"Ihr habt dieses Land auseinandergerissen": Der Zorn Israels bahnt sich seinen Weg nach Hause

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"Das Land der wilden Parlamentarier": Protestschild gegen die Justizreform, 11. September 2023, Jerusalem (angelehnt an Maurice Sendaks "Where The Wild Things Are").
Protestschild gegen die israelische Justizreform

Die Bilder des Kriegs zwischen der Hamas und Israel haben nicht nur ein Schisma in der Weltbevölkerung aufgerissen, sondern auch innerhalb der israelischen Öffentlichkeit und Politik. Denn anders als bei früheren Konfrontationen richtet sich die Wut der Bevölkerung nicht nur auf die Hamas, sondern auch auf die eigene Regierung: Jahrelange Klientelpolitik und allen voran die kürzlich entgegen immenser Proteste in Gang gesetzte Justizreform sollen die jüngsten Angriffe überhaupt erst ermöglicht haben. Der Versuch einer historischen Einordung.

Eine Sache vorab: Dieser Text beschäftigt sich nicht mit den ethischen Fragen des Israel-Hamas-Kriegs. Der Anspruch dieses Essays ist es, eine soziohistorische Einordnung der ungewöhnlichen Rolle des israelischen Militärs mit den innenpolitischen Konsequenzen der Justizreform zu synthetisieren und die folgenden drei Fragen zu diskutieren:

  1. Wie konnte es passieren, dass einer der besten Geheimdienstapparate der Welt sein Versagen eingestehen muss?
  2. Wie sieht die innenpolitische Zukunft  des Kabinetts Netanjahu-6 aus?
  3. Besteht die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Konflikt sich auf andere Teile des Nahen Ostens ausweitet?

Um das zu bewerkstelligen, ist es unumgänglich, einen intensiven Blick auf die soziologische und demographische Komposition des Staates Israel zu werfen. Drei Punkte müssen wir zunächst beleuchten, ohne die ein tiefgreifendes Verständnis der Umstände der jüngsten Eskalation unmöglich ist. Diese sind: Die Geschichte der Haredim (Sammelbezeichnung für Angehörige streng orthodoxer jüdischer Strömungen) innerhalb des israelischen Militärs, ihre Position innerhalb der israelischen Sozialstruktur und das öffentliche Sentiment hinsichtlich der drängenden Frage, inwieweit die höchst umstrittene Justizreform der amtierenden Regierung die Reaktionsfähigkeit des Militärs unterminiert hat.

Torahstudium vs. Militärdienst: Wie eine Ausnahmeregelung aus den Gründungstagen Israels die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte gefährdet

Israel ist eine der wenigen Nationen der Welt, deren verpflichtender Militärdienst auch Frauen einschließt. Die meisten Israelis leisten nach ihrem 18. Geburtstag einen zwei- beziehungsweise dreijährigen Wehrdienst ab, im Anschluss reisen sie meist einige Zeit durch die Welt, bevor sie sich einer Ausbildung oder einem Studium widmen. Dieser Ablauf ist beinahe schon eine rité de passage und sinnbildlich für die Konzeption des israelischen Militärs als eine "Volksarmee"1.

Dieses Modell ist – wortwörtlich – so alt wie der Staat Israel selbst. Bereits Gründervater David Ben-Gurion detaillierte die Säulen des israelischen Militärs (Israel Defense Force, IDF) wie folgt: Erstens, ein "gleicher und universeller Wehrdienst durch jeden Mann und jede Frau, die den achtzehnten Geburtstag erreicht", zweitens, ein "Melting Pot", der die vielschichtige israelische Gesellschaft zu einer kohäsiven Nation zusammenschweißt und drittens, eine Armee, deren Aufgabe nicht nur die Wahrung der nationalen Sicherheit ist, sondern die eine soziale Funktion hat2.

Um dies an einem praktischen, wenngleich etwas überspitzten Beispiel zu erläutern: Bisweilen schneit es in Jerusalem – unerhört, ich weiß, beginnt doch keine 100 Kilometer südlich bereits die glühende Wüste Negev. Wenn die Stadt dann schließlich unter einem halben Meter Schnee begraben ist, rückt aber nicht etwa das Technische Hilfswerk an – nein, das Militär rückt an, bewaffnet bis ans Beret mit Schneepflügen, Schippen und Streusalz. Für einen europäischen Geist ist das ein überaus kurioser Anblick: Junge Menschen um die 20, die in Militärmontur aus Humvees springen und nicht etwa die Flinte zücken, sondern Straßen freischaufeln, sieht man eher selten.

Zwar ist das Modell des IDF als "Volksarmee", das einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden soll, in den vergangenen Jahrzehnten durchaus erodiert, doch es steht außer Frage, dass die israelischen Streitkräfte aufgrund des umfassenden Wehrdienstes, der vielfältigen Aufgaben und der mannigfaltigen kulturellen Hintergründe der Soldat*innen diverser aufgestellt sind als die Militärapparate anderer Nationalstaaten. Eine bestimmte Subsektion der israelischen Bevölkerung allerdings ist seit langem vom verpflichtenden Wehrdienst ausgenommen, sehr zum Unmut der übrigen Israelis: die Männer unter den Haredim.

Kurz zusammengefasst gewährte Ben-Gurion bei der Gründung Israels genau 400 jungen Männern eine Ausnahmegenehmigung vom Wehrdienst, um an einer sogenannten "yeshiva", einer talmudischen Schule (Plural: "yeshivot"), die heiligen Texte des Judentums zu studieren. Zum einen versuchte der säkulare Ben-Gurion mit diesem Schachzug die politische Unterstützung der streng orthodoxen Strömungen zu gewinnen, zum anderen ist die Entscheidung vor dem Hintergrund des Holocaust auch als Affirmation einer jüdischen Identität zu verstehen, die beinahe der Auslöschung anheimgefallen wäre.

Im Jahr 1977 schließlich kippte die regierende Partei Likud – die heutige Regierungspartei Netanjahus – die Obergrenze von 400 Personen, was einen stetigen Anstieg der Ausnahmegenehmigungen auf religiöser Basis zur Folge hatte. Seitdem ist die Angelegenheit zu einem überaus polarisierenden Politikum geworden. Eine 2014 erlassene Reform wurde im Jahr 2017 vom Obersten Gerichtshof einkassiert, da sie verfassungswidrig weitläufige Ausnahmen für die streng orthodoxe Bevölkerung enthielt. Ursprünglich hätte das israelische Parlament ein Jahr Zeit gehabt, um das Gesetz zu überarbeiten, doch diese Frist wurde sage und schreibe fünfzehnmal verschoben, weil sich die Nation seit nunmehr fünf Jahren in einer elektoralen Ausnahmesituation befindet. Erst diesen Juni wurde die aktuelle Regelung, die Haredim auf breiter Basis vom Wehrdienst befreit, erneut um neun Monate verlängert.

Wie das vom ermordeten Premierminister Yitzhak Rabin – wir werden auf diesen Namen noch einmal zurückkommen – mitgegründete Israel Policy Forum ausführt, resultiert diese Sonderbehandlung streng orthodoxer Männer in einer substantiellen Unzufriedenheit der wehrpflichtigen Restbevölkerung: "Der Ansatz dieser Regierung (aktuelles Kabinett Netanjahu-6, Anm. d. A.) markiert insofern eine prägnante Zäsur zu früheren Versuchen, das Problem zu lösen, als dass sie es vollständig aufgegeben hat, die zahlenmäßige Lücke zwischen den Einberufungen von Haredim und nicht-Haredim schließen zu wollen. Aus der Sicht vieler Israelis würde eine solche Regelung den status quo nicht nur festigen, sondern das Narrativ des IDF als Volksarmee in Israels nationaler Geschichte fundamental unterminieren."

Bezeichnenderweise hört man selbst aus streng orthodoxen Communities ähnliche Klagen, sind diese doch beileibe nicht alle einer Meinung. Wie Rabbi Gezalel Cohen erklärt, divergieren die Positionen verschiedener streng orthodoxer Strömungen, doch aus politischen Gründen sammelten sich die meisten schließlich hinter der extremsten Haltung, nämlich einer vollständigen Ablehnung des Wehrdiensts für streng orthodoxe Männer unter allen Umständen. Aber auch Cohen warnt vor der Konsequenz dieser Entwicklung: "Die Nichteinberufung von Männern an yeshivot fordert das Militär und den Ethos der 'Volksarmee', der vom Großteil der israelischen Bevölkerung akzeptiert wird, schon seit Jahren heraus."

Dieses Sentiment spiegelt sich auch in entsprechenden Umfragen: 68 Prozent der Israelis lehnen einen Freifahrtschein für die Haredim ab, zeigt ein Bericht des Institute for National Security Studies (INSS). Ein Drittel aller Eltern mit Kindern im Alter von 16 bis 18 Jahren sagt weiterhin, dass sie eine derartige Regelung dazu veranlassen würde, ihren Kindern davon abzuraten, sich im Rahmen des Wehrdienstes einer Kampfeinheit anzuschließen. "Die Resultate untermauern die Befürchtung, dass das erwartete Gesetz zur Befreiung von der Wehrpflicht dem Modell der Volksarmee massiven Schaden zufügen und den Status des Diensts beim IDF sowie den Ethos der Wehrpflicht untergraben wird", warnt das INSS. Im kürzlich erschienen "Religion and State Index 2023" der Stiftung Hiddush sprechen sich sogar 78 Prozent der Befragten für den Einzug von Haredim aus.

Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, wie man persönlich zum IDF, zur Wehrpflicht im Allgemeinen oder zur grundlegenden Existenz extensiver Militärapparate steht. Relevant ist lediglich der Fakt, dass das israelische Militär eine Sonderstellung innerhalb der übergeordneten Sozialstruktur des Staates einnimmt sowie die Tatsache, dass eine ganz bestimmte Gruppe aus ganz bestimmten und historisch durchaus legitimierbaren Gründen von der Partizipation im Militär freigestellt wird, was unglücklicherweise mit der skizzierten Funktion des Militärs in fundamentalem Konflikt steht.

Eine Welt in einer Welt: Zur sozioökonomischen und demographischen Situation streng orthodoxer Communities

Eine Untersuchung des Israel Democracy Institute (IDI), die sich auf Daten des staatlichen Statistikbüros stützt, gibt Aufschluss über die sozioökonomische Situation der Haredim. Ein Blick auf demographische Trends verrät weiterhin, weshalb die Frage nach der Einberufung streng orthodoxer Männer den israelischen Militärapparat über Erwägungen der Fairness hinaus belastet.

Zunächst ist festzuhalten, dass die Zahl streng orthodoxer Israelis zwischen 2009 und 2022 von 750.000 auf 1.280.000 angewachsen ist. Haredim machen damit aktuell 13,3 Prozent der israelischen Bevölkerung aus, für das Jahr 2030 wird eine Quote von 16 Prozent prognostiziert. Mit 4 Prozent haben die Haredim die höchste demographische Wachstumsrate aller Gruppen in Israel.

Streng orthodoxe Familie
Haredim-Familie in Mea Shearim, Jerusalem. (Foto: © Levi Clancy via Wikimedia Commons / Lizenz: CC0 1.0)

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist es also für die Einsatzfähigkeit des israelischen Militärs von außerordentlichem Interesse, dass die Zahl an jungen Männern, die in talmudischen Schulen studieren, zwischen 2014 und 2021 um 46 Prozent angestiegen ist. Die 138.367 Menschen, die 2021 in solchen Schulen studierten, stehen schließlich allesamt nicht für den Wehrdienst zur Verfügung.

Im Jahr 2019 lag das durchschnittliche Monatseinkommen eines nicht-Haredi-Haushalts bei 21.843 NIS (New Israeli Shekel), was etwa 6.200 US-Dollar entspricht, und damit eineinhalb mal so hoch wie das durchschnittliche Monatseinkommen eines Haredi-Haushalts, das mit 14.121 NIS (etwa 4.000 US-Dollar) beziffert wird. Während die Armutsrate in der israelischen Gesamtbevölkerung bei 22 Prozent liegt, beträgt sie unter Haredim trotz eines seit fünfzehn Jahren positiv verlaufenden Trends noch immer das Doppelte: 44 Prozent, also beinahe jede zweite Haredi-Familie lebt in Armut.

Haredi-Haushalte, in denen die Frau neben der alleinigen Verantwortung für Care-Arbeiten meist auch die alleinige Verantwortung für die Erwirtschaftung eines Arbeitseinkommens trägt, sind daher häufig auf staatliche Transferleistungen angewiesen. Nun hat der Staat allerdings ein chronisches Geldproblem: Die Abfangraketen des Iron Dome kosten etwa 100.000 US-Dollar das Stück, die aus Altmetall und einem Sprengkörper zusammengelöteten Raketen der einschlägigen Terrororganisationen so in etwa einen Tausender. Außerdem wollen die Landesgrenzen rund um die Uhr bewacht und ein paar Geheimdienste unterhalten werden. All das führt dazu, dass die Steuerlast in Israel trotz milliardenschwerer Finanzspritzen aus den Vereinigten Staaten absolut exorbitant ist.

An dieser Stelle sei gesagt, dass diese Analyse lediglich eine Beschreibung des Ist-Zustands darstellt. Wir haben es hier mit einem Mikrokosmos zu tun, der in sich unglaublich vielfältig ist, aber nicht in einem Vakuum existiert, sondern eingebettet ist in einen kulturellen Kontext, der aufgrund der jüdischen Diaspora zwei Jahrtausende zurückreicht. Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde, waren die Großeltern heutiger Israelis über den gesamten Erdball verstreut. Die unfassbare Komplexität dieser weltweit vermutlich einzigartigen Art von Nationalidentität ist größer als ein jede*r einzelne von uns, sie negiert jeden Versuch der Pauschalisierung oder Interferenz. Quintessentiell jedoch ist die akkurate Identifikation des Kernproblems: Israel braucht eine Menge Geld und ein funktionierendes Militär. Eine bestimmte Gruppe partizipiert in keiner dieser beiden Weisen, führt dafür jedoch bisweilen nachvollziehbare Argumente an. Diese Gruppe wird proportional immer größer, die Auswirkungen der Sonderbehandlung also immer sicht- und spürbarer. Und der einen Institution, der aufgrund ihrer Reputation innerhalb der israelischen Bevölkerung zuzutrauen ist, dass sie einen tragbaren Kompromiss erwirken könnte – dem Supreme Court nämlich – werden gerade die Zähne gezogen.

Eine Randnotiz zur Siedlungspolitik des Kabinetts Netanjahu-6

Ein zusätzlicher Faktor ist die Tatsache, dass Netanjahus Ende vergangenen Jahres eingeschworenes Kabinett die Siedlungspolitik in der West Bank massiv ausgedehnt hat. Lag die Wachstumsrate der von großen Teilen der Weltgemeinschaft kritisierten Siedlungen im Jahr 2020 noch auf einem Tiefstand, sah sich Netanjahu zur Regierungsbildung allerdings gezwungen, weitreichende Zugeständnisse zu machen. So wurden beispielsweise zahlreiche selbst nach israelischem Recht illegal errichtete Siedlungen nachträglich legalisiert.

Diese Siedlungen unterscheiden sich insofern massiv von den Haredi-Communities auf israelischem Staatsgebiet, als dass sie allein schon geographisch "Inseln" darstellen, die keine vorhandene Infrastruktur aufweisen und von denen jede einzeln verteidigt werden muss. Hinzu kommt, dass sie auch unter Haredim in Jerusalem oder Bnei Brak nicht unumstritten sind, da die Siedlungen häufig ein einzigartig privilegiertes Verhältnis zum Staat Israel haben. Jede Ausdehnung der Siedlungen geht also in der Theorie zu Lasten der übergeordneten Verteidigungsfähigkeit, jeder Shekel, der in diese Siedlungen fließt, fehlt an anderer Stelle. Es ist zu erwähnen, dass diese Intensivierung der Siedlungspolitik gepaart mit systemischer Ignoranz gegenüber den Aktivitäten der Hamas angeblich auch in der Praxis eine Verschiebung der militärischen Kapazitäten von der Grenzregion zwischen Israel und Gaza in die West Bank zur Folge hatte.

"Ich will sehen, wie du dir dein Hemd vom Leib reißt und 2.000 Menschen um Vergebung anflehst"

"Bibi ist verschwunden. Was hat Bibi überhaupt getan? Hören Sie sich seine Worte an – er sagt: 'Ich habe dies und jenes angeordnet'. Das ist alles; sie sitzen rum und geben Anordnungen. Netanjahu ist komplett entkoppelt. Er hat keine Idee, wo er lebt. Er hat keine Vorstellung von der Größe dieser Situation. Das passiert, wenn eine populistische Regierung den Staat angreift, dessen Institutionen angreift. Wie soll ein Land funktionieren, wenn man alle Profis attackiert? Was Sie in Israel sehen – was alle Wähler der Welt sehen sollten – ist das Resultat."

Dies ist das Urteil des Professors für Politikwissenschaft der Hebrew University zu Jerusalem, Gideon Rahat. In einem überaus lesenswerten Artikel für das New York Magazine befragte Noga Tarnopolsky nicht nur Rahat, sondern auch Angehörige von Soldat*innen. Die folgenden Worte von Ophir Shay, dessen 21-jähriger Bruder Yinon von der Hamas getötet wurde, sprechen wohl für sich:

"Mein geliebter Bruder wurde von hasserfüllten Terroristen ermordet, doch diejenigen, die ihnen schändlicherweise die Tür geöffnet haben, sind die israelische Regierung, vom Minister für nationale Sicherheit (Itamar Ben-Gvir, Anm. d. A.) und seinen messianischen Freunden – Clowns, die sich damit beschäftigen, gewalttätige, idiotische Slogans zu kreieren – bis hin zum Premierminister (Benjamin Netanjahu, Anm. d. A.), der alles in seiner Macht stehende tut, um den Staat Israel zu zersetzen."

Plastik eines abgestürzten Jets
Plastik eines abgestürzten Jets im Rahmen der Proteste der Israeli Air Force gegen die Justizreform, 29. März 2023, Tel Aviv. (Foto: © Oren Rozen via Wikimedia Commons / Lizenz: CC BY-SA 4.0)

Es ist ein Sentiment, das sich momentan schleichend, aber ausdauernd seinen Weg durch die israelische Bevölkerung bahnt: Netanjahu und seine Clique sollen Israels Sicherheit aufgrund einer Mischung aus Günstlingswirtschaft und Inkompetenz sträflich vernachlässigt haben. So kommt es, dass Wirtschaftsminister Nir Barkat – Multimilliardär und loyaler Verfechter der Justizreform – in einem Krankenhaus in Tel Aviv die folgenden Worte entgegenschlagen: "Ihr habt dieses Land auseinandergerissen. Ich will hören, dass du Verantwortung übernimmst. Ich will sehen, wie du dir dein Hemd vom Leib reißt und 2.000 Menschen um Vergebung anflehst."3 Noch im Juli warnte Generalstaabschef Herzi Halevi den Premierminister in einem Brief vor sinkender Truppenkohäsion, die mutmaßlich auf die Justizreform zurückzuführen sei.

86 Prozent der gesamten israelischen Bevölkerung und 79 Prozent der Unterstützer*innen der Regierungskoalition sehen im Überraschungsangriff der Hamas ein Versagen der Landesführung, berichtet die Jerusalem Post. Weiterhin verorten 75 Prozent der Befragten den Großteil der Verantwortung für die gravierenden Sicherheitsmängel bei der Regierung selbst. 56 Prozent und damit eine dünne Mehrheit der Befragten fordert den Rücktritt Netanjahus, sobald der Krieg vorbei ist. Auch die Redaktion der ältesten Tageszeitung Israels, Haaretz, forderte jüngst Netanjahu auf, sein Amt niederzulegen.

In der Tat weckt der Angriff der Hamas gewisse Erinnerungen an den Yom-Kippur-Krieg vor ziemlich genau fünfzig Jahren. Genau wie damals verwechselte Israels Geheimdienstapparat anscheinend Truppenübungen mit den Vorbereitungen für einen Großangriff. Genau wie damals soll die Regierungsspitze wiederholt Warnungen aus dem Ausland ignoriert haben. Golda Meir, Premierministerin Israels während des Yom-Kippur-Kriegs, sah sich schlussendlich aufgrund immensen öffentlichen Drucks genötigt, zurückzutreten.

Das Büro des Premierministers erklärte, Netanjahu sei erst nach Beginn der Angriffe über die Aktivitäten der Hamas informiert worden. Netanjahu dementierte außerdem Berichte, der ägyptische Geheimdienst habe versucht, die Regierung zu warnen. Diese historische Parallele schwebt von nun an wie ein Damoklesschwert über dem Kabinett. Für den Moment sind Regierungskoalition und Opposition in einer Notstandsregierung de facto vereint, doch dieser Krieg wird sein Ende finden. Spätestens wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, wird Netanjahu, dem das Erscheinen vor staatlichen Gerichten durchaus nicht fremd ist, wieder einmal vor dem Gericht der öffentlichen Meinung stehen.

Dieses Gericht aber wägt keine Fakten, es schert sich nicht um die Frage, wieviel Schuld Netanjahu schlussendlich nachgewiesen werden kann. Das Gericht der öffentlichen Meinung richtet nach einem einzigen Kriterium: Optik. "Es spielt keine Rolle, ob es eine Untersuchungskommission gibt oder nicht, oder ob er Fehler eingesteht. Das einzige, was zählt, ist, was die 'israelische Mitte' denkt – nämlich, dass das ein Fiasko und der Premierminister verantwortlich ist", so Amotz Asa-El vom Shalom Hartman Institut in Jerusalem zu Reuters. "Man hört selbst Menschen, die Likud unterstützen, auf der Straße mit unvergleichbarer Feindseligkeit über [die Regierung] sprechen."

1995

Um den Kreis endlich zu schließen, um wahrhaftig eine Vorstellung von der "Größe dieser Situation" zu gewinnen, müssen wir noch einmal knapp 30 Jahre in die Vergangenheit reisen, ins Jahr 1995 nämlich. Der Premierminister Israels heißt Yitzhak Rabin. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits den Friedensnobelpreis für das Oslo-Abkommen erhalten und war substantiell an der Ausarbeitung des bis heute gültigen Friedensvertrags zwischen Israel und Jordanien beteiligt. Nun ist Rabin kein Heiliger und war während seiner Regierungszeit auch nicht unumstritten. Ihn auf offener Straße zu erschießen allerdings ist keine Art von Cancel Culture, die eine Demokratie tolerieren kann. Am 4. November 1995 wurde Rabin nach einer Rede in Tel Aviv von einem mit dem Oslo-Abkommen unzufriedenen Extremisten ermordet, der später sagte, er habe "keine Reue" und einen "Auftrag von Gott".

Einige Wochen zuvor wurde Rabin von einem jungen Mann, der sein Fahrzeug demoliert hatte, mit dem Mord aber nicht in Verbindung steht, mit diesen Worten bedroht: "Wir haben sein Auto erwischt, dann erwischen wir ihn auch noch". Dieser junge Mann heißt Itamar Ben-Gvir, wurde aufgrund extremistischer Tendenzen vom Militärdienst ausgeschlossen und ist im Alter von 46 Jahren nun Israels Minister für nationale Sicherheit. Während seiner Triumphrede nach den Wahlen im vergangenen Herbst sprach Ben-Gvir dem extremistischen Rabbi Dov Lior seinen Dank aus – Lior hatte vor einigen Jahren mit einer theologischen Rechtfertigung der Ermordung Rabins für Aufregung gesorgt.

In anderen Worten: Der Minister für nationale Sicherheit Israels arbeitet emsig daran, den Eindruck zu erwecken, dass er die Ermordung der einen Person, die mehr für Frieden im Nahen Osten steht als irgendjemand sonst, nicht für verurteilenswert hält. Zwar bekundet er auch, über die Jahre moderater geworden zu sein, doch Aussagen seiner eigenen Partei werfen einen gewissen Schatten des Zweifels auf Ben-Gvirs vermeintlichen Sinneswandel. Das gibt der Aussage "der Minister für nationale Sicherheit und seine messianischen Freunde – Clowns, die sich damit beschäftigen, gewalttätige, idiotische Slogans zu kreieren" doch eine gewisse historische Tiefe.

Netanjahus sechstes Kabinett ist das "rechteste, nationalistischste und religiös-konservativste" in der Geschichte Israels. Die initiale Reaktion großer Teile dieses Kabinetts ist aus rein militärstrategischer Perspektive unfassbar. Dabei geht es nicht um Legitimation, es geht um schiere Machbarkeit. Anders als während des Yom-Kippur-Kriegs haben wir es hier nicht mit einem konventionellen Krieg zu tun, in dem staatliche Militärs in einer Wüste aufeinander schießen. Wir haben es mit einem asymmetrischen Krieg in urbaner Umgebung zu tun, die zu allem Überfluss auch noch weitläufig untertunnelt ist. Die Hamas auf ihrem Territorium vollständig zu besiegen, hieße, eine monate-, potentiell jahrelange Besatzung Gazas in Angriff zu nehmen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Intifada noch nie dagewesenen Ausmaßes heraufzubeschwören. Auch der IDF marschiert nicht einfach mit zwei Tagen Vorlauf in Gaza ein und ist zu Hannukah wieder zuhause, das ist absurd.

Die israelische Führung sollte das wissen, schließlich hat man den Versuch bereits unternommen. Ein solches Unterfangen in einer solch überhasteten Weise wäre notwendigerweise chaotisch, unstrukturiert und mit gigantischen Verlusten an menschlichen Leben auf beiden Seiten verbunden. Die Optik, innen- wie außenpolitisch, wäre katastrophal. Glücklicherweise verkündete der IDF vor einigen Tagen, dass nun auch alternative Vorgehensweisen ausgearbeitet werden. US-Präsident Joe Biden beschwor jüngst Netanjahu bei einem Gipfeltreffen, sich nicht "von Zorn überwältigen" zu lassen, die Zwei-Staaten-Lösung nicht aus den Augen zu verlieren und die Fehler der USA im Nachgang von 9/11 nicht zu wiederholen. Es scheint, dass dem initialen Impuls, auf die Angriffe der Hamas mit maximaler militärischer Eskalation zu reagieren, doch nicht nachgegeben wird. Und je reservierter die Bodenoffensive letzten Endes ausfällt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Konflikt auf angrenzende Staaten übergreift.

Was bleibt, ist der Eindruck, dass der Premierminister und sein Kabinett mit der sprichwörtlichen Hand in der Keksdose erwischt wurden. Netanjahu, so machtlos er in letzter Instanz ob seiner fragilen, rechtsreligiösen Koalition auch ist, hat diese Regierung zusammengeschustert, ist das Gesicht der Justizreform und das Emblem der politischen Sonderbehandlung der Haredim. Netanjahu steht für all die Faktoren, die, wie wir diskutiert haben, der militärischen Reaktionsfähigkeit über Jahrzehnte mindestens einen gefühlten Schaden zugefügt haben. Sollte die israelische Bevölkerung auf breiter Basis eine Verbindung herstellen zwischen diesem gefühlten Schaden und dem Versagen der Institutionen ist es nur schwer vorstellbar, dass Netanjahu, die politische Inkarnation des Konzepts "Phönix aus der Asche", mit seinem Amt davonkommt. So schreibt der israelische Historiker und Journalist Gershom Gorenberg: "Trotz all der Qualen, gerade deswegen, müssen wir eine nationale Aufarbeitung dessen fordern, was dieses militärische Desaster möglich gemacht hat: die Hybris und Selbstgefälligkeit und allen voran die Verblendung von Premierminister Benjamin Netanjahu und seiner Regierung".

Wenn es eines gibt, von dem ich möchte, dass Sie es nach der Lektüre dieses Essays behalten, dann das: Kein Volk dieser Welt ist ein Sammelbewusstsein und keine Bevölkerung als Ganzes ist moralisch verantwortlich für die ideologische Verblendung derer, die sie regieren.

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1 Hebräisch צבא העם, ausgesprochen "zva ha'am". Vgl. hierzu den hebräischsprachigen "Security Classification Blog" des Israel Democracy Institute (abgerufen 16.10.2023, 13:15 Uhr).

2 Vgl. ebd.

3 Die Forderung geht zurück auf den jüdischen Brauch Kriah (קריעה ), dem traditionellen Einreißen eines Kleidungsstücks als Ausdruck der Trauer im Rahmen von Bestattungen. Vgl. hierzu Wikipedia (abgerufen 16.10.2023, 16:30 Uhr)