

Der begleitete Suizid steht weder im Widerspruch zur Hospiz- und Palliativversorgung, noch erhöht er die Suizidgefahr. Das Gegenteil ist richtig: Das Wissen um die Möglichkeit, sein Leiden auf würdevolle Weise, mit professioneller Begleitung und in Anwesenheit seiner Liebsten zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt beenden zu können, motiviert viele Betroffene, weiterzuleben und mögliche Alternativen überhaupt zu versuchen.

Staatliche Bevormundung statt Neutralität

Leidenden Menschen ein persönlich gestaltetes Lebensende zu verwehren, stellt eine grobe Missachtung des Rechts jedes Menschen auf Wahlfreiheit und Selbstbestimmung im Leben und am Lebensende dar. Wenn der Staat einem Bürger den Zugang zu einem Medikament verwehrt, welches dessen persönliche Vorstellung von einem würdevollen Tod besser entspricht als alle anderen verfügbaren Alternativen, bevormundet er ihn bezüglich seiner individuellen Werte zu Lebensqualität und Würde. Dies ist das Gegenteil staatlicher Neutralität. Das vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannte Recht, selber über Art und Zeitpunkt des eigenen Lebensendes zu entscheiden, wird in Deutschland weiterhin mit Füssen getreten. Zahlreiche Umfragen zeigen, dass über 80 % der Deutschen selber darüber entscheiden wollen, wann und wie ihr Leiden und Leben endet.2

Tabuisierung des Suizids

Suizid- und vor allem Suizidversuchsprävention ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe von Gesellschaft und Staat. Suizide werden heute noch immer stark tabuisiert, was eine offene Diskussion, auch und gerade in kirchlich geprägten Kreisen, weitgehend verunmöglicht. Wenig bekannt ist beispielsweise, dass die allermeisten Suizidversuche gar nicht zum Tod führen. Die Anzahl gescheiterter Suizidversuche liegt bis zu fünfzigmal höher als die Anzahl Suizide. Ein gescheiterter Suizidversuch hat oft verheerende Folgen. Er führt zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen, die die Lebensqualität des Betroffenen massiv einschränken – und hat erhebliche Auswirkungen auch auf Dritte (Lokführer, usw.). Von den für die Gesellschaft enorm hohen Kosten ganz zu schweigen.3

Es gibt nur einen Weg, Suizidversuche zu verhindern: Enttabuisierung. Nur wenn ein Mensch in seinem Wunsch, sein Leiden und Leben aus was für Gründen auch immer selbst zu beenden, ernst genommen wird und eine offene Diskussion möglich ist, kann verhindert werden, dass verzweifelte Menschen sich auf riskante Weise einsam selber zu töten versuchen, anstatt Hilfe zum Weiterleben in Anspruch zu nehmen.

Missachtung des Grundgesetzes

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes in Leipzig ist ein letztinstanzlicher Entscheid. Die Mehrheit des Deutschen Ethikrats fordert unter Bezug auf Artikel § 217 StGB – der nur schon die ergebnisoffene Beratung in Bezug auf einen begleiteten Suizid als strafbar erscheinen lässt – die Politik auf, die Wirkung dieses Urteils durch Gesetzgebung zu beseitigen. Ob dies rechtlich gesehen überhaupt möglich ist, ist fraglich. Das Urteil beruht unmittelbar auf dem deutschen Grundgesetz, und eine solche "Wirkungsbeseitigung" wäre daher nur durch eine Änderung des Grundgesetzes möglich. Mit ihrer Forderung stellt die Mehrheit des Deutschen Ethikrates somit eine bisher nicht existente Form von "Grundwertungen des parlamentarischen Gesetzgebers" offenbar über die Verfassung. Provokativ ausgedrückt: Der Ethikrat ruft zur Missachtung höchstrichterlicher Entscheide durch die Politik auf – ein etwas befremdendes Verständnis von "Ethik".

Anderweitige Interessen

Dass auch handfeste machtpolitische und finanzielle Interessen hinter der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates stehen, ist nicht von der Hand zu weisen. Hospiz- und Palliativangebote sind angesichts der steigenden Anzahl alter und schwer kranker Menschen unverzichtbar. Mit Hospizen und Palliativmassnahmen ist im Sozialbereich, in Medizin und Pharmaindustrie allerdings auch viel Geld zu verdienen. Viel mehr als mit Freitodbegleitungen mittels des Medikaments Natrium-Pentobarbital (NaP). Zudem hängt ein beträchtlicher Anteil von Hospizen und Palliativeinrichtungen in Deutschland von kirchlich gebundenen Institutionen ab. Und diese sind aus religiös-dogmatischem Prinzip gegen alle Formen des Freitodes, und somit gegen echte Wahlfreiheit und Unterstützung für Schwerstleidende. Die gleichen Kreise schauen gerne weg, wenn Ärzte lebenserhaltende Massnahmen auf Wunsch eines Patienten einstellen. Warum erfüllt man in dem einen Fall einem Patienten den Wunsch nach Selbstbestimmung, nicht aber im anderen?

Fazit

Hospiz- und Palliativangebote sind unverzichtbar und müssen weiter ausgebaut werden. Ein Suizidhilfeverbot verhindert jedoch keine Suizidversuche, sondern verursacht nur noch mehr Leid. Wer Suizidversuche wirklich verhindern will, muss sich der Diskussion unvoreingenommen stellen und den Menschen eine echte Wahlfreiheit geben, anstatt diese unter dem Deckmantel von Kirchenmoral oder staatlicher Neutralität dann zu beschneiden, wenn es den eigenen Interessen dient.


  1. Entscheid des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) vom 20. Januar 2011 in der Sache Haas gegen die Schweiz, Beschwerde Nr. 31322/07 - http://www.dignitas.ch/index.php?option=com_content&view=article&id=56&Itemid=90&lang=de ↩︎
  2. Eine von vielen: http://www.medizinalrecht.org/wp-content/uploads/2013/03/MeinungsumfrageergebnisseSelbstbestimmungamLebensende.pdf ↩︎
  3. Siehe dazu die Studie "Der Preis der Verzweiflung": http://www.dignitas.ch/images/stories/pdf/studie-ph-der-preis-der- verzweiflung.pdf ↩︎