Wo es bei der Aufklärung von Kindesmissbrauch in Religionsgemeinschaften hapert

Großbritannien: Vergebung statt Anzeige?

Sie brüsten sich mit dem Anspruch, ethische Werte zu pflegen und weiterzuvermitteln. Doch hinter der Fassade moralischer Autorität erweisen sich religiöse Glaubensgruppen oft als Brutstätte von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Ein Schlaglicht auf die Situation in Großbritannien wirft nun der kürzlich veröffentlichte Bericht "Independent Inquiry into Child Sexual Abuse" (IICSA). Demnach kommt es in den meisten großen Religionsgemeinschaften des Landes zu sexueller Gewalt an Kindern. In einigen Gruppen fehlen sogar jegliche Leitlinien zum Schutz von Kindern vor sexualisierter und anderer Gewalt, beklagt der Bericht weiter.

Das Papier ist Teil einer groß angelegten Bestandsaufnahme zur Verbreitung von sexuellem Kindesmissbrauch in Großbritannien, die im nächsten Jahr abgeschlossen werden soll. Die nun publizierte Untersuchung beruht auf mehrwöchigen öffentlichen Anhörungen von 38 in Wales und England ansässigen Gruppierungen, darunter die anglikanische und die katholische Kirche. Doch auch jüdische, muslimische, hinduistische und andere Gemeinden, etwa der Zeugen Jehovas, sind betroffen. Außerdem dokumentiert die Untersuchung die Aussagen von 45 Personen, die als Opfer von sexueller Gewalt berichteten.

So unterschiedlich sich die Einzelfälle darstellen – Schülerinnen in der Koranschule sind ebenso betroffen wie Jugendliche, die ein christliches Sommercamp besuchen –, so sehr gleichen sich die Strategien der Täterinnen und Täter. Sie verharmlosen die Übergriffe, bringen die Zeugen mit Geschenken, Drohungen und emotionaler Erpressung zum Schweigen. In einigen Fällen berufen sie sich ausdrücklich auf moralische Konzepte der Glaubensgruppe – statt die Tat publik zu machen, solle das Opfer dem Täter doch vergeben, heißt es da. Kommt es doch zu polizeilichen Ermittlungen, werden die Beschuldigten nicht selten von ihrer Gemeinde gedeckt.

Der IICSA-Bericht betont, dass er nur ein unvollständiges Bild der tatsächlichen Situation vermittelt. Da nur relativ wenige Vorfälle überhaupt bekannt würden, geht der Bericht von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Größtes Hindernis bei der Bekämpfung von sexuellem Kindesmissbrauch in Religionsgemeinschaften seien kulturbedingte Barrieren und solche innerhalb der Organisationen, resümiert die IICSA-Vorsitzende und Sozialarbeiterin Alexis Jay. Hierzu verweist sie insbesondere auf die Ausblendung des Themas Sexualität in derartigen Gruppen, die dortigen Autoritätsstrukturen und nicht zuletzt auf die verbreitete Praxis des "Vicitm Blaming". Dieser Begriff bezeichnet eine Rhetorik, die durch Beschuldigung der Opfer die TäterInnen entlastet. Zudem sieht Jay deutliche Anzeichen, dass einige Glaubensorganisationen zugunsten des eigenen Ansehens andere Werte hintanstellten und auf diese Weise die Aufklärung der Verbrechen erschweren.

Hinzu kommt, dass sich viele Angebote religiöser Träger in Großbritannien der behördlichen Kontrolle entziehen. So besuchen nach Schätzung des IICSA-Reports 250.000 Kinder in England und Wales einen Unterricht in Form von "supplementary schooling" und "out-of school provision". Hierunter versteht man religiös geprägte Angebote, die nicht der britischen Bildungsbehörde Ofsted unterstehen, zum Beispiel Koran- und Sonntagsschulen, aber auch Pfadfindergruppen.

Um diese Aktivitäten aus dem Verborgenen ans Licht zu holen, sieht der IICSA-Bericht die britische Regierung in der Pflicht, verbindliche Vorschriften für deren Betrieb zu erlassen und der Bildungsbehörde ein Recht zur Überprüfung dieser Angebote einzuräumen. Darüber hinaus sollen alle Religionsgemeinschaften Leitlinien und unterstützende Maßnahmen zum Schutz von Kindern formulieren. Wohlgemerkt: Bei diesen Punkten handelt es sich lediglich um Empfehlungen. Inwieweit der britische Gesetzgeber auf dieser Grundlage neue Regelungen erlässt, bleibt abzuwarten.

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