Rezension

Eine "freihändige" Geschichte des Kommunismus

Der Historiker Gerd Koenen legt mit seinem Buch "Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus" eine voluminöse Veröffentlichung zum Thema vor. Sie ist allerdings – wie er selbst sagt – etwas zu "freihändig" geraten: Die Proportionen der Themen stimmen nicht so ganz, analytisch hätte man sich mehr an systematischen Einschätzungen gewünscht.

Die Farbe Rot gilt als die Farbe des Kommunismus. "Die Farbe Rot" ist auch der Titel eines Buches mit dem Untertitel "Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. Es erschien – geplant oder zufällig – im Oktober 2017, also genau hundert Jahre nach der Oktoberrevolution von 1917.

Der Autor ist der Historiker und Schriftsteller Gerd Koenen. Bei ihm handelt es sich aber um einen besonderen Historiker, denn er arbeitet nicht an einer Universität. Als "freier Historiker" schreibt Koenen zum Kommunismus und Linksterrorismus. Dies hängt mit seiner eigenen politischen Biographie zusammen, gehörte er doch in den 1970er Jahren zu den führenden Aktivisten des "Kommunistischen Bundes Westdeutschland" (KBW). Mit dessen maoistischer Ideologie hat er schon längst gebrochen. Entgegen anderer Autoren mit einer solchen Vergangenheit sind seine Veröffentlichungen aber weder apologetisch noch verdammend ausgerichtet. Dies gilt auch für seine voluminöse Darstellung "Die Farbe Rot", die über tausend Textseiten hat.

An dessen Beginn stellt er die Frage, "wie man den Kommunismus als einen historischen Bewegungs- und Gesellschaftstypus und überdies als ein in seiner Art präzedenzlos, international verflochtenes Aggregat von Staaten, Parteien und Bewegungen in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts einordnet" (S. 42). Um Antworten zu geben, geht Koenen weit zurück: Das "erste Buch" behandelt die frühen Ansätze noch in der Stammesgesellschaft bis zu den Frühsozialisten Anfang des 19. Jahrhunderts. Erst nach über zweihundert Seiten kommt Koenen im "zweiten Buch" dann zu Marx und seiner Zeit, wobei auch Zeitgenossen wie Lassalle oder Nachfolger wie Bebel größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Das "dritte Buch" fragt nach 480 Seiten "Warum Russland?" und geht auf die Entwicklung unter Lenin ausführlicher und dann nur kurz unter Stalin ein. Und schließlich behandelt Koenen nach 850 Seiten im "vierten Buch" den "Kommunismus in seinem Zeitalter", wobei auch die "postkommunistische Situation" im heutigen China thematisiert wird.

Die Angabe der Seitenzahlen macht deutlich, dass die Inhalte vom Textvolumen her proportional etwas schief geraten sind. So bedeutsam es ist, den Kommunismus auch in seiner gesamthistorischen Perspektive zu sehen, so wichtig ist es aber auch seine späteren Erscheinungsformen genauer ins Visier zu nehmen. Die Ausführungen zur DDR sind freundlich formuliert überschaubar, Entwicklungen außerhalb von China und der Sowjetunion kommen allenfalls am Rande vor. Dafür breitet Koenen sich ausführlich zur Vorgeschichte aus. Ob dann Rousseau unter der Überschrift "Das Ich unter der Tatarenmütze" ein so ausführliches Interesse erfahren muss, dafür aber eben die Entwicklung im zweiten deutschen Staat nach 1949 kaum, darf mit großer Berechtigung gefragt werden. Diese Aussage will nicht die Leistung des Verfassers schmälern. Man hat ein imposantes Buch in Händen, was auf die Arbeit von Jahrzehnten zurückgeht. Es enthält auch immer wieder beachtenswerte und erkenntnisfördernde Anregungen und Reflexionen.

Gleichwohl fehlt trotz der Länge viel an Inhalten und Systematik. Koenen schreibt im Epilog: "Wenn dieses Buch es in ziemlich freihändiger Weise unternimmt, eine Art Universalgeschichte des Kommunismus von den Uranfängen der Menschheit bis in die Zeit des Post-Kommunismus und bis heute zu zeichnen, ist das natürlich mehr als vermessen …" (S. 1031). "Freihändig" ist eine treffende Formulierung. Denn der Autor listet zwar kenntnisreich wichtige Entwicklungsetappen auf, es bleibt aber häufig unklar, warum was eigentlich wichtig ist. Auch wenn es etwas formalistisch klingt, hätte man doch zunächst einmal gern eine trennscharfe Definition von "Kommunismus" und eine ausführliche Erörterung damit verbundener Fragen gelesen. Auch wäre eine Erörterung der Frage, wie das Ansinnen, eine sozial bessere Welt zu etablieren, in Diktaturen umschlug, etwas für ein langes und ausführliches Erörterungskapitel gewesen. Gleichzeitig fehlt es der historischen Beschreibung ein wenig an Systematik. Koenen kann es eigentlich besser.

Gerd Koenen, Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus, München 2017 (C. H. Beck-Verlag), 1133 S., 38,00 Euro