Ein Plädoyer für medikalisierte Genitalverstümmelung

Geldstrafe bei "Beschneidungsfall" in Eilenburg

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Gerichtssaal in Eilenburg
Gerichtssaal in Eilenburg

Am vergangenen Mittwoch wurde in Eilenburg (bei Leipzig) der angeklagte Arzt wegen Komplikationen nach der "Beschneidung" eines fünf Wochen alten Säuglings der "fahrlässigen Körperverletzung" schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch schwerer wiegt wohl das Urteil, welches über unser Rechtssystem gesprochen wurde, indem die große Wirkung des im Textumfang recht überschaubaren Paragrafen 1631d BGB vor Augen geführt wurde.

Am 21. und 26. Mai ging der Prozess in Eilenburg weiter, der am 12. Mai begonnen hatte und über den der hpd bereits berichtet hat. Der Antrag des Verteidigers, den Richter wegen Befangenheit abzulehnen, wurde vom Gericht als unbegründet zurückgewiesen und die Hauptverhandlung konnte planmäßig fortgeführt werden. Erstmals äußerte sich der Angeklagte in Form eines Statements, das sein Verteidiger vorlas, zu den Vorwürfen. Er bat um Entschuldigung und erklärte, er würde niemals einem Menschen und schon gar nicht einem Kind absichtlich schaden wollen. Er habe die "Beschneidung", welche im Islam und Judentum verpflichtend sei, so wie immer, fachgerecht durchgeführt. Er verwende in seiner Praxis in der Regel für die Lokalanästhesie das Mittel Lidocain und nur sehr selten das wesentlich stärkere Mepivacain. Dass Letzteres im Blut des Kindes nachgewiesen wurde, könne er sich nur damit erklären, dass er versehentlich zur falschen Flasche gegriffen hätte. Den Krampfanfall des Kindes habe er als ein Verschlucken beim Stillen interpretiert und den Notarzt habe er so verzögert gerufen, um Ressourcen zu schonen. Er schlafe seit dem Vorfall schlecht und fühle sich sowohl als Arzt als auch als Muslim betroffen.

Als Beweismittel wurde der Aufklärungsbogen vorgelesen, den beide Eltern unterschrieben hatten. Bei oberflächlicher Betrachtung enthielt dieser die Bestätigung der Eltern, dass sie über alles aufgeklärt worden waren. Allerdings fehlten schon Details speziell zu diesem konkreten Eingriff der Penisvorhautentfernung. Offenbar ein Standard-Formular, in welchem oben bei "Art des Eingriffs" das Wort "Beschneidung" eingefügt wurde. Unter anderem hieß es darauf wörtlich: "Zu alternativen Behandlungsmöglichkeiten wurde ich ausreichend informiert." Man könnte sich fragen, welche Alternativen bei einer angeblich alternativlosen "Behandlung" angeboten worden sein könnten – wo es sich doch selbst nach der Aussage des Angeklagten um eine religiöse (vermutlich alternativlose) Pflicht und keine Behandlung handelte. Dass zudem etwa über Beschaffenheit und Funktion der Vorhaut aufgeklärt wurde, ist allerdings mit großer Sicherheit auszuschließen. Keiner der geladenen Zeugen sprach davon und es wurde auch keine Frage in diese Richtung gestellt.

Die Befragung der Eltern aus einem ähnlichen Fall – Atemnot, Krämpfe, Einlieferung des Kindes im Juni 2022 – ließ weitere Zweifel an der korrekten Aufklärung aufkommen. So gab der Vater jenes Kindes an, der Arzt habe ihm gesagt, dass eine "Beschneidung" gemäß der deutschen Rechtslage ab dem 30. Lebenstag des Kindes legal sei. Er betonte auch mehrfach, er habe alle Informationen über die Operation und mögliche Folgen vorab bekommen. Die Mutter hingegen hatte, nach eigener Aussage, mit dem Arzt gar nicht gesprochen. Ihr Mann habe den Kontakt hergestellt, mit dem Arzt schriftlich kommuniziert und mit ihm in der Praxis am Tag des Eingriffs gesprochen. Die gesamte Kommunikation habe auf Arabisch (der Muttersprache ihres Mannes) stattgefunden, was sie selbst nicht spreche. Die Kommunikation zwischen ihr (Muttersprache Russisch) und ihrem Mann sei grundsätzlich in Englisch. Ihr Mann habe ihr im Vorfeld auch keine Einzelheiten über Operation und Betäubung mitgeteilt, sie hätten darüber grundsätzlich nicht gesprochen. Sie habe ihn einzig gefragt, ob der Arzt gut sei, was ihr Mann bejahte, da er dies mehreren Internet-Bewertungen entnommen habe. Ob sie etwas unterschrieben habe, konnte sie nicht mehr erinnern. Der Richter zeigte ihr einen Aufklärungsbogen in deutscher Sprache und fragte, ob sie dies lesen und verstehen könne, was sie entschieden verneinte.

Als weitere Zeugen waren das Elternpaar eines Jungen geladen, der im Juni 2020 ebenfalls mit Komplikationen nach einer "Beschneidung" durch den Angeklagten ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Auch in diesem Fall bezogen sich die Fragen des Richters auf die Aufklärung. Die Eltern hatten die Praxis von mehreren Bekannten empfohlen bekommen, welche ausschließlich positive Erfahrungen gemacht hätten. Die Rekonstruktionsversuche über die Beschaffenheit eines möglichen Aufklärungsbogens ergaben ein überraschendes Gesamtbild. Es konnte niemand mehr sagen, in welcher Sprache er verfasst war. Aber sicher war sich die Mutter, dass sie keine Versuche unternommen hätten, ihn per Google Translate oder sonstiger Software zu übersetzen. Beide sind persische Muttersprachler und sprechen wenig Deutsch. Der Bogen bestand aus nur einem Blatt und hatte neben dem Text drei Abbildungen, die verschiedene mögliche Versionen einer "Beschneidung" anboten. Eine habe eine "deutsche" Art dargestellt, eine andere eine "muslimische". Sie hätten sich natürlich für die "muslimische" Variante entschieden und dies dann unterschrieben, so die Zeugin.

Arzt bekommt mehr Anfragen interessierter Eltern als er beantworten kann

Die Befragung des Angeklagten am vierten Prozesstag warf ein Schlaglicht auf die gängige "Beschneidungspraxis" in Deutschland. Seit der Übernahme seiner Praxis im Jahr 2016 führte der Angeklagte dort, neben anderen Operationen, auch "Beschneidungen" durch. Insgesamt käme er auf 30 bis 50 Eingriffe im Jahr, darunter 10 bis 12 mit Vollnarkose. Da es nicht viele Ärzte gebe, die "Beschneidungen" bei so kleinen Kindern anböten, werde er schnell über das Internet gefunden und bekäme täglich an die 40 WhatsApp-Anfragen interessierter Eltern – mehr als er überhaupt beantworten könne.

Bei Kindern unter zwei Jahren arbeite er in der Regel mit Lokalanästhesie, bei älteren dann mit Vollnarkose. Denn, so führte er aus: "Bei Kindern ab zwei Jahren ist es schwierig mit Lokalanästhesie. Das bedeutet für sie eine größere Stresssituation und man braucht drei Leute, um sie festzuhalten."

Der pädiatrische Gutachter nannte das Verhalten des Angeklagten "fahrlässig" und führte vier Punkte auf, um dies festzumachen: Erstens nannte er den Einsatz des falschen Anästhetikums. Dieser sei natürlich durch die Ähnlichkeit der beiden Flaschen zu erklären. Zweitens war dieses Mittel überdosiert, was jedoch dadurch relativiert wurde, dass die gegebene Dosis im Falle der richtigen Flasche korrekt gewesen wäre. Des Weiteren hielt der Sachverständige dem Angeklagten vor, ohne Assistenz-Kraft gearbeitet zu haben. Diese sei bei einer Operation zwingend erforderlich, um das Kind während des Eingriffs zu beobachten und in einem möglichen Notfall unterstützend handeln zu können. Zuletzt bemängelte er noch die fehlerhafte OP-Dokumentation, die wohl auch der Eile geschuldet war, in der sie stattfand.

Staatsanwaltschaft und Verteidigung waren sich in ihren Schlussplädoyers darüber einig, dass die Aufklärung der Eltern ausreichend stattgefunden habe. Bei der Urteilsfindung stand in erster Linie die fehlende Assistenz-Person in der Praxis im Fokus. Alle anderen Punkte, die der Gutachter genannt hatte, wären zwar geeignet gewesen, sich negativ auf das Geschehen auszuwirken, durch großes Glück sei dies aber nicht passiert. Laut der Verteidigung ginge es in diesem Prozess gar lediglich um eine Medikamenten-Verwechslung und wegen einer sogenannten unbewussten Fahrlässigkeit wurde auf Freispruch plädiert.

Urteil: Fahrlässige Körperverletzung

Das Urteil lautete am Ende "fahrlässige Körperverletzung", der Angeklagte bekam eine Geldstrafe von 75 Tagessätzen à 60 Euro und trägt die Kosten des Verfahrens.

Ihm wurde zu Gute gehalten, dass er in der Notfallsituation adäquat reagiert habe. Auch seine langjährige Erfahrung als "Beschneider" wurde positiv gewertet – er wisse schließlich, was er tue. Es schien dem Richter daran gelegen, dass der Angeklagte seiner Tätigkeit als Beschneider weiter nachgehen kann. Denn durch Ärzte wie ihn würde es möglich, "Hinterhofbeschneidungen" zu verhindern. Laut seiner Einschätzung sei dies auch die Intention des Gesetzgebers bei der "Erfindung" (wie er es ausdrückte) des Paragrafen 1631d BGB gewesen. Dass der Gesetzgeber in dieser Vorschrift die positive Religionsfreiheit der Eltern über die körperliche Integrität und die negative Religionsfreiheit des Kindes gestellt habe, sei eine legislative Entscheidung gewesen. Aufgabe des Gerichts sei es nicht, dies anzugreifen, sondern anzuwenden "mit allen Tücken und Schwächen". Und genau das habe er hier getan. Dafür, dass während der Verhandlung immer wieder betont wurde, dass es an dieser Stelle nicht um die große Politik, die Infragestellung des Paragrafen 1631d beziehungsweise rituelle "Beschneidungen" an sich ginge, schien es dem Gericht auffällig wichtig, zu erläutern, wie und warum dieser hier angewendet wurde.

Nach diesem Urteilsspruch ist klar: Der Paragraf 1631d BGB dient in Deutschland unter richterlicher Anwendung dazu, ein Phänomen zu stützen, welches wir in vielen anderen Ländern anprangern: Die medikalisierte Genitalverstümmelung. Wenn es um die weibliche "Beschneidung" geht, stellt man sich mit Nachdruck gegen die Legitimierung solcher Praktiken etwa in Indonesien oder afrikanischen Ländern durch deren Aufnahme in einen medizinischen Kanon. Stattdessen kämpft man für ein Verbot, während das Argument der "Hinterhofbeschneidungen" hier nicht zu zählen scheint. Mit dem Finger auf andere zu zeigen ist eben auch in der heutigen Zeit einfacher, als vor der eigenen Türe zu kehren.

Die Rechte, für die niemand in diesem Prozess einstand, sind die der betroffenen Kinder. Wer einem männlichen Kind ein gesundes Körperteil abschneidet, weil eine "Religion" es ihm vorschreibt, der darf dies nach deutschem Recht. Ob man einen Notarzt ruft, wägt man dann auch noch aus Gründen der Ressourcen-Schonung ab, weil so ein Notarzt-Einsatz natürlich sehr teuer und vielleicht überflüssig ist, während die Vorhautamputation an einem Säugling dies offensichtlich nicht ist. Die mit Ernst vorgetragene Behauptung des Richters "Das Kind hat keine bleibenden Schäden" klang schwer nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass sein sexuelles Lustempfinden und sein äußeres Erscheinungsbild für immer irreversibel verändert wurden. Aber darum ging es vor Gericht erst gar nicht – als Zuhörerin fragt man sich, warum.

Die Gesellschaft bezahlt bereitwillig dafür: Als der Paragraf 1631d ins BGB geschrieben wurde, war kein Großaufschrei zu hören. All die Menschenmassen, die mit Inbrunst heute fast täglich "gegen Rechts" auf die Straße gehen, blieben zu Hause als im Dezember 2012 Menschenrechte relativiert wurden. Und auch die anwesenden Zuhörenden inklusive Presse konnte man in diesem Gerichtssaal an einer Hand abzählen. Man kann sich vorstellen, wie anders die Situation gewesen wäre, handelte es sich statt einer Penis- um eine Klitorisvorhaut.

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