Retrotopie

Die Feinde der offenen Zukunft

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Seit ein paar Jahren hat sich ein ausgeprägtes Faible für Vergangenes verbreitet. Die Nostalgie hat nicht nur den Kulturbetrieb, sondern auch die Politik erobert. Doch mit dem Festklammern an die Vergangenheit sind auch Gefahren verbunden. Ein Kommentar.

Ob Toaster im 50er-Jahre-Stil, Vintage-Mode oder das Comeback der Schallplatte: Retro ist im Trend. Die Sehnsucht nach dem Gestern ist zu einem Lebensgefühl geworden, das nicht nur in den verspielt nostalgischen Filmen von Wes Anderson oder in großstädtischen Hipster-Cafés mit zusammengewürfeltem Sperrmüllmobiliar ausgelebt wird, sondern das seinen Siegeszug in den Alltag des Mainstreams angetreten hat. 

Laut dem Kulturjournalisten Simon Reynolds ist sogar die Popkultur von diesem  Vergangenheitsfetischismus betroffen. In seiner akribisch recherchierten Zeitdiagnose "Retromania" beklagt er, dass Gegenwartskultur im Allgemeinen und der Pop im Besonderen keine echten Innovationen mehr hervorbringt. Vielmehr befinde sich der Kulturbetrieb seit den 2000er Jahren in einer Endlos-Schlaufe von Wiederholungen. Anstelle von Kreativität dominiere nun die Nostalgie in Musik, Bildender Kunst, Mode, Fotografie, Theater, Film und Literatur. Dabei seien es ausgerechnet die Subkulturen, die am stärksten in der Vergangenheit verharren und alte Stile kopieren. Jene Leute, die früher am ehesten neue Wege beschritten, seien zu Antiquaren und Kuratoren vergangener Stilepochen geworden.

Ähnliche Entwicklungen stellt auch auch Philipp Blom fest. Der Wiener Historiker und Philosoph geht davon aus, dass wir die erste Kultur in der Geschichte erleben, die dem Alten einen Wert beimisst, nur weil es alt ist. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts sei Kultur noch hauptsächlich Gegenwartskultur gewesen. Zwar waren schon frühere Epochen – wie etwa die Renaissance – von der Vergangenheit fasziniert, allerdings gab es keine Gesellschaft in der Menschheitsgeschichte, die derart von den Überlieferungen ihrer eigenen Vergangenheit besessen war, wie die heutige.

Woran das liegen könnte, erklärt Antje Schünemann vom Hamburger Trendbüro. Für sie ist die Sehnsucht nach dem Gestern zugleich eine Sehnsucht nach Entschleunigung einer von Umbrüchen geprägten Welt: "Zu viele Freiheiten machen Angst - und Retro-Elemente geben die Verlässlichkeit zurück, die uns fehlt. Gerade die amerikanischen fünfziger und frühen sechziger Jahre stehen für eine heile Welt, für einen festen Rahmen, der das Leben bestimmt", so Schünemann laut Süddeutscher Zeitung.

Retrotopie

Wie stark nostalgische Gefühle verbreitet sind, zeigt eine repräsentativen Umfrage in Deutschland aus dem Jahr 2016. Dort waren 41 Prozent der Befragten der Meinung, dass "früher alles besser" war. Eineinhalb Jahre zuvor waren es noch 26 Prozent.

Dabei drängt sich eine naheliegende Frage auf: Hat das Festklammern an die Vergangenheit auch Auswirkungen auf das politische Empfinden von Menschen und sogar Einfluss auf das Wahlverhalten? Das weltweite Erstarken von reaktionären Bewegungen könnte ein Indiz dafür sein. Denn die Erfolge der Trumps, Putins, Petrys und Erdogans dieser Welt ist nicht nur ein Etappensieg des Autoritarismus über die offene Gesellschaft. Es ist auch ein Sieg der Vergangenheit über die offene Zukunft. "Make America Great Again" war der Ruf nach einer Wiederbelebung der "guten alten Zeiten". Tatsächlich ist es aber der Traum von einer verklärten Vergangenheit, die nüchtern betrachtet alles andere als ein "goldenes Zeitalter" war.

Kurz vor seinem Tod nannte der Soziologe Zygmunt Bauman diesen nostalgischen Traum  "Retrotopie": "Die Werte, die sich mit den beiden entgegengesetzten Richtungen von Vergangenheit und Zukunft verbinden, haben die Plätze auf der Zeitachse gewechselt", so Bauman in einem Interview beim Spiegel. Die Idee des Fortschritts verheiße heute weniger die Hoffnung auf eine Verbesserung der persönlichen Lage als die Angst davor, abgehängt und zurückgelassen zu werden. Daher würden sich viele von der Zukunft abwenden und ihr Heil in der Vergangenheit suchen.

Eine neue Geschichte von der Zukunft

Bauman selbst war in seiner Jugend ein "unbeirrbarer Fortschrittsgläubiger". Doch die Zukunft steckt schon länger in einer spürbaren Krise und die Fortschrittsverheißungen der Moderne wurden spätestens durch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts fundamental erschüttert. Auf den Schlachtfeldern der beiden hochtechnologisierten Weltkriege wurden nicht nur Körper von Soldaten in Stücke zerrissen, es detonierten auch die Heilsgeschichten und die mit ihnen verbundenen Hoffnungen und Illusionen. Übrig blieb die drastische Mahnung, den großen Zukunftsversprechungen und Utopien fortan zu misstrauen. 

Dabei gäbe es gute Gründe, sich der Zukunft gegenüber nicht zu verschließen, sondern aufgeschlossen zuzuwenden. Denn der Lauf der Geschichte ist keineswegs alternativlos. Er folgt keinem vorgegebenen Plan und wird weder von Zielen noch von Absichten geleitet. Die historischen Entwicklungen hätten auch anders verlaufen können, obwohl das Vergangene in der Rückschau häufig als unausweichlich erscheint. 

Die Welt, in der wir heute leben, ist zudem zu einer der friedlichsten in der Menschheitsgeschichte geworden. In rasantem Tempo wurden zivilisatorische Fortschritte erzielt, die vor hundert Jahren noch undenkbar gewesen wären. Es gibt daher keine guten Gründe, einem zynischen Fatalismus und den damit verbundenen Weltuntergangszenarien zu verfallen. Vielmehr braucht es ein neues Zukunftsnarrativ, das von Hoffnung jenseits der Illusionen erzählt.

Kein Ende der Geschichte

Nur wer es für möglich hält, dass sich die Welt zum Besseren wie zum Schlechteren verändern kann, wird auch bereit sein, sich für bessere Zustände einzusetzen. Ein "Ende der Geschichte", wie es der Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschwor, ist noch lange nicht in Sicht. Fukuyama prognostizierte damals ein postideologisches Zeitalter, in dem sich weltweit die liberale Demokratie als "die finale, universell gültige Form einer menschlichen Regierungsform" durchsetzen würde. Doch Demokratie und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie sind eine fragile Erfindung der Aufklärung und können genauso schnell verschwinden, wie sie gekommen sind. 

Um dieses Aufklärungsprojekt zu verteidigen und voranzutreiben, ist ein Perspektivenwechsel nötig. Wir sollten uns häufiger die Frage stellen, wie künftige Menschen auf unsere Zeit blicken werden. Denn nur wer die Gegenwart von der Zukunft aus denkt, wird eine kritische Distanz zu seiner Zeit herstellen und damit neue Denk- und Handlungsräume betreten können. So wird es den Menschen im Jahr 2100 womöglich vollkommen unverständlich sein, dass die Öffnung der Ehe für alle in Deutschland erst im Jahr 2017 beschlossen wurde. Sie werden sich vielleicht auch darüber wundern, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine wirksamen Maßnahmen gegen den menschengemachten Klimawandel ergriffen wurden und dass statt einem allgemeinverbindlichen Ethikunterricht immer noch ein konfessioneller Religionsunterricht in den Schulen gelehrt wurde. Womöglich werden sie unsere Zeit dafür verurteilen, dass 800 Millionen Menschen hungern mussten, wo es doch genug Nahrung, Wissen und Mittel gab, um dies zu verhindern. Der damals vorherrschende Speziesismus als Grund für die Massenschlachtung von Tieren wird ihnen im Idealfall befremdlich erscheinen und die ehemalige Zusammenarbeit mit menschenverachtenden Regimen wird bei ihnen auf Unverständnis stoßen. Vermutlich werden sie sich auch die Frage stellen, wieso im Jahre 2017 noch keine breite Debatte über den verantwortungsvollen Umgang mit künstlicher Intelligenz und über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung geführt wurde. 

Eine solche Rückschau auf die Gegenwart ist ein Perspektivenwechsel, der unsere ethischen Konventionen aus zeitlicher Distanz infrage stellen und damit eine progressive Kraft entfalten kann. Der Journalist Georg Diez befürchtet jedoch, dass diese Art zu denken bei vielen verloren gegangen ist und erst mühsam wieder trainiert werden muss. Ansonsten versinke unsere Zeit "in einem Sumpf aus Putin und Pegida", so Diez in seiner Kolumne bei Spiegel-Online

Es gibt kein Zurück

Die Zukunft ist für viele Menschen vor allem mit Ungewissheit, Sorge und Überforderung verbunden. Das Festklammern an die Vergangenheit ist daher allzu verständlich. Angesichts einer Welt, die sich im unaufhaltsamen Wandel befindet, ist eine solche Zukunftsverweigerung jedoch nichts weiter als hoffnungsloses Wunschdenken. Hoffnungslos im buchstäblichen Sinn des Wortes. 

Die anstehenden Herausforderungen werden jedenfalls nicht mit den Anachronismen vergangener Religionen und Ideologien gelöst werden können. Es braucht vielmehr eine Denkhaltung, die den Mut zur Vergänglichkeit und zum Einschlagen neuer Wege aufbringt. Denn mit dem Smartphone in der Hand und den 50ern im Kopf lässt sich Zukunft nicht angemessen gestalten.