Am Sonntag finden in Brasilien Wahlen statt, die auch über die Präsidentschaft im Land entscheiden. Ex-Präsident Lula liegt in aktuellen Umfragen vor dem amtierenden Präsidenten Bolsonaro. Wie bei der letzten Wahl werben die Favoriten bei den Evangelikalen um Unterstützung. Doch die Entscheidung beeinflussen könnten diesmal die Stimmen der Jungen. Und die können sowohl auf Bolsonaro als auch auf eine institutionelle Religion verzichten.
Bei Umfragen des Markt- und Meinungsforschungsinstitutes IPEC liegt der brasilianische Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva vorn. 2017 war er bei einem umstrittenen Prozess wegen Geldwäsche und Korruption verurteilt worden, 2019 wurde er wieder aus der Haft entlassen und die Verurteilung 2021 aufgehoben. Weit abgeschlagen bei jeweils nur wenigen Prozent liegen andere Kandidat*innen wie Gomes, Tebet, Thornicke und D'Avila. Bleiben die Wählenden bei ihrer Entscheidung, kann Lula mit satten 48 Prozent der Stimmen rechnen, während nur mehr 31 Prozent hinter Jair Bolsonaro stehen und ihn weiter als Präsident sehen möchten.
Seit seinem Amtsantritt 2018 hat Bolsonaro nicht nur Minderheiten jede Unterstützung versagt, sondern auch der Umweltzerstörung keinen Einhalt geboten, in der Corona-Pandemie versagt und war schließlich noch in eine Korruptionsuntersuchung geraten.
Obwohl die Wahlfavoriten Lula und Bolsonaro sich um die Stimmen der Evangelikalen bemühen, die Bolsonaro 2018 zum Wahlsieg verhalfen, könnten die entscheidenden Voten diesmal aus einer ganz anderen Richtung kommen: von jungen Brasilianer*innen. Während nach 2010 das Wahlinteresse der 16- und 17-Jährigen gesunken war – die fakultativ wählen können, da die Wahlpflicht erst ab 18 Jahren gilt –, ist es seit der Wahl von 2018 deutlich gestiegen. Machten die 16- und 17-Jährigen bei der Wahl von 2018 nur 1,4 Millionen Wählende (0,95 Prozent der Gesamtzahl) aus, sind es in diesem Jahr 2,1 Millionen wählende Jugendliche. Somit macht diese Gruppe etwa 1,3 Prozent der Stimmberechtigten aus. Ein satter Anstieg von über 50 Prozent in nur vier Jahren. Eine ähnliche Entwicklung in der Anzahl gab es bei den über 70-Jährigen, deren Wahlpflicht erloschen ist, wobei die Anzahl der Älteren – von denen nicht wenige von den Amtshandlungen Bolsonaros enttäuscht sein dürften – die der Jungen übersteigt.
Während wohl aus der Ecke Bolsonaros Fake News zur Verfolgung Evangelikaler unter einem Präsidenten Lula gestreut werden, interessiert sich die brasilianische Jugend weniger für Religion. Eine Umfrage aus dem April 2022 zeigt auf, dass von den 16- bis 24-Jährigen bereits 34 Prozent angeben, keine Religion zu haben. Nur 49 Prozent bekannten sich zum evangelischen (32 Prozent) oder katholischen (17 Prozent) Glauben. Keine Religion ist nicht gleichzusetzen mit Atheismus, jedoch wird keine Kirche benötigt, um spirituell zu sein oder auf christliche Glaubenselemente wie Jesus oder Maria zu setzen.
Unter den jungen Wählenden kommt Diversität und eine Politik des Respekts und des Dialogs, die Lula verspricht, weit besser an. Den jungen Erstwähler*innen wäre zu gönnen, die ausschlaggebenden Stimmen zu liefern, die ihr Land nicht nur von Jair Bolsonaro befreien, sondern auch für frischen Wind im Nationalkongress und bei der Besetzung weiterer Posten in den Bundesstaaten sorgen. Immerhin müssen sie mit den getroffenen Entscheidungen und deren Konsequenzen noch lange leben.