Während einer Lesung seines aktuellen Buches "Glück im Unglück – Wie ich trotz schlechter Nachrichten optimistisch bleibe" an der Universität Jena Ende August wurde der "Tagesschau"-Sprecher Constantin Schreiber von einem jungen Mann angegriffen, der ihm eine Torte ins Gesicht warf. Nach diesem Angriff kündigte der Journalist an, sich nicht mehr zu Fragen über den Islam zu äußern. Naïla Chikhi bedauert seine Entscheidung.
Diesmal ist das Opfer Constantin Schreiber. Ein deutscher Journalist. Der Gründer der Deutschen Toleranzstiftung, die sich dafür einsetzt, den Dialog und Austausch zwischen Menschen unterschiedlicher Hintergründe und Meinungen zu fördern.
Als 2015 mehrere Tausend Geflüchtete in Deutschland ankamen, moderierte Constantin Schreiber die Sendung "Marhaba – Ankommen in Deutschland", für die er 2016 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde. In dieser Sendung erklärte Schreiber in perfekter Beherrschung der Sprache des Korans, Arabisch, den Neuangekommenen das Leben in Deutschland, die Gesetze des Landes, die Religionsfreiheit, die Rechte der Frauen usw., damit sie sich in ihrem Aufnahmeland leichter zurechtfinden konnten.
Anhand dieser wenigen Elemente kann man sich vorstellen, dass dieser Journalist, der die arabische Sprache perfekt beherrscht und sich zweifellos in der sogenannten arabisch-muslimischen Welt auskennt, stört!
Ja, der Übergriff fand in einem der Hörsäle der Friedrich-Schiller-Universität statt. Es ist nicht das erste Mal, dass "unbequeme" Stimmen in den Lehrsälen von Universitäten angegriffen wurden – übrigens nicht nur in Deutschland. Diese Orte des Wissens, an denen die Studierenden einst die Debattenkultur erlernten, sind heute zu Orten der "Performance" geworden, wie die Täter ihre Angriffe bezeichnen.
Nach dem veröffentlichten Video ist der Angreifer ein junger Weißer, wahrscheinlich ein Gutmensch, ein Woker eben, der sich für so aufgeklärt hält, dass er nicht verstanden hat, dass Schreibers Aussagen stets faktisch, rational und analytisch sind – außer in seinem Roman "Die Kandidatin", da es sich hierbei um eine Dystopie handelt.
Die Identität dieses erleuchteten jungen Mannes ist (noch) nicht bekannt, da er nach seiner Tat, die seine Feigheit und Ignoranz beweist, geflohen ist.
Dieser junge Mann kennt wahrscheinlich nicht das berühmte Zitat "Geben Sie Gedankenfreiheit" von Schiller, nach dem die Universität benannt ist, in der er sich gegen die Meinungs- und Gedankenfreiheit eines Journalisten und der im Saal anwesenden ZuhörerInnen wandte. Wissen versus Performance!
Antirassistisches Denken hat die Rassenfrage wieder en vogue gemacht
Vertritt dieser Mann das neue, sogenannte antirassistische Denken, demzufolge jeder, der den Islam und vor allem den Islamismus nicht anpreist, ein antimuslimischer Rassist ist? Und demzufolge der Islam, eine Religion, und der Islamismus, die daraus abgeleitete fanatische Ideologie, zu einer Rasse geworden sind? Diese neue Welle hat die Rassenfrage wieder en vogue gemacht!
Dieser Mann gehört wahrscheinlich zu den Wohlmeinenden, die die Auffassung vertreten, dass MuslimInnen unbedingt beschützt werden müssen, als wären sie schwache Wesen ohne politisches Bewusstsein, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen. Diese Nicht-Muslime, die die MuslimInnen entmündigen und sich folglich als überlegen betrachten, sind sich nicht einmal bewusst, dass sie die Denkweise von Rassisten und White Supremacists reproduzieren. Das hat nicht im Geringsten etwas mit progressiv Sein zu tun, sondern ist das Antonym des Ausdrucks "stay woke" (wach bleiben) aus den 1930er Jahren, der ein erstes Bewusstsein für die sozialen und politischen Probleme ausdrückte, die die Afroamerikaner betrafen und noch immer betreffen.
Woke und neo-linke Ideologie entlasten Extremismen
Aber kommen wir zu Constantin Schreiber und den Angriff auf ihn zurück: Der 44-jährige Journalist hat beschlossen, sich nicht mehr zum Thema Islam zu äußern, was nach diesem Angriff, aber auch nach den vorausgegangenen Diffamierungen und Drohungen verständlich ist.
Es sei angemerkt, dass die Unterstützung durch seine JournalistenkollegInnen und der Universität Jena nicht sehr ermutigend war, da sie so gut wie kaum hörbar war!1
Sind wir an einem Punkt angelangt, an dem selbst Solidaritätsbekundungen gegen Gewalt und gegen Angriffe auf die Meinungsfreiheit zu faschistischer Kollaboration geworden sind?
Wenn wir den Knebel akzeptieren, indem wir nach und nach auf die Meinungsfreiheit, die Freiheit zu denken und zu handeln sowie Solidarität verzichten, dann öffnen wir unfreiwillig die Tore zum Obskurantismus.
Dieses zustimmende und erschütternde Schweigen erinnert mich an die Aussage von Tahar Djaout. Tahar Djaout war ein algerischer Schriftsteller und Dichter, der erste Journalist, der 1993 im Alter von 33 Jahren von islamistischen Fanatikern ermordet wurde. Sein Verbrechen: Er störte den Obskurantismus durch seine Liebe zur Freiheit, zur Poesie und zum Nachdenken. Er hinterließ uns ein mächtiges Vermächtnis: "Schweigen ist der Tod, und du, wenn du schweigst, stirbst du, und wenn du sprichst, stirbst du. Also sprich und stirb!".
Ich könnte auch sagen, dass es Schreiber an Mut mangelt, wenn er erklärt, sich nicht mehr zu Themen äußern zu wollen, die durch die woke und neo-linke Ideologie hypersensibel oder sogar tabu geworden sind – Ideologien, die sich gegenseitig nähren, während sie den Islamismus, den Rechtsextremismus und andere Extremismen entlasten.
Dennoch verstehe und respektiere ich die Entscheidung von Herrn Schreiber. Meine Eltern, linke laizistische Demokraten, die sich während des dunklen Jahrzehnts in Algerien politisch engagierten, wurden mit dem Tod bedroht. Ich selbst wurde in Deutschland wegen meiner Positionen als universale laizistische Feministin angegriffen. Und ich werde nicht die lange Liste anderer, vom Gedankengut tatsächlicher Aufklärung inspirierter Stimmen aufzählen, die angegriffen und bedroht wurden, die unter Polizeischutz leben oder ermordet wurden.
Wer will schon tagtäglich mit Hass konfrontiert werden, besonders wenn der Staat und die politische Klasse den Kopf in den Sand stecken, wie es in Deutschland der Fall ist.
Herr Schreiber, ich danke Ihnen für Ihre Beiträge, die mich als Migrantin muslimischer Kultur in Deutschland immer wieder zum Nachdenken und zur Sachlichkeit in der Debatte über Fragen des Islam, der Integration und des Islamismus angeregt haben. Ich bedauere, dass Ihr wertvoller Beitrag mir, der deutschen Gesellschaft und dem Journalismus entzogen wird. Ich möchte hoffen, dass Ihre Entscheidung nicht endgültig sein wird.
1Anmerkung der Redaktion: Mittlerweile gibt es eine neue Erklärung der Universität Jena und der mitveranstaltenden Buchhandlung, über die der Spiegel berichtete. Es soll ein Gespräch über Diskussionskultur und Angriffe auf Journalisten geben. Schreiber habe die Einladung angenommen.
18 Kommentare
Kommentare
David Z am Permanenter Link
Dem Beitrag kann man sich nur anschliessen.
Wenn sich mal wieder Personen darüber auslassen, von wo unserer demokratischen freiheitlichen Gesellschaftsform Gefahr droht, dann lohnt es sich, argumentativ auf das Kriterium hinzuweisen, wer alles in unserem "besten D aller Zeiten" (sic!) verbal oder gar physisch bedroht wird bzw womöglich sogar unter Polizeischutz steht und zwar alleine deshalb, weil derjenige lediglich sein verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit wahrgenommen hat.
Der freiheitlich demokratische Rechtsstaat stirbt langsam. Stück für Stück in kleinen Schritten. So klein, dass es viele gar nicht merken. Bis es eines Tages unübersehbar ist. Aber dann ist es zu spät.
Was es braucht, sind klare Positionierungen innerhalb des gesellschaftlichen Konsens. Gegen rechten Extremismus klappt das ja immer prima. Gegen linken oder islamischen Extremismus allerdings weit weniger gut. Warum werden Studenten, die Vorlesungen bzw Vorträge an der Uni willentlich stören, aufgrund der offensichtlich mangelnder Reife und der fehlenden Eignung für die universitäre Teilnahne am wissenschaftlichen Austausch nicht umgehend exmatrikuliert? Ja, klingt hart - und? Warum ziehen Unis so oft den Schw. ein? Warum kommt aus bestimmten Parteien oder Medien nur zögerlich Kritik an den regelmässig zu beobachtenden Auswüchsen, die so offensichtlich und eindeutig unserem freiheitlichen Gesellschaftsmodell zuwiderlaufen? Hat man etwa Angst, klare Kante zu zeigen? Wenn ja, dann ist tatsächlich schon 5 nach 12.
A.S. am Permanenter Link
Es braucht immer ein Stück Mut, seine Meinung frei zu äußern.
Diesen Mut kann man ein Stück weit lernen. Um die meinungsfreiheit zu erhalten muss man von ihr regelmäßig Gebrauch machen.
Schande über die "Linken"! Vor hundert Jahren waren die Linken kritisch, emanzipativ und haben FÜR die Meinungsfreiheit gekämpft. Heute kämpfen die "Linken" GEGEN die Meinungsfreiheit und gegen die Frauenemanziption. Wer hat Euch "Linken" so ins Hirn geschissen? Die Islamisten?
Angelika wedekind am Permanenter Link
Der größte Witz ist ja, dass sich der Tortenwerfer einer "undogmatischenLinken " zuordnet! Ausgerechnet!
Michael Fischer am Permanenter Link
Wie meinen? Ich dachte, dessen Identität sei noch gar nicht geklärt?
Adam Sedgwick am Permanenter Link
Zwei Dinge sind im Zusammenhang mit diesem Bericht einfach empörend:
2. Was hat der Islam, überhaupt Religion mit dem Begriff Rasse zu tun? Selbst inder Biologie wird der Begriff Rasse kaum benutzt, man spricht nur von Varianten. Warum man die Sprache des Unmenschlichen weiter pflegt, ist mir vollkommen unverständlich.
Erfreut hat mich, dass sich Herr Schreiber auch noch in Arabisch an die Flüchtlinge wendet und sie über unser gesellschaftliches Regelwerk (dem Grundgesetz) aufklärt, das Verhalten verdient hohen Respekt!
Klaus Wegele am Permanenter Link
Diesem Text ist nichts hinzuzufügen.
Danke.
K. W.
Holgen am Permanenter Link
"Nach dem veröffentlichten Video ist der Angreifer ein junger Weißer, wahrscheinlich ein Gutmensch, ein Woker eben,..."
Ich verstehe die Mutmaßung nicht. Und wieso werden mit "Gutmensch" und "Woker" Begriffe aus dem rechten Milieu verwendet? Und was soll bitte die "neo-linke Ideologie" sein?
Bernd am Permanenter Link
Bezüglich "Gutmensch " haben Sie recht. Bei woke- erwacht- ist es wohl mehr die Selbstbezeichnung des woken Milieus.
Holgen am Permanenter Link
Definieren Sie bitte "woke" und erklären Sie, was daran negativ sein soll.
Ich finde es sehr besorgniserregend, dass so eine Rhetorik von den Verantwortlichen des hdp durchgewunken wird.
Bernd am Permanenter Link
Ihr Kommentar ist Ausdruck der Delegitimierung von Poisitionen, die Ihrem doch recht undifferenziertem Bild nicht entsprechen.
Holgen am Permanenter Link
Ich will keine Woke-kritischen Argumente? Welche Argumente denn? Definieren Sie bitte "woke", bevor sie mir Bücher empfehlen.
SG aus E am Permanenter Link
Aus Zeitmangel nur zwei kurze Anmerkungen:
1.) Es wäre wirklich angenehm und der Diskussion dienlich, würde man in säkularen Kreisen neuere Definitionen des Rassismus endlich zur Kenntnis nehmen. (Zur Erläuterung: Niemand behauptet, Muslime stellten eine Rasse dar. Es geht um Mechanismen der Ausgrenzung, der Herrschaft und der Herrschaftssicherung.) Quellen muss ich nicht nennen, dafür sind die Beteiligten zu intelligent.
2.) Wenn Menschen anfangen, vom "Gedankengut tatsächlicher Aufklärung" zu reden, wird mir – ehrlich gesagt – schlecht. Nur zur Klarstellung: Ich lasse mir von niemandem sagen, was unter Aufklärung "tatsächlich" zu verstehen sei, und empfehle jedem anderen, es ebenso zu halten.
PS: Sorry für die harten Worte. Der nächste Kommentar (mit mehr Zeit geschrieben) wird dann hoffentlich wieder differenzierter. MfG.
libertador am Permanenter Link
Zu 2)
Menschen können sich irren. So auch zum Gehalt von Aufklärung. Da muss man es aushalten, wenn über die richtige Aufklärung gesprochen wird.
Wie wollen Sie denn über Aufklärung sprechen, wenn sie sich von niemanden sagen lassen wollen, was Aufklärung sei?
SG aus E am Permanenter Link
‹libertador› schrieb: "Menschen können sich irren. So auch zum Gehalt von Aufklärung."
‹libertador› schrieb auch: "Wie wollen Sie denn über Aufklärung sprechen, wenn sie sich von niemanden sagen lassen wollen, was Aufklärung sei?"
– Ich hatte nicht den Eindruck, Frau Chikhi wollte einen Diskurs über die Aufklärung beginnen. Im Gegenteil: Indem sie sich auf eine "tatsächliche" Aufklärung beruft, möchte sie jede Kritik der Islamkritik (denn um die geht es ja wohl) unterbinden.
Meinetwegen kann man gerne über Aufklärung reden. Assia Harwazinski z.B. bezeichnete kürzlich Lessing als "für die Moderne längst überholt". Da interessiert mich natürlich, wenn nicht nach Gutdünken, nach welchen übergeordneten Maßstäben dann mit der Aufklärung umzugehen ist.
Übrigens finde ich es gar nicht schlecht, wenn Tagesschausprecher sich mit ihren persönlichen Ansichten zu gesellschaftlichen Streitthemen zurückhaltend verhalten. Das tut dem Format Tagesschau nur gut.
—
(1) https://hpd.de/comment/81780#comment-81780
malte am Permanenter Link
Man hat diese Definitionen in säkularen Kreisen durchaus zur Kenntnis genommen - sie werden eben einfach nicht geteilt. Diese "neueren Definitionen" sind ja auch nicht allgemein anerkannt.
Der immer mehr um sich greifende Trend, Begriffe umzudefinieren bzw. zu entgrenzen ("Auch die Kritik kultureller Praktiken ist Rassismus", "Alles, was mir irgendwie unangenehm ist, ist Gewalt", "Ausschließlich die betroffene Frau hat die Definitionsmacht zu entscheiden, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hat") muss auch kritisch betrachtet werden können.
Stefan Dewald am Permanenter Link
»1.) Es wäre wirklich angenehm und der Diskussion dienlich, würde man in säkularen Kreisen neuere Definitionen des Rassismus endlich zur Kenntnis nehmen.«
NEIN! Dann bitte ein anderes Wort nutzen oder erfinden. Mit historisch-zufälligen Umdeutereien ist klarem Verständnis nicht geholfen.
libertador am Permanenter Link
Ich finde es erschreckend, das ein Tortenwurf hier den Diskurs zu stoppen scheint, wenn Herr Schreiber sich zurückzieht. Diesen Rückzug kann ich aber gut nachvollziehen. Man muss sich dem Hass nicht aussetzen.
Einem Teil des Kommentars kann ich aber nicht folgen:
"Dieser Mann gehört wahrscheinlich zu den Wohlmeinenden, die die Auffassung vertreten, dass MuslimInnen unbedingt beschützt werden müssen, als wären sie schwache Wesen ohne politisches Bewusstsein, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen."
Wir sollten nicht Identitätszuschreibungen nehmen, um die Statthaftigkeit von Aktionen zu bewerten. Ansonsten wendet man sich wie die identitätspolitische Rechte oder Linke gegen einen offenen Diskurs an dem alle teilnehmen können. Wenn tatsächlich Menschenfeindlichkeit vorliegt, muss man kein Betroffener sein, um sich mit angemessenen Mitteln dagegen einzusetzen. Mit dem Einsatz gegen Menschenfeindlichkeit ist keine Aussage darüber verbunden, dass Betroffene sich nicht selbst wehren könnten.
Axel Dulz am Permanenter Link
Ich muss einmal, bevor ich zum Inhalt komme, zum Ausdruck bringen, wie sehr mich der sichere Schreibstil der Verfasserin positiv berührt.
Inhaltlich kann ich dem Geschriebenen nur vollumfänglich beipflichten. Als Fachdozent für interkulturelle Handlungskompetenz habe ich sehr viel damit zu tun