Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes

Ein grundsätzliches Umdenken ist notwendig

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Obdachloser in Berlin
Obdachloser in Berlin

BERLIN. (hpd/hvd) Die politischen Parteien allein haben nicht die Kraft, die wachsende soziale Spaltung in Deutschland aufzuhalten und zu verringern. Das betonte der Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands, Frieder Otto Wolf, anlässlich des aktuellen Armutsberichts des Paritätischen Gesamtverbands. Wolf bezeichnete die ungebremst wachsende Ungleichheit bei den Vermögen und Einkommen als eines der zentralen gesellschaftlichen Probleme in der Bundesrepublik.

Die Armutsverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland befinden sich auf einem historischen Höchststand, lautet der Befund des aktuellen Armutsberichts. "Noch nie war die Armut in Deutschland so hoch und noch nie war die regionale Zerrissenheit so tief wie heute. Deutschland ist armutspolitisch eine tief zerklüftete Republik", so Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.

Der Anteil der Menschen, die als arm gelten müssen, sei in Deutschland innerhalb nur eines Jahres geradezu sprunghaft von 15,0 Prozent (2012) auf 15,5 Prozent (2013) gestiegen. Rein rechnerisch bedeutet dies einen Anstieg von 12,1 auf 12,5 Millionen Menschen. Am stärksten betroffen seien die Bundesländer Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, so der Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes.

Erstmalig beleuchtet der Paritätische in seinem Bericht zur Armutsentwicklung auch besondere Risikogruppen. Das höchste Armutsrisiko von allen Haushalten zeigten danach mit 43 Prozent Alleinerziehende. Besondere Aufmerksamkeit sollte zudem nach Ansicht des Verbandes den Rentnerinnen und Rentnern gewidmet werden: "Es gibt keine andere Gruppe in Deutschland, die in den letzten Jahren auch nur annähernd vergleichbar hohe Armutszuwächse hatte. Wir haben es hier mit einem armutspolitischen Erdrutsch zu tun", warnte Schneider angesichts eines Anstiegs der Armut in dieser Gruppe um 48 Prozent seit 2006.

Frieder Otto Wolf sagte zum aktuellen Bericht weiter, dass große soziale Ungleichheit fundamentale humanistische Werte wie das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation bedroht, unterminiert und sogar aufhebt. Dies sei für Millionen von Menschen bereits heute in erschreckendem Ausmaß Realität, wie der Armutsbericht illustriere. "Ich sehe in den Zahlen klare Belege für eine fortschreitende ökonomische und kulturelle Barbarisierung, vor der ein Teil unserer Bevölkerung bislang leider die Augen verschließt." Doch die stetig wachsende Ungleichheit betreffe auch viele der Bürgerinnen und Bürger, die dem Armutsbegriff des Berichts nach noch nicht als arm gelten.

"Man muss kein Einkommen unter der Armutsgrenze haben, um die Konsequenzen zu spüren. Der Verlust von Selbstbestimmung und Teilhabe findet graduell statt, und ist daher auch schon oberhalb des Existenzminimums spürbar", so Wolf weiter. Kulturelle Verluste fänden in vielen Formen ihren Ausdruck: "Etwa, wenn junge Menschen aus finanziellen Gründen auf Nachwuchs verzichten. Und wenn Eltern nicht das Geld haben, um eine Namensfeier für das Neugeborene auszurichten, spüren das nicht nur die Feiersprecher, sondern auch Familienangehörige und Freunde. Wenn immer mehr Alleinerziehende kaum über die Runden kommen, spüren das irgendwann auch die Tanzlehrerin oder der Fußballcoach. Wer als Bürgerin oder Bürger das Gefühl verliert, in existenziellen Nöten keinen politischen Rückhalt zu finden, verliert den Sinn für den Wert demokratischer Beteiligung. Menschen, die sich solidarisches Denken nicht leisten können, werden zugänglicher für nationalistische, fremdenfeindliche und andere inhumane Ideologien."

Relativierungsversuche gegenüber der Tatsache wachsender sozialer Ungleichheit seien konsequent in Frage zu stellen. "Es verzerrt den Blick auf die existierenden Armutsverhältnisse in grotesker Weise, an die katastrophale Situation in anderen Ländern zu erinnern. Armut herrscht nicht erst dort, wo es Menschen an ausreichend Mahlzeiten oder einer warmen Unterkunft fehlt. Teilhabe am sozialen Leben, Bildung und Verwirklichungschancen sind humanistische Maßstäbe zur Beurteilung des wirklichen Ausmaßes der sozialen Ungerechtigkeit."

Angesichts der Tatsache, dass die politischen Parteien allein zu einer Umkehrung der riesigen Spaltung nicht in der Lage seien, plädierte der Präsident des Humanistischen Verbandes für ein grundsätzliches Umdenken. "Wir müssen uns darüber klar werden, dass es des Aufbaus ganz breiter gesellschaftlicher und einschlägig wirksamer Bündnisse auf allen Ebenen bedarf, um die in Jahrzehnten gewachsenen extremen Missverhältnisse in ihrem Trend zu bremsen oder sogar zu verringern", sagte Wolf.

Kritik übte Frieder Otto Wolf hier an den beiden großen Kirchen in Deutschland. Diese würden ihren enormen Einfluss in den Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit bislang "nicht ausreichend in die richtige Richtung lenken".

Er appellierte schließlich an die Medien, ihre besondere Verantwortung gemeinsam mit dem humanistisch denkenden Teil der Zivilgesellschaft und unter Einbeziehung aller Glaubensrichtungen wahrzunehmen. "Die ausufernden Armutsverhältnisse bilden Quellen für zahlreiche andere offene Probleme und Konflikte, sowohl in Deutschland wie auch in anderen Staaten“, so Wolf dazu. Dies müsse im Interesse der ganzen Gesellschaft auch immer wieder deutlich werden. „Bei der Darstellung der Formen, des Ausmaßes, der Ursachen und Folgen von Armut und Ungleichheit darf es keine Tabus geben."

 


Pressemitteilung des Humanistischen Verbandes Deutschland