Hunger, Putschversuch, Völkermord:

Brasiliens neue Regierung erbt eine Katastrophe

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Angriff der sogenannten Bolsonaristas auf das Parlament
Angriff der sogenannten Bolsonaristas auf das Parlament

Mit Luiz Inácio Lula da Silva, meist einfach nur "Lula" genannt, zieht zum ersten Mal seit Jahren Hoffnung ins brasilianische Regierungssgebäude ein. Gegen den faschistischen Putschversuch der Bolsonaristas gehen die Regierung und das Verfassungsgericht mit der hochgefährlichen Situation angemessenen – sprich, vollen – Härte des Gesetzes vor. Doch langsam tritt das gesamte Ausmaß der Zerstörung, die Bolsonaros Administration verursacht hat, ans Tageslicht, Präsident Lula spricht bereits von einem "Genozid" am indigenen Volk der Yanomami. Die Nation braucht nicht weniger als eine Zeitenwende – ein Essay.

Als am 8. Januar dieses Jahres hunderte sogenannte Bolsonaristas, Unterstützer*innen des demokratisch abgewählten Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, das Parlament, das Verfassungsgericht sowie das Regierungsgebäude stürmten, besuchte Lula gerade die Stadt Araraquara, die wenige Tage zuvor von einer gewaltigen Sturmflut verwüstet wurde. Sofort brach der neugewählte Präsident in die Hauptstadt Brasília, weit im Landesinneren und fernab der küstennahen Ballungszentren, auf, um die Niederschlagung des von Lula selbst als "faschistisch" bezeichneten Aufruhrs zu koordinieren.

Drei Stunden nachdem der Mob die leeren Gebäude gestürmt hatte – es war ein Sonntag – hatten in Windeseile eingeflogene Sicherheitskräfte die Bolsonaristas wieder unter Kontrolle und mehrere hundert Personen verhaftet. Die lokale Militärpolizei gab sich während des Putschversuchs erstaunlich passiv: "Die Polizei hat überhaupt nichts getan. Sie haben die Protestierenden einfach reingelassen", wütete Präsident Lula. Noch in der gleichen Nacht ordnete ein Verfassungsrichter die zeitweise Absetzung des für das Gebiet verantwortlichen Gouverneurs Ibaneis Rocha an. "[Dieser Angriff] war nur möglich, weil Sicherheitskräfte und Geheimdienste sie geduldet haben beziehungsweise direkt involviert waren", so Alexandre de Moraes.

Bolsonaro hinterlässt verbrannte Erde und tote Kinder

"Brasiliens ehemaliger Präsident Bolsonaro des Völkermords bezichtigt", titelte jüngst der Guardian. Tags zuvor berichtete die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf eine Aussage des Justizministers Flavio Dino, es gebe Beweise für einen "Genozid" an den indigenen Yanomami.

Das Gesundheitsministerium hatte nur wenige Tage vorher den medizinischen Ausnahmezustand über das im Bundesstaat Roraima gelegene Territorium der Yanomami verhängt. "Die Region sieht aus wie ein Konzentrationslager", erklärte der Minister für indigene Gesundheit, Weibe Tapeba, die Entscheidung des Gesundheitsministeriums in einem Radiointerview. 570 Kinder des Volks sind während Bolsonaros vierjähriger Amtszeit gestorben, die meisten an Hunger, manche an Malaria, Infektionen oder durch illegale Goldschürfung ausgelöste Quecksilbervergiftungen. "Was ich in Roraima gesehen habe, war mehr als eine humanitäre Krise. Es war ein Genozid. Ein vorsätzliches Verbrechen gegen die Yanomami, begangen von einer Regierung, der das Leiden des brasilianischen Volkes völlig egal ist", twitterte Präsident Lula.

Sonia Guajajara, eine der ersten indigenen Ministerinnen der Nation, schlug einen ähnlich unheilvollen Ton an: "Wir müssen die vorige Regierung dafür zur Verantwortung ziehen, dass die Situation derart eskaliert ist, dass wir Erwachsene finden, die so viel wiegen wie Kinder, und Kinder, die nur noch Haut und Knochen sind", so die Leiterin des neugegründeten Ministeriums für Indigene Völker. Das Territorium der Yanomami, die circa 35.000 Menschen zählen, ist die größte indigene Schutzzone Brasiliens, 19.000 der 35.000 Yanomami leben auf brasilianischem Staatsgebiet.

"Die Realität ist an jeder Ecke zu sehen"

In seiner Antrittsrede, die in voller Länge und auf Deutsch bei der Progressiven Internationalen zu finden ist, identifizierte Lula die grassierende materielle Ungleichheit als Hauptgrund für den desolaten Zustand des Landes: "Der Hunger ist wieder da und zwar nicht durch die Macht des Schicksals, es ist nicht das Werk der Natur und auch nicht göttlicher Wille. (…) Der Hunger ist die Tochter der Ungleichheit, die Mutter der großen Übel, welche die Entwicklung Brasiliens aufhalten. Die Ungleichheit erniedrigt unser Land, das so groß ist wie ganze Kontinente, indem sie es in nicht wiederzuerkennende Teile spaltet. (…) Es ist nicht hinnehmbar, dass die reichsten 5 Prozent der Menschen in diesem Land den gleichen Anteil am Einkommen haben wie die anderen 95 Prozent. Dass sechs brasilianische Milliardäre über ein Vermögen verfügen, das dem der 100 Millionen ärmsten Menschen im Lande entspricht. (…) Und es macht keinen Sinn, die Fenster eines Luxuswagens hochzukurbeln, um unsere Brüder und Schwestern nicht zu sehen, die unter den Viadukten zusammengepfercht sind und denen es an allem fehlt. Die Realität ist an jeder Ecke zu sehen."

Auch die Armutsbekämpfungsorganisation Oxfam weist auf die für südamerikanische Verhältnisse exorbitante Ungleichheit in Brasilien hin. Bereits 2017 errechnete Oxfam, dass Brasilien bei Beibehaltung der jetzigen Geschwindigkeit geschlagene 30 Jahre bräuchte, um das Einkommensungleichheitsniveau Argentiniens zu erreichen – 35, wenn das Niveau Uruguays herangezogen wird.

Angesichts der jüngsten Oxfam-Studie "Survival of the Richest" (der hpd berichtete), aus der hervorgeht, dass die weltweite Ungleichheit seit der Coronaviruspandemie geradezu explodiert, hat sich die Situation Brasiliens seitdem nicht verbessert, im Gegenteil. Es ist höchste Zeit, statt Urwälder Steuererleichterungen für Superreiche abzuholzen und das Geld, das in Offshore-Steuerparadiesen versandet, zurück in die brasilianische Wirtschaft zu führen: Knapp 20 Milliarden US-Dollar pro Jahr, dreimal so viel wie Brasilien insgesamt für Bildung ausgibt, könnte die Regierung laut Oxfam so einnehmen.

Amazonasschutz und Armutsbekämpfung müssen kein Widerspruch sein

Wenn es jemand schafft, Brasilien zurück auf einen Pfad zu führen, der ökologische Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung vereint, dann wohl Luiz Inácio Lula da Silva, der bereits auf zwei sehr erfolgreiche Amtszeiten zwischen 2003 und 2011 zurückblicken kann. 2010 zeichnete das World Food Program der Vereinten Nationen Lula für seine Verdienste im Kampf gegen den Hunger aus.

Die Technologisierung und Ausdehnung der Landwirtschaft hat Millionen aus der extremen Armut befreit, doch gleichzeitig den Amazonas an den Rand des Kollaps gedrängt. Niemand kann Menschen, die in Armut leben, vorwerfen, dass sie ihr von Urwald bewachsenes Land verkaufen oder zur landwirtschaftlichen Nutzung roden, wenn das ihre einzige Chance ist, eben dieser Armut zu entfliehen. Und weil Lula angekündigt hat, die Tropenabholzung vollständig zu unterbinden, haben beispielsweise die Einwohner*innen des Urwaldreservats Chico Mendes, benannt nach dem einflussreichen brasilianischen Gewerkschafter, bei der letzten Wahl Jair Bolsonaro vorgezogen.

Um den Amazonas also nachhaltig zu schützen und Armut gleichzeitig wirksam zu bekämpfen, müsse Lula sich den Anliegen derer widmen, die von den Produkten des Urwalds leben, von Gummi oder Paranüssen, so Angela Mendes, die Tochter des Gewerkschafters. Auch das Chico-Mendes-Institut für den Erhalt der Biodiversität bedürfe einer tiefgreifenden Reform. "Das ist der einzige Weg in die Zukunft", so Mendes.

Lulas Regierung steht damit vor gleich mehreren monumentalen Herausforderungen. Bolsonaro hinterlässt nicht nur einen dezimierten Regenwald und einen bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlten Sozialstaat, sondern vor allem einen Haufen fahnenschwingender, gewalttätiger Irrer, die mit demokratiefeindlichen Gestalten wie Steve Bannon verkehren. Lula gelobte, nicht nur die Protestierenden, die sich am 8. Januar des Putschversuchs befleißigten, zur Rechenschaft zu ziehen, sondern auch die Teile des Staatsapparats, die diesen Putschversuch aktiv vorangetrieben oder durch strategische Passivität ermöglicht haben, zu identifizieren. Die Nation braucht eine gesamtgesellschaftliche, demokratische Wiedergeburt, eine Zeitenwende, um die klaffenden Wunden zu heilen, die Bolsonaro dem brasilianischen Volk zugefügt hat.

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