Bertelsmann-Studie: "Viele Familien ärmer als bislang gedacht"

Kinder sind ein Armutsrisiko in Deutschland

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Gestern veröffentliche die Bertelsmann Stiftung eine Studie, nach der Familien mit geringem Einkommen in den letzten 25 Jahren weiter abgehängt worden sind. Mit einer neuen Methodik haben Forscher dabei festgestellt, "dass vor allem arme Familien bisher reicher gerechnet wurden als sie tatsächlich sind". Das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) fordert deshalb eine "grundlegende Kraftanstrengung zur Bekämpfung der Familien- und Kinderarmut in Deutschland".

In der Vorstellung der Studie heißt es: "Die Einkommenssituation von vielen Familien und insbesondere Alleinerziehenden ist schlechter als bislang gedacht." Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung "haben Forscher der Ruhr-Universität Bochum jetzt erstmals für Deutschland ermittelt, welche zusätzlichen Kosten durch Kinder je nach Familientyp und Einkommensniveau entstehen. Dabei wird klar: Je geringer das Familieneinkommen ist, desto schwerer wiegt die finanzielle Belastung durch jedes weitere Haushaltsmitglied."

Den subjektiven Eindruck, dass das Geld immer knapper wird, hatten betroffene Familien schon seit Jahren; auch wenn Politik und Medien das häufig nicht wahrhaben wollten. Immer wieder wird und wurde von einer "kinderfreundlichen Familienpolitik" gesprochen und sich darüber gewundert, dass die Geburtenrate zurückgeht. Mit der neuen Methode konnte nun tatsächlich nachgewiesen werden, dass sich "die OECD-Skala die Einkommen armer Haushalte systematisch über- und jene reicher Haushalte unterschätzt." So ist für ärmere Familien die finanzielle Belastung durch Kinder im Verhältnis größer als für wohlhabende Familien. 

Stiftungsvorstand Jörg Dräger sagte zur Vorstellung der Studie: "Wir können Armut nur erfolgreich bekämpfen, wenn wir sie realistisch betrachten können." Es sei also notwendig, mit realen Zahlen zu agieren anstatt mit Wunschdenken die Politik zu gestalten.

So zeigt die Studie auch, "dass von 1992 bis 2015 Paare mit Kindern oder Alleinerziehende im Durchschnitt finanziell stets schlechter gestellt waren als kinderlose Paare." Dräger fasst zusammen: "Mit jedem zusätzlichen Kind wird die finanzielle Lage von Familien schwieriger. Kinder sind leider ein Armutsrisiko in Deutschland."

Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert daher in einer Pressemitteilung von gestern "eine grundlegende Kraftanstrengung zur Bekämpfung der Familien- und Kinderarmut in Deutschland." Dazu braucht es aus Sicht des Verbandes "ein Gesamtkonzept, das mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet ist und ressortübergreifend ansetzt, um Kinder nachhaltig aus der Armut herauszuführen."

Insbesondere Alleinerziehende leben in Armut und können nur schwer die Grundbedürfnisse von Kindern erfüllen. "Deshalb brauchen wir eine zeitnahe Anhebung der Kinderregelsätze auf ein armutsfestes Niveau" fordert das DKHW. Die Politik müsse endlich die Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht im Jahre 2010 zur Teilhabe von Kindern und Jugendlichen gemacht hat, umsetzen. Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert "eine grundsätzliche Lösung in Form einer Kindergrundsicherung, die das Existenzminimum von Kindern unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten der Familie, der Familienform und dem bisherigen Unterstützungssystem gewährleistet."

Familien mit geringem Einkommen werden weiter abgehängt.
Familien mit geringem Einkommen werden weiter abgehängt. (Ausschnitt aus der Info-Grafik der Bertelsmann-Studie)

Die Bertelsmann-Studie weist darauf hin, dass in den (untersuchten) Jahren 1992 bis 2015 die Einkommensschere zwischen wohlhabenden und armen Familien weiter aufgegangen ist. "Seit den 1990er Jahren ist es nur jenen Familien gelungen, ihr Einkommen zu halten oder zu verbessern, bei denen die Mütter ihre Erwerbstätigkeit ausbauen konnten. Entscheidend hierfür war der Ausbau der Kindertagesbetreuung. Kindergelderhöhungen hingegen haben die Einkommenssituation von Familien mit Kindern nicht nachhaltig verbessert."

"So zeigt sich, dass die Armutsrisikoquote von Paarfamilien nach der neuen Berechnung knapp drei Prozentpunkte über den bisher ermittelten Werten liegt: nach neuer Berechnung sind 13 Prozent der Paare mit einem Kind armutsgefährdet, 16 Prozent jener mit zwei und 18 Prozent solcher mit drei Kindern.

Besonders drastisch ist die Situation für Alleinerziehende. Lag deren Armutsrisikoquote nach früheren Berechnungen bei 46 Prozent – und damit schon sehr hoch –, sind es auf Basis der neuen Methode 68 Prozent. Gerade bei Alleinerziehenden führt die Anwendung der starren, einkommensunabhängigen OECD-Skala dazu, dass die zusätzlichen Ausgaben für ein Kind im Haushalt deutlich unterschätzt werden. Während beispielsweise ein Haushalt mit zwei Erwachsenen mit einem Schlaf- und einem Wohnzimmer auskommen kann, brauchen Alleinerziehende zusätzlich ein Kinderzimmer."

Ebenso wie das DKHW fordert die Bertelsmann Stiftung von der Politik, ein größeres Gewicht auf die Bekämpfung von Armut zu legen. "Vor allem Alleinerziehende brauchen stärkere Unterstützung", so Dräger. Zudem gilt es, die staatliche Existenzsicherung für Kinder neu aufzustellen. Dabei sollte sich der Staat konsequent an den Bedürfnissen von Kindern orientieren. "Mit einem Teilhabegeld als neue familienpolitische Maßnahme können wir das Kindergeld, die SGB II-Regelsätze für Kinder und Jugendliche, den Kinderzuschlag und den größten Teil des Bildungs- und Teilhabepakets bündeln." Dieses neue Instrument soll gezielt arme Kinder und Jugendliche erreichen und mit steigendem Einkommen der Eltern abgeschmolzen werden.

Die Studie steht kostenlos zum Download zur Verfügung. (Eine Zusammenfassung und eine Infografik ebenfalls.)