Interview

Genitale Unversehrtheit ist ein Menschenrecht!

kampagnenfahrzeug_beschneidungskampagne.jpg

Beschneidungskampagne – vor dem Bundeskanzleramt
Beschneidungskampagne - vor dem Bundeskanzleramt

Das Presseportal ProMosaik, das sich für interkulturelle Vielfalt und Dialog einsetzt, hat den Verein intaktiv e.V., der sich geschlechtsübergreifend für genitale Selbstbestimmung engagiert, zu den Positionen und Aktivitäten des Vereins interviewt. Die Vorsitzende Viola Schäfer und Shemuel Garber, der sich als jüdischer Intaktivist für intaktiv einsetzt, standen der Chefredakteurin von ProMosaik, Dr. Milena Rampoldi, Rede und Antwort.

ProMosaik: Was sind die Hauptzielsetzungen von intaktiv?

Viola Schäfer: Unser Verein möchte das Menschenrecht auf genitale Unversehrtheit und Selbstbestimmung für alle Menschen – unabhängig von Geschlecht, Religion, Herkunft, Hautfarbe etc. – stärken und die Gesellschaft dafür sensibilisieren. Kinder sind keine Besitztümer ihrer Eltern, sondern eigene Träger von Menschenrechten und dürfen somit keinen unnötigen Eingriffen an ihrem Körper – und schon gar nicht an ihren Genitalien – ausgesetzt sein.

Uns ist es dabei sehr wichtig, darüber aufzuklären, dass nicht nur die weibliche Genitalverstümmelung traumatisch ist und die Persönlichkeitsrechte, die körperliche Unversehrtheit, die Intimsphäre und das sexuelle Empfindungsvermögen der Betroffenen enorm und unwiederbringlich verletzt. Dies ist ebenfalls bei Vorhautamputationen (sogenannten Beschneidungen) an Jungen und bei sogenannten geschlechtsangleichenden Operationen an intersexuellen Kindern der Fall. Wir möchten erreichen, dass sich mehr Menschen darüber bewusst werden und intakte Genitalien als ein universelles Menschenrecht anerkennen.

Da wir an einem international sehr wichtigen Thema arbeiten, kooperieren wir auch mit "intaktiven" Organisationen und Akteuren in anderen Ländern, wie z. B. Genital Autonomy aus England, NOCIRC USA, Protect the Child aus Israel und dem türkischen Blogger Kaan Göktas. Letzterer hat ein Aufklärungs-Buch zum Thema "Jungenbeschneidung" mit dem Titel "Oldu da bitti maşallah" (Schon erledigt, Mashallah) verfasst und in der Türkei veröffentlicht. Aktuell sucht er türkischsprachige Übersetzer, um sein Buch auch in anderen Sprachen zu veröffentlichen.

Aber auch in Deutschland tätige Organisationen wie z. B. der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, profamilia, MOGiS e. V., die Giordano-Bruno-Stiftung und terres des femmes sind wichtige Ansprechpartner für uns, um ein breites "intaktives" Bündnis aufzubauen. Zudem sind wir Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt e. V. (DgfPI).

Nicht zuletzt sind natürlich auch die Mitglieder unseres vielfältigen Vereinsbotschafterteams Partner und Multiplikatoren für uns. Hierzu zählen unter anderem die Rechtsanwältin und Moscheegründerin Seyran Ateş, die Buchautorin und Soziologin Necla Kelek, die Psychotherapeutin und Fernsehmoderatorin Angelika Bergmann-Kallwass, der Comic-Autor und Zeichner Ralf König sowie der französisch-jüdische Journalist und Forscher Jérôme Segal.

Wichtig ist uns dabei außerdem, auch sexualmedizinisch aufzuklären, indem wir z. B. darauf aufmerksam machen, dass auch nicht-religiöse, sogenannte "Phimose-Beschneidungen" fast immer medizinisch unnötig sind, da sich eine physiologische Phimose, also die natürliche, angeborene und in aller Regel beschwerdefreie Verengung der Vorhaut, bei fast allen Jungen spätestens in der Pubertät löst. Auch bei einer mit Beschwerden einhergehenden Phimose gibt es wirksame, konservative, also deutlich "sanftere" Behandlungsmethoden, wie in erster Linie Salbenbehandlungen oder auch vorhauterhaltende Operationen.

Viele unserer Mitglieder sind von "Phimose-Beschneidungen" betroffene Männer, die sich durch den Eingriff verstümmelt und ihrer körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung beraubt fühlen. Auch diesen Männern möchten wir eine Stimme geben und unterstützen zum Beispiel die Aktion des "Bescheidungsforums", bei der Betroffene Fotos von sich mit einem Statement zu ihren Gefühlen über ihre "Beschneidung" machen.

Sie sehen sich als ein geschlechterübergreifender Verein. Können Sie das unseren Lesern näher erklären?

Viola Schäfer: Für uns ist entscheidend, dass das Grundrecht auf genitale Unversehrtheit geschlechtsübergreifend gedacht wird. Amputationen an den Genitalien von Kindern und Jugendlichen sind im wahrsten Sinne "einschneidend" und niemals Bagatellen, auch nicht bei Jungen.

Dass in Deutschland die weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) verboten ist, die Amputation der Vorhaut von Jungen aber mit fast jeder beliebigen Begründung erlaubt ist, wird oft damit begründet, dass die weibliche "Beschneidung" ein wesentlich schwerwiegenderer Eingriff und somit "schlimmer" sei. Nun gibt es allerdings nicht "die" weibliche Genitalverstümmelung, sondern ein großes Spektrum: Angefangen bei der enorm verstümmelnden sogenannten "pharaonischen Beschneidung", bei der fast die gesamten äußeren Genitalen herausgeschnitten und die äußeren Schamlippen anschließend bis auf eine kleine Öffnung zugenäht werden, bis hin zu Formen, bei denen z. B. "nur" die Klitoris oder die Klitorisvorhaut entfernt oder eingeritzt wird (zur näheren Information siehe z. B. https://www.frauenrechte.de).

Doch nicht nur wegen der verschiedenen FGM-Formen ist die übliche Argumentation ein Fehlschluss. Aus der Billigung der Jungen-"Beschneidung" ergibt sich sogar eine Gefährdung von Mädchen: Befürworter einer Duldung bzw. Legalisierung der "leichteren" Formen weiblicher "Beschneidung" argumentieren oftmals damit, dass so gut wie weltweit ja auch die Amputation der Vorhaut männlicher Kinder rechtlich gestattet ist, obwohl sie körperlich invasiver als beispielsweise das Einritzen der Klitoris ohne Gewebeamputation ist.

Wir als Verein, für den genitale Unversehrtheit ein universelles Menschenrecht ist, halten es für nicht hinnehmbar, dass selbst manche Juristen den Schutz von Kindern vor verletzenden Eingriffen an ihren Genitalien offenbar für "je nach Schweregrad verhandelbar" halten. Wir setzen uns dafür ein, dass jedes Kind das Recht erhält, vor solchen Verletzungen geschützt zu werden, und unterscheiden dabei nicht nach Geschlecht.

Wie arbeiten Sie mit liberalen Juden zusammen? Gibt es im Judentum Gruppen, die nur symbolisch "beschneiden"?

Shemuel Garber: Ich bin selbst Jude und stolzer Intaktivist, seit ich vor fünf Jahren von dieser Bewegung erfahren habe. Und ich bin bei weitem nicht allein in der jüdischen Gemeinschaft, wenn ich der "Beschneidung" kritisch gegenüberstehe oder öffentlich dagegen spreche und schreibe. Tatsächlich waren einige der Menschen, die die Debatte über die Vorhautamputation am meisten beeinflusst haben, Juden. Prominente Vertreter sind zum Beispiel der Psychologe Ronald Goldman, der Filmproduzent Victor Schonfeld, der Autor Howard I. Schwartz und der Anthropologe Leonard Glick.

Kritische Ansichten gegenüber der "Beschneidung" sind innerhalb der jüdischen Community nichts Neues. Sie gehen mindestens bis in die Anfangszeit der reformjüdischen Bewegung im 19. Jahrhundert zurück. Die älteste mir bekannte Erwähnung stammt aus dem Jahr 1842, als der "Verein der Reformfreunde" in Frankfurt eine Positionserklärung verbreitete, in der verkündet wurde, dass die Durchführung der "Beschneidung" nicht länger zwingend sei. Diese Position wurde damals verspottet, aber nichtsdestotrotz zeigt es, dass der Impuls, den Brauch der "Beschneidung" in der jüdischen Gemeinschaft in Frage zu stellen, tatsächlich deutlich älter ist als die aktuelle intaktivistische Bewegung.

In den letzten Jahrzehnten haben jüdische Intaktivisten jedoch weit mehr erreicht, als es im 19. Jahrhundert möglich gewesen ist. Dank einer wachsenden Zahl von Ärzten, Pädagogen und Aktivisten, die die Menschen über die negativen Folgen einer "Beschneidung" informieren, entscheiden sich heute immer mehr jüdische Eltern dafür, auf die Amputation der Vorhaut bei ihren Söhnen zu verzichten. Einige entscheiden sich für die "Brit Shalom", ein Ritual, bei dem der Junge in die Gemeinschaft aufgenommen und ihm ein Name gegeben wird, ohne ihn dabei einer "Beschneidung" zu unterziehen.

Wie ist die Situation in den USA in Bezug auf die Beschneidung von Jungen? Was ist die Geschichte? Was sind die Motivationen und Begründungen?

Shemuel Garber: In den USA wird eine abnehmende, aber immer noch große Anzahl von Jungen routinemäßig nach der Geburt "beschnitten". Diese Praxis begann im neunzehnten Jahrhundert, als Ärzte anfingen, Kindern die Vorhaut zu amputieren, um Selbstbefriedigung zu "heilen" und zu bestrafen, da sie als moralisch verwerflich angesehen und für eine Vielzahl von körperlichen Beschwerden verantwortlich gemacht wurde. Ärzte überzeugten amerikanische Eltern davon, dass die "Beschneidung" ihre Jungen davon abhalten würde, zu masturbieren, und dadurch sowohl ihrer geistigen als auch körperlichen Gesundheit diente.

Schließlich hat sich "Beschneidung" als routinemäßige neonatale Praxis durchgesetzt. Die Paranoia gegenüber der Masturbation ist letztendlich natürlich verschwunden. Dennoch haben Ärzte immer wieder neue pseudomedizinische Begründungen für diese Praxis gefunden. Seit die medikalisierte Vorhautamputation eingeführt wurde, hat die medizinische Gemeinschaft versucht, diese zu rechtfertigen, indem sie behauptet, dass sie verschiedene Krankheiten heilen, behandeln oder dagegen vorbeugen kann. Die angebliche wissenschaftliche Unterstützung für diese Behauptungen beruhte häufig auf einer einfachen Wahrnehmungsverzerrung: "Erfolgreiche" Operationen und positive Korrelationen wurden unverhältnismäßig häufig publiziert, was das Trugbild einer wundersamen Heil- und Schutzwirkung erzeugte. Säuglinge, die nicht für sich selbst sprechen können, erwiesen sich als leichtes Ziel, und Generationen von Eltern und Ärzten trösteten sich mit der Vorstellung, dass Säuglinge Schmerzen noch nicht so stark wahrnehmen können (was sich als völlig falsch erwiesen hat).

Derzeit ist die populärste pseudomedizinische Rechtfertigung die Behauptung, dass "Beschneidung" das relative Risiko der HIV-Ansteckung beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr verringert. Diese Behauptung wird von einem Großteil des amerikanischen medizinischen Establishments offensiv verbreitet, trotz der Tatsache, dass eine Fülle demographischer Nachweise im Gegenteil darauf hindeutet, dass die Amputation der Vorhaut keinen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet. Dieses neueste Kapitel passt gut in den altbekannten Verlauf – Behauptung des medizinischen Nutzens, gefolgt von dessen Widerlegung, gefolgt von neuen Behauptungen – der die gesamte Geschichte der medizinischen "Beschneidung" prägte.

Es gibt mindestens drei Gründe, warum viele Mitglieder des medizinischen Establishments Fehlinformationen über die "Beschneidung" nicht korrigieren oder sogar aktiv verbreiten. Da ist zum einen der psychologische Aspekt. Mediziner, die zugeben, dass "Beschneidung" medizinisch nicht notwendig und sogar schädlich ist, müssten anerkennen, dass sie im Laufe ihrer Karriere viele Kinder verletzt haben, sei es durch Vorhautamputationen selbst oder durch eine entsprechende Empfehlung bei den Eltern. Außerdem sind viele Ärzte selbst "beschnitten" und können aus psychologischen Gründen nicht akzeptieren, dass ihnen ein Schaden zugefügt wurde. Der zweite Grund ist finanziell. Vorhautamputationen sind für Ärzte, Krankenhäuser und Hersteller medizinischer Hilfsmittel lukrativ, so dass sie einen direkten Anreiz haben, den Menschen glaubhaft zu machen, dass es einen medizinischen Grund dafür gibt. Und schließlich ist die Kritik an der "Beschneidung" in vielen Kreisen gesellschaftlich nicht akzeptiert, vor allem weil diejenigen, die sich dagegen aussprechen, oft als antisemitisch oder islamfeindlich dargestellt werden. Daher ziehen es viele vor, nichts zu sagen, um ihr soziales und professionelles Ansehen nicht zu riskieren.

Mittlerweile ist "Beschneidung" bereits so lange üblich, dass sie in der amerikanischen Denkweise weitgehend als normal angesehen wird. Für viele Amerikaner ist ein "beschnittener" Penis die einzige "Art" von Penis, mit der sie vertraut sind. Vom intakten Penis hat man entweder gar keine Vorstellung oder er wird als fremd, eigenartig und unhygienisch imaginiert. Daher ist es für einen amerikanischen Arzt oftmals nicht einmal notwendig, eine medizinische Begründung zu liefern, um das elterliche Einverständnis für die Operation einzuholen. Die bloße Tatsache, dass die "Beschneidung" in einem medizinischen Umfeld angeboten wird, kombiniert mit der allgemeinen Auffassung von Normalität, die sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat, führt oft dazu, dass die Eltern nach minimaler (oder keiner) kritischen Überlegung ihr Einverständnis erteilen.

Bemerkenswerterweise war die neonatale Zirkumzision auch zeitweise in der gesamten anglophonen Welt verbreitet, aber die Häufigkeit im Vereinigten Königreich, in Kanada, Australien und Neuseeland ist stark zurückgegangen, hauptsächlich aufgrund der Verbreitung korrekter Informationen. Glücklicherweise macht die intaktivistische Bewegung auch in den Vereinigten Staaten echte Fortschritte. Bisher haben achtzehn der fünfzig Staaten die öffentliche Finanzierung routinemäßiger Säuglings-"Beschneidungen" über das Gesundheitsfürsorgeprogramm "Medicaid" abgeschafft. Und noch wichtiger: Eltern und Ärzte sind sich der Beschaffenheit und Funktionalität des intakten Penis zunehmend bewusst. Aus diesem Grund entscheiden sich mehr Eltern dafür, ihre Söhne intakt zu lassen. Dieser Trend wird sich sicherlich verstärken, wenn mehr Jungen intakt aufwachsen und die fest verankerte Mentalität bezüglich des "amerikanischen Penis" in Frage stellen.

Wie setzen Sie sich gegen die Beschneidung der Frau ein? Wie kann man im Westen dazu beitragen? Wie kann vor Ort gegen die FGM gekämpft werden?

Viola Schäfer: Zusammenfassend kann ich nur unterstreichen, dass wir der Auffassung sind, dass sowohl im Westen als auch weltweit Mädchen nur konsequent vor jeglicher Form von FGM geschützt werden können, wenn auch die sogenannte Beschneidung von Jungen als männliche Genitalverstümmelung (Male Genital Mutilation, MGM) und schwerwiegende Menschenrechtsverletzung geächtet und nicht weiter bagatellisiert wird. In unserer Vereinsarbeit konzentrieren wir uns daher ganz besonders darauf, diesen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel im Sinne aller gefährdeten Kinder zu erwirken und so eben auch gegen FGM zu kämpfen. Das sehen übrigens mittlerweile auch Frauenrechtsorganisationen gegen FGM, wie z. B. tabu e. V., so.

Grundsätzlich gilt in allen Ländern und für alle Formen der menschlichen Genitalverstümmelung dasselbe: Ein formal-juristisches Verbot ist ein wichtiges Element, aber nicht wirksam genug ohne Sensibilisierung und Aufklärung sowohl bezüglich des Werts intakter Genitalien als auch der Schäden durch ihre Verstümmelung.

Viola Schäfer ist Diplom-Psychologin, arbeitet in der beruflichen Reintegration psychisch erkrankter Menschen und ist seit der Vereinsgründung im Jahr 2013 Vorsitzende von intaktiv. Shemuel Garber ist Vereinsmitglied, gebürtiger US-Amerikaner und studiert derzeit Philosophie in Wien. Als jüdischer Intaktivist ist er selbst von religiöser "Beschneidung" betroffen und hat im Rahmen seiner Bachelorarbeit über die männliche "Beschneidung" und dabei insbesondere zu historischen Entwicklungen üblicher Rechtfertigungen für Vorhautamputationen geforscht.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von promosaik.