Interview mit Lena Nyhus und Güray Baba von INTACT DENMARK

"Kinderschutz steht über allem!"

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Lena Nyhus
Lena Nyhus

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Güray Baba
Güray Baba

In wenigen Wochen wird das Dänische Parlament über ein Mindestalter von 18 Jahren für medizinisch nicht notwendige Genitaloperationen entscheiden. Dies ist Folge eines Bürgervorschlags der Kinderschutzorganisation INTACT DENMARK, der die dafür erforderliche Zahl von 50.000 Unterschriften erreichte. Laut Angabe des Vereins sind seine aktiven Mitglieder überwiegend Beschneidungsbetroffene mit muslimischem oder jüdischem Hintergrund. Der hpd sprach in Berlin mit der Vorsitzenden Lena Nyhus und dem Vorstandsmitglied Güray Baba.

hpd: Frau Nyhus, noch nie zuvor hat je ein Parlament weltweit über eine geschlechtsneutrale Lösung für das Thema Genitalbeschneidung an Kindern entschieden. Wie lange haben Sie daran gearbeitet, einen solchen Vorstoß in Dänemark in die Wege zu leiten?

Lena Nyhus: Ich persönlich seit sechs Jahren. Ich habe im Herbst 2012 angefangen, an der Beschneidungsdebatte in Dänemark und auch im internationalen Diskurs mitzuwirken. Dabei kam ich schnell mit inspirierenden Intaktivisten aus der ganzen Welt und Opfern unfreiwilliger Beschneidungen und Verbündeten aus Dänemark in Kontakt. Im folgenden Winter haben wir die Ideen entwickelt, die zur Grundlage von Intact Denmark wurden.

Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass wir als Organisation auf breiten Schultern stehen: International sind es Intaktivisten und Wissenschaftler wie Rosemary Romberg, Marilyn Milos, Norm Cohen, Ronald Goldmann, Robert van Howe und viele andere, die einen immensen Respekt verdienen. In Dänemark verdanken wir viel dem phänomenal kenntnisreichen Forscher Morten Frisch sowie den ersten mutigen Männern wie Leo Milgrom, Kjeld Koplev und Svend Ravn. Sie waren Wegbereiter für uns. Und wenn nun endlich eine Veränderung in der Wahrnehmung der Kinderrechte eintritt, ist es wichtig, sich an die ersten Macher zu erinnern, die die ersten Kilometer noch alleine gegangen sind.

Herr Baba, wie kamen Sie zu Intact Denmark?

Güray Baba: Im Winter 2016 schrieb ich einen Kommentar zu einem Post von Dr. Morten Frisch. Ich erinnere mich, dass mich dort etwas getriggert hat, meine Stimme zu erheben. Morten Frisch schrieb mich daraufhin an, um zu erfahren, was mich dazu bewogen hätte. Ich sagte ihm, dass ich die Beschneidung von gesunden Jungen schon immer abgelehnt hatte, seit meiner eigenen rituellen Beschneidung. Morten und ich haben uns länger unterhalten und er erkannte, dass ich auch ein politisches Interesse an dieser Thematik hatte. Er arrangierte ein Gespräch zwischen mir und Lena Nyhus. Lena lud mich ein, Intact Denmarks bevorstehende Vollversammlung zu besuchen. Seit diesem Tag bin ich dort nun aktives Mitglied.

In Deutschland werden Vorhautamputationen hauptsächlich mit manchmal fragwürdigen medizinischen Diagnosen begründet, der Gesamtanteil an kulturellen oder religiösen Motivationen beträgt lediglich rund 10 Prozent. Wie sehen die Verhältnisse in Dänemark aus?

Lena Nyhus: Das ist eine wirklich interessante Frage. Bislang schätzten die dänischen Behörden, dass jährlich etwa 1.000–2.000 gesunde Jungen aus kulturellen oder religiösen Gründen beschnitten werden. Neue Schätzungen deuten darauf hin, dass die Zahl wahrscheinlich erheblich höher ist, in der Größenordnung von 3.500 pro Jahr. Die Gesundheitsbehörden registrieren nur ca. 700 Beschneidungen pro Jahr, der Rest wird wahrscheinlich illegal in Dänemark oder im Ausland durchgeführt. Im Vergleich werden 3.500 Jungen aus medizinischen Gründen beschnitten, inklusive vorhauterhaltenden Operationen. Im Allgemeinen sind Penis und Vorhaut ziemlich gesunde Organe, so dass chirurgische Eingriffe selten nötig sind. Auch die Ärzteschaft hat in den letzten zehn Jahren einen konservativeren Ansatz bei chirurgischen Eingriffen entwickelt. Wenn Phimose oder andere Probleme auftreten, können sie oft mit Steroidgel und Dehnung der Vorhaut gelöst werden. Es besteht sehr selten die Notwendigkeit, Operationen an Kindern zu riskieren.

Das Thema Genitalbeschneidung von Jungen betrifft im großen Maße auch Aspekte wie Intimität und Männlichkeitsnormen. Sie sprechen dazu offen in den Medien, welche Reaktionen ernten Sie darauf?

Güray Baba: Die meisten Menschen bestärken mich darin, eine mutige Stimme zu diesem kontroversen Thema beizusteuern. Es ist aber nicht einfach, über derart intime Dinge zu reden. Ich habe mir von Anfang an zum Grundsatz gemacht, nicht über meine persönlichen Erfahrungen zu sprechen. Denn es handelt sich um ein grundsätzliches ethisches Problem sowie ein Problem der persönlichen Freiheit. An diesem Grundsatz halte ich fest, denn es darf nicht sein, dass diese Problematik davon abhängig ist, dass Menschen sich trauen über ihre Gefühle und Erfahrungen im Zusammenhang mit ihrer Beschneidung zu sprechen, und damit vielleicht auch ihre Familien in diese heiße Debatte hineinziehen. Natürlich bin ich auch Menschen begegnet, besonders solchen mit muslimischem oder jüdischem Hintergrund, die mich verspottet haben, oft gepaart mit großer Wut. Ich habe gelernt, nichts auf sie zu geben. Ihr schlechtes Benehmen stärkt nur die öffentliche Zustimmung für mein Anliegen.

Und Ihre Familie?

Güray Baba: Meine eigene Familie verhält sich zum Teil neutral, zum Teil unterstützt sie mich. Sie ist stolz darauf einen Sohn zu haben, der seine Meinung sagt und dafür großen Zuspruch von anderen Menschen erhält. Ich denke auch nicht, dass es für sie überraschend kam, ich war was meine progressiven Prinzipien angeht schon immer dickköpfig.

Frau Nyhus, bei unserer Recherche fiel auf, dass die dänische Gesetzesinitiative ein weltweites Medienecho erzeugt hat. In Deutschland hingegen scheint sie für kaum jemanden berichtenswert zu sein. Können Sie sich das erklären?

Lena Nyhus: Ich verstehe, dass in deutschen Medien ein starker und wichtiger Fokus auf den Schutz von Minderheiten besteht. Das ist wohl der Grund, warum die deutschen Medien kaum mehr über die Beschneidungsdebatte im In- und Ausland berichten. Es ist aber auch die Aufgabe der Medien, über aktuelle Ereignisse zu berichten und sie zu hinterfragen, und sie vernachlässigen das in diesem Fall. Denn sonst würden sie berichten, dass derzeit drei skandinavische Länder über die Beschneidung gesunder Kinder diskutieren, dass 87 % der dänischen Bevölkerung eine Altersgrenze von 18 Jahren befürworten und dass die Gesundheits- und Kinderrechtsorganisationen dort zustimmen.

Die einfachste Antwort auf diese Entwicklungen wäre, sie mit einem Anstieg von Antisemitismus zu begründen, aber das wäre falsch. Dänemark hat zum Beispiel eine der niedrigsten Antisemitismusraten in Europa, nämlich 8 %. Alles über 0 % ist meiner Meinung nach viel zu hoch, aber 8 % ist immer noch deutlich niedriger als im Rest von Europa, mit beispielsweise 69 % in Griechenland.

Nein, die Antwort wäre hingegen, dass in Skandinavien die Sorge um die Rechte der Kinder wächst. Sie sind die Minderheit in der Minderheit und sie verdienen Schutz. Im Moment verweigern offensichtlich einige deutsche Medien und Politiker ihnen ihr Recht, gehört zu werden, indem sie nicht bereit scheinen, unfreiwillig beschnittenen Männern und ihren Verbündeten zuzuhören. Der professionelle und verantwortungsvolle Ansatz bestünde darin, die Argumente aller Seiten gründlich zu prüfen und die Situation unvoreingenommen zu analysieren.

Herr Baba, die deutsche Beschneidungsdebatte war 2012 weitgehend in Politik und Medien darauf fokussiert, die jüdische und muslimische Praktik um jeden Preis weiterhin uneingeschränkt zu ermöglichen. Wie sieht das derzeit in Dänemark aus?

Güray Baba: Im Moment geht dieses Thema immer häufiger durch die Medien, sie trauen sich darüber zu berichten. Primär weil sie wissen, dass viele Dänen eine Altersgrenze für die Beschneidung befürworten. Es ist also ein populäres Thema, das viele Klicks generiert.

Auf der politischen Ebene sehen wir aktive Unterstützung durch die linken Parteien. Sie haben den Kulturrelativismus aufgegeben und setzen sich nun für die Rechte des Individuums am eigenen Körper ein, unabhängig von dessen kulturellem Hintergrund. Auch einige liberale Politiker haben das Thema auf dem Zettel. Ich würde sagen, dass sich das politische Spektrum hier aufteilt in Rechts- und Linksliberale, die die Kinder unterstützen, und Links- und Rechtskonservative, welche die Beschneidung befürworten. Aber auch das trifft nicht allumfassend zu, denn selbst die Dänische Konservative Partei ist hierbei gespalten und hat ihren Abgeordneten die freie Entscheidung überlassen, und die Parteien, die derzeit die Altersgrenze nicht unterstützen, sagen explizit, dass sie Beschneidung ablehnen.

Wir haben zwei sozialistische Parteien, die die Altersgrenze unterstützen, während die Grüne, Liberale und Konservative Partei diese Entscheidung den Abgeordneten überlassen. Vier Parteien, die Sozialdemokraten, die liberale Venstre, die Dänische Volkspartei und die Sozialliberale Partei, lehnen eine Altersgrenze ab. Wir erwarten Spannungen innerhalb der Liberalen Venstre und der Volkspartei, denn viele ihrer Wähler und Mitglieder sind für eine Altersgrenze. Wenn auch hier den Abgeordneten die Abstimmung freigegeben wird – haben wir eine Mehrheit.

In Island wird derzeit ein ähnliches Gesetz diskutiert. Kardinal Marx, Präsident der Europäischen Bischofskonferenz COMECE, kritisierte den Einsatz für die Gesundheit der Kinder als "ohne wissenschaftliche Basis und nur dazu dienend, bestimmte religiöse Gruppen zu stigmatisieren". Sie waren kürzlich in Island, welchen Eindruck hatten sie von der dortigen Debatte?

Lena Nyhus: Ich hatte die große Freude, Island im Mai zu besuchen, in Verbindung mit einer Vorführung des Films "Cut: Slicing through the myths of circumcision" des jüdischen Filmemachers Eliyahu Ungar-Sargon. Dieser Film handelt von seiner persönlichen Reise zum Intaktivismus. Genau wie Herr Ungar-Sargon empfand ich die Debatte als respektvoll und freundlich.

In erster Linie befasst sich die isländische Öffentlichkeit mit den Rechten von Kindern. Genau so, wie wir es in Dänemark erleben. Wir haben uns mit Mitgliedern des Parlaments, mit Kinderrechts- und Menschenrechtsorganisationen, mit Medien und unfreiwillig beschnittenen Männern getroffen, und ich habe den gleichen Eindruck von ihnen allen bekommen: Es geht um grundlegende unveräußerliche Rechte der Kinder. Wir müssen ihre Rechte auf körperliche Unversehrtheit wahren, um sicherzustellen, dass sie die Möglichkeit haben, als Erwachsene Entscheidungen für sich selbst zu treffen.

Herr Baba, in einem Artikel haben Sie und ihre Kollegin Iman Diab sich über Vorwürfe des Rassismus und Antisemitismus beklagt. Worauf beziehen sich diese Vorwürfe?

Güray Baba: Wäre es jetzt frech zu sagen, dass sie sich auf rein gar nichts beziehen? Uns von Intact Denmark wurde viele Male vorgeworfen, eine antisemitische und islamophobe Gruppe zu sein, und Iman und ich waren und sind wütend über solche widerlichen Behauptungen. Stellen Sie sich einmal vor, was es für Iman als Hijab-tragende Muslimin bedeutet, als islamfeindlich bezeichnet zu werden!

Die Antisemitismusvorwürfe waren besonders schwer zu ertragen. Intact Denmark hilft so vielen unglücklichen Beschneidungsbetroffenen. Deshalb haben Iman und ich uns entschlossen, Intact Denmark zwei Mal via Medien zu verteidigen.

Frau Nyhus, ein Journalist der ZEIT, Mohamed Amjahid, interpretierte im März ein Statement von Ihnen dahingehend, dass Juden selbst am Antisemitismus Schuld seien. Wie haben Sie darauf reagiert?

Lena Nyhus: Ehrlich gesagt war ich ziemlich frustriert. Herr Amjahid portraitierte mich als Antisemitin, indem er Aussagen zitierte, in denen ich mich kritisch gegenüber Religionen einschließlich der jüdischen äußerte.

Ich bin nicht, noch war ich jemals Antisemitin. Aber ich bin generell sehr kritisch gegenüber Religionen, besonders wenn sie dazu führen, Kindern Schaden zuzufügen. Kindern, die sich nicht verteidigen können. Leider hatte ich damals nicht die Zeit, die Angelegenheit mit Herrn Amjahid weiter zu verfolgen, außer ihn zu fragen, ob er der Meinung sei, dass sein Vorgehen den Standards der ZEIT entspräche. Er versicherte mir, dies sei der Fall, was zur Folge hat, dass mein Respekt vor der ZEIT deutlich gesunken ist.

Ich hatte gehofft, diesen Eindruck in einem persönlichen Gespräch mit Herrn Amjahid während meines Deutschlandsbesuchs revidieren zu können, aber er hat dieser Möglichkeit keine Priorität beigemessen. Ich hätte gerne die Gelegenheit gehabt, mit ihm über faire und ausgewogene Berichterstattung über Intaktivismus zu sprechen. Schließlich handelt es sich um ein Thema, das an der Spitze der Bewegung zu Kinderrechten und Humanismus dieses Jahrhunderts steht.

Herr Baba, welche Art von Unterstützung erfährt die Gesetzesinitiative zusätzlich zu den 50.000 Unterschriften, die sie bereits erhalten hat?

Güray Baba: Der erste Etappensieg der Initiative war es, dass die Parteien Stellung zu dem Thema beziehen mussten. Noch haben wir keine Mehrheit, aber allein das Wissen, wo welche Partei steht und warum manche von ihnen eine Altersgrenze ablehnen, hilft uns enorm bei der Arbeit mit eben diesen Parteien. Es erleichtert die Arbeit mit einer Partei, wenn man weiß, wo sie steht und warum. Das dänische Justizministerium hat bereits festgestellt, dass eine Altersgrenze weder in Widerspruch mit der Religionsfreiheit in der dänischen Verfassung noch mit der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Die Initiative ebnet Monat um Monat den Weg, um Dänemark auf ein Votum für eine Altersgrenze vorzubereiten.

In Deutschland wurde das Beschneidungserlaubnisgesetz gegen den Protest aller pädiatrischen Verbände verabschiedet. Wäre das auch in Dänemark möglich?

Lena Nyhus: Heute ist in der Politik alles möglich, aber es hat schon für Aufmerksamkeit in der dänischen Politik gesorgt, dass praktisch alle dänischen medizinischen Organisationen und Kinderrechtsorganisationen ein Ende der nicht-therapeutischen Beschneidungen von Kindern unter 18 Jahren gefordert haben. Es ist dort Konsens, dass es unethisch, schädlich und potenziell gefährlich ist, Operationen an gesunden Kindern durchzuführen.

Wir haben noch nicht über Mädchen, intersexuelle und transsexuelle Kinder gesprochen. Würde ein Ihren Vorschlägen entsprechendes Gesetz auch diesen Kindern nützen?

Lena Nyhus: Ich bin sehr froh, dass Sie das fragen, denn das ist eine so wichtige Frage. In Dänemark ist es bereits verboten, an Mädchen Beschneidungen oder andere Genitaloperationen durchzuführen. Diese werden weibliche Genitalverstümmelung genannt. Ich bin mir sicher, dass es in Deutschland auch so ist. Wir sind schlicht der Meinung, dass selbst die kleinste Verletzung eines Mädchens an gesunden Genitalien eine Verstümmelung ist – und das zu Recht, denn es ist unethisch und eine Verletzung ihrer Rechte. Wir schlagen vor, dass die Einstellung und die Gesetzgebung für alle Kinder unabhängig vom Geschlecht genau gleich sein sollten. Selbst die geringste Verletzung ihres gesunden Körpers sollte als unethisch und illegal angesehen werden.

Heute beinhaltet das dänische Recht eine merkwürdige Missachtung der Genitalien von intersexuellen Kindern und Jungen. Wenn die Bürgerinitiative von Intact Denmark zur Gesetzgebung wird, sind alle Verletzungen der gesunden Körper von Menschen gleichermaßen illegal, ungeachtet ihres Alters, ihres Geschlechts oder wo die Verletzung erfolgt. Natürlich haben Erwachsene dann die Freiheit, Körpermodifikationen aus religiösen, kulturellen oder ästhetischen Gründen zu wählen, wenn sie es wünschen. Das ist die Freiheit, die wir ihnen garantieren wollen, aber es sollte sicherlich nicht akzeptabel sein, in gesunde Kinder zu schneiden, oder?

Herr Baba, was wiegt für sie schwerer: die Angst vor einem Zusammenstoß der Kulturen oder die Hoffnung auf Fortschritt bei Kinder- und Menschenrechten?

Güray Baba: Ohne Zweifel die Hoffnung auf Fortschritt bei Kinder- und Menschenrechten. Als Erwachsene ist es unsere Pflicht, Kinderechte zu schützen und Kinder vor Schaden zu bewahren. Das steht über allem.

Frau Nyhus, Herr Baba, vielen Dank für das Gespräch.