BERLIN. (hpd) Was tun? Die Aussichten in Großbritannien sind düster. Schottland und Nordirland könnten das Vereinigte Königreich verlassen. In England zeichnet sich ein Klassenkampf ab zwischen Jung und Alt, Groß- und Kleinstadt, Gewinnern und Verlieren der Globalisierung. Die Sieger der Volksabstimmung werden sich schnell verfeinden: die einen wollen ein modernes, dereguliertes Großbritannien, die anderen wollen zurück in die 1970er Jahre. Der Kampf wird nicht intellektuell ausgetragen werden.
David Cameron ist nur das erste Opfer. Das Pfund wird weiter verfallen, Investoren werden das Land meiden. Häuser werden zwar im Wert steigen, aber keine Abnehmer finden. Die Konservativen werden sich spalten, Labour ist bereits gespalten; UKIP wird, da die Partei ihr Ziel erreicht hat, sich radikalisieren müssen, um weiter eine politische Kraft zu bleiben: Ihre Zukunft liegt in einer milden Form des Faschismus, dem die Wirtschaftskrise mehr und mehr Menschen zutreiben wird. Großbritannien könnte in wenigen Jahren so aussehen wie Frankreich heute.
"Gott strafe England?" – Nein danke
Dieses – zugegeben – worst case scenario zeigt, was die Europäische Union jetzt tun muss. Alle "Gott strafe England!"- Impulse müssen unterdrückt werden, um Großbritannien – oder Klein-England – an die EU zu binden. Kommission, Rat und Parlament sollten sofort erklären, dass England selbstverständlich als privilegierter Partner ungehinderten Zugang zum gemeinsamen Markt hat, ganz gleich, wie die Verhandlungen auf anderen Gebieten laufen, zum Beispiel in Sachen freie Bewegung von Menschen.
Es gibt eine parteiübergreifende Denkrichtung in Deutschland, die gegen zu viele Konzessionen ist, weil das andere Länder ermutigen könnte, die Union zu verlassen und die Privilegien einzufordern, die England dann genießt. Wenn aber die Union nur durch Drohungen zusammengehalten werden kann, dann ist sie das Papier nicht wert, auf dem die Verträge stehen.
Ein Land wie Großbritannien, das angebliche europäische, in Wirklichkeit angelsächsische Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verkörpert, das Freihandel und Kapitalismus auf seine Fahnen schreibt, das eine finanzielle, wissenschaftliche und kulturelle Großmacht ist, mit Verbindungen in alle Welt, gehört mit allen Mitteln an die Union gebunden.
Klein-England und Klein-EU
Wird England mit Ausschluss bestraft, könnte die EU zu einem größeren Italien mutieren. Im Norden ein paar wirtschaftlich leistungsfähige Länder, umgeben von einem Mezzogiorno von Verlierernationen mit unsicheren demokratischen Traditionen, die sich an die Rockschöße der Nordstaaten heften, die Hand aufhalten und ihre Reformunfähigkeit mit der Drohung verteidigen, sie könnten ja die EU verlassen und sich etwa Russland anschließen, wenn die Hilfen ausbleiben. Griechenland ist nur das offensichtlichste Beispiel. Die bereits starke antieuropäische Stimmung in den Nordstaaten würde dadurch endgültig in die Lage versetzt werden, ein Referendum zu fordern und zu gewinnen.
Ach so, und die Türkei: Soll ruhig das Referendum durchführen, das Erdogan will. Votiert sie gegen die Mitgliedschaft, hat die Rest-EU ein Problem weniger. Votiert sie für die Mitgliedschaft, hat Erdogan ein Problem. Auch gut.
Das Klein-England der Kleinmutigen und Verbissenen hat den Sieg davongetragen. Vorerst. Europa sollte nicht mit ähnlichem Kleinmut und ähnlicher Verbissenheit reagieren.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autoren.
13 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das war vor allem ein Sehr Beispiel für volksverdummenden, populistischen Nationalismus; "wir wollen keine Experten mehr" u.ä.
Aber wer weiß - mit diesem Lehrstück in die Zukunft geschaut vllt. mit Irland und Schottland weiter. Offenbar wird mit einer Petition auch über einen Brexit-Exit nachgedacht; das Ding ist ja selbst nach EU-Vertrag nicht unumkehrbar.
Imre Korikov am Permanenter Link
Die EU ist als ademokratische, zentralistische, dirigistische und bürokratische Fehlkonstruktion eine Art sinkendes Schiff, dass die Engländer und Waliser klugerweise zu verlassen entschlossen haben.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Und nu mal konstruktiver, Imre: Was tun?
M.E.B. am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Posener,
in den meisten Punkten sehe ich die Lage der Dinge genauso wie Sie. Nur betreffend dem Großmachtstatus des Vereinigten Königreiches wage ich zu zweifeln. In kultureller Hinsicht ist es nicht mehr eine Großmacht als die anderen europäischen Staaten. Kultur findet ihren Weg über Grenzen hinweg. Die Finanz- und Wissenschaftswelt wird sich weiter nach Kontinentaleuropa verlegen, ansonsten sind die Schotten als Wissenschaftler sicherlich nicht zu unterschätzen, dies und die Ölreserven sollten in England eigentlich Angst vor einer Abspaltung der Kelten erzeugen. Das dies nicht wirklich der Fall ist, zeigt, wie wirklichkeitsfern die englische Debatte ist.
Ein Land, das sich nach der "guten alten Zei"t zurücksehnt, sollte die Folgen der Sucht nach Größe spüren und daraus lernen. Eine privilegierte Partnerschaft würde die "Little-England"-Mentalität nur bestärken.
Tobi am Permanenter Link
So schön einfach - ist es aber nicht. Die Menschen fühlen sich von einem neoliberalen Europa nicht mit genommen. Die Schere zwischen arm und reich geht immer mehr auseinander. Und wer profitiert?
Rainer Bolz am Permanenter Link
Ich gratuliere den Briten zum Auszritt, vielleicht überdenkt Brüssel mit seiner überdimensionalen Bürokratie jetzt ein wenig nach und handelt im Sinne der Bevölkerung.
Glücklicherweise haben wir unsere Reise im nächsten Jahr für die Insel schon gebucht, ich freue mich auf erlebnisreiche Pub Besuche mit ein paar Pind of Guinness.
Bislang war es immer vergnüglich und mir fällt kein Grund ein, dass sich das ändern wird.
Klaus Bernd am Permanenter Link
" Wenn aber die Union nur durch Drohungen zusammengehalten werden kann, dann ist sie das Papier nicht wert, auf dem die Verträge stehen."
Es ist da ein Tenor zu hören, dass GB der EU einen Denkzettel für Reformunwilligkeit verpasst habe; das gestehe ich aber nur denen zu, die
selbst konstruktiv mitgearbeitet haben und nicht denen, die immer nur ihre nationalstaatlichen Interessen in den Vordergrund stellten und stellen. Es ist eine Bewährungsprobe für die EU und sie kann den BREXIT durchaus zum Anlass nehmen, notwendig Reformen einzuleiten;
wie z.B. unsinnige Regelungen und Subventionen abzuschaffen. Ich warne aber davor, dass sich D in eine einsame Führungsrolle drängen
lässt, es muss vor allem eine breite gemeinsame Basis geben. Sonst
sind wir anschließend wieder der Buhmann.
Matt am Permanenter Link
Ich kann Ihnen in vielen Teilen zustimmen.
Was tun? Die Aussichten in Großbritannien sind düster.
Schottland und Nordirland SOLLten das Vereinigte Königreich verlassen, sie sind in der EU gern gesehen. In England zeichnet sich ein Klassenkampf ab zwischen Jung und Alt, Groß- und Kleinstadt, Gewinnern und Verlieren der Globalisierung. Nicht nur in England, auch in Deutschland. Alt und besitzstandswahrend gegen alt und arm bzw. jung und arm, ostdeutsche Provinz gegen gesamtdeutsche Metropolen. Die Sieger der Volksabstimmung werden sich schnell verfeinden: die einen wollen ein modernes, dereguliertes Großbritannien, die anderen wollen zurück in die 1970er Jahre ->oder anders formuliert „AfD“ gegen „Die Linke“. Der Kampf wird nicht intellektuell ausgetragen werden, jedenfalls bei der AfD nicht, mangels Masse.
David Cameron ist nur das erste Opfer. Das Pfund wird weiter verfallen, Investoren werden das Land meiden. Häuser werden zwar im Wert steigen, aber keine Abnehmer finden. Die Konservativen werden sich spalten, Labour ist bereits gespalten; UKIP wird, da die Partei ihr Ziel erreicht hat, sich radikalisieren müssen, um weiter eine politische Kraft zu bleiben: Ihre Zukunft liegt in einer milden Form des Faschismus (so wie in dem Film „V wie Vendetta“: „England obsiegt!“ ?) und was zum Henker ist „milde Form des Faschismus“? Ausländer nur in die Nordsee werfen oder den Regierungschef weiterhin „Premierminister“ statt „Führer“ zu nennen? Großbritannien könnte in wenigen Jahren so aussehen wie Frankreich heute. Heißt das, in Frankreich herrscht schon heute eine milde Form des Faschismus? Ist Le Pen schon an der Macht? Hab‘ ich was verpasst?
"Gott strafe England?" – Ja, in angemessener Weise
Dieses – zugegeben – worst case scenario zeigt, was die Europäische Union jetzt tun muss. Alle "Gott strafe England!"- Impulse müssen unterdrückt werden, um Großbritannien – oder Klein-England – an die EU zu binden. Sie wollen es zu 51% nicht, also sollten wir es ihnen auch nicht aufoktroyieren. Kommission, Rat und Parlament sollten sofort erklären, dass England selbstverständlich als privilegierter Partner ungehinderten Zugang zum gemeinsamen Markt hat, ganz gleich, wie die Verhandlungen auf anderen Gebieten laufen, zum Beispiel in Sachen freie Bewegung von Menschen.
Nein, genau das nicht. Entweder man ist im Club und hat uneingeschränkten Zutritt zu Clubanlage oder man ist Gast und zahlt den Gästebeitrag inkl. Zollabgaben. Rosinenpicken is‘ nich‘. Man ist entweder dabei, zahlt seinen Obolus und profitiert oder man ist draussen und geht seiner eigenen Wege.
Es gibt eine parteiübergreifende Denkrichtung in Deutschland, die gegen zu viele Konzessionen ist, weil das andere Länder ermutigen könnte, die Union zu verlassen und die Privilegien einzufordern, die England dann genießt. Allein, dass sie parteiübergreifend ist, ist ja fast schon ein Beleg dafür, dass dort Menschen – ohne parteipolitische Scheuklappen – mal scharf nachgedacht haben. Wenn aber die Union nur durch Drohungen zusammengehalten werden kann, dann ist sie das Papier nicht wert, auf dem die Verträge stehen. Bullshit! Wenn der Club sich Regularien gibt, die der Vorstand im Namen des Vereins vertritt, dann können und sollen einzelne Mitglieder gerne gehen. Diese Regularien sind nicht Gottgegeben und die Mitglieder können sie jederzeit neu verhandeln und zwar diesmal explizit ohne Sonderlocken für einzelne Clubmitglieder. Drin ist drin, draussen ist draussen.
Ein Land wie Großbritannien, das angebliche europäische, in Wirklichkeit angelsächsische Werte (!!! Mit drei Ausrufezeichen) wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verkörpert, das Freihandel und Kapitalismus auf seine Fahnen schreibt, das eine finanzielle, wissenschaftliche und kulturelle Großmacht ist, mit Verbindungen in alle Welt, gehört mit allen Mitteln an die Union gebunden. Nein, nein, nein und nochmals nein. Entweder sie wollen es oder sie lassen es. Die EU kann auch hervorragende Geschäfte mit China machen ohne dass es „mit allen Mitteln an die Union gebunden“ wird.
Klein-England und Klein-EU
Wird England mit Ausschluss bestraft („Bullshit, sie können nicht mit Ausschluss BESTRAFT werden, sie sind bereits ausgetreten, die Frist läuft und es muss nur noch lediglich Papier unterschrieben werden“) , könnte die EU zu einem größeren Italien mutieren. Im Norden ein paar wirtschaftlich leistungsfähige Länder, umgeben von einem Mezzogiorno von Verlierernationen mit unsicheren demokratischen Traditionen, die sich an die Rockschöße der Nordstaaten heften, die Hand aufhalten und ihre Reformunfähigkeit mit der Drohung verteidigen, sie könnten ja die EU verlassen und sich etwa Russland anschließen, wenn die Hilfen ausbleiben. Und genau deswegen, genau deswegen muss man diesen Ländern klar machen, „Ja, ihr seid souverän, ja ihr könnt jederzeit gehen, aber es gibt keine Blumen zum Abschied und die Rechnung wird so oder so zugestellt und ggf. eingetrieben.“ Griechenland ist nur das offensichtlichste Beispiel. Die bereits starke antieuropäische Stimmung in den Nordstaaten würde dadurch endgültig in die Lage versetzt werden, ein Referendum zu fordern und zu gewinnen. Genau, noch mehr Angsthasen und Idioten, die augenblickliche unschöne Auswüchse als Anlass nehmen, das Kinde mit dem Bade auszuschütten.
Ach so, und die Türkei: Soll ruhig das Referendum durchführen, das Erdogan will. Votiert sie gegen die Mitgliedschaft, hat die Rest-EU ein Problem weniger. Votiert sie für die Mitgliedschaft, hat Erdogan ein Problem. Auch gut. Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Im zweiten Fall wäre dann nur noch zu klären, ob der Beitritt der Türkei vor oder nach dem (Wieder-)Beitritt von „Klein England“ erfolgen wird und beides vor oder nach der nächsten Eiszeit erfolgt. Gemeint ist hier eine erdgeschichtliche Eiszeit, keine politische!
Das Klein-England der Kleinmutigen und Verbissenen hat den Sieg davongetragen. Vorerst. Europa sollte nicht mit ähnlichem Kleinmut und ähnlicher Verbissenheit reagieren.
Wieso Reagieren, die Kleinmütigen und Verbissenen agieren doch schon längst, bei uns heißen sie „Pegida“ und „AfD“.
Peter Menne am Permanenter Link
Schade, wie die Engländer sich entschieden haben - darin sind wir uns einig. Ansonsten stellt der Kommentar die falschen Fragen. Denn sehr vielen Menschen geht es wir mir: klar pro Europa - aber nicht dieses Europa.
Fehlender direktdemokratischer Einfluß: das ist das Thema. Wie wird Europa attraktiv nicht für "die Wirtschaft", sondern für seinen Souverän? Englands Austritt gibt Gelegenheit, das zu überdenken. Gelegenheit, das kulturelle, demokratische, politische Europa zu vertiefen.
Wenn Posener den Focus auf Markt & Marktzugang legt: damit hatte die EU als EWG angefangen. Das hatte sie ausgebaut - ohne die Menschen mitzunehmen. Ohne deutlich zu machen, welche Vorteile sich für Otto Normalbürger ergeben. Weiter wie bisher? Oder angesichts der Müdigkeit über diese europäischen Institutionen überlegen, wie wir zu einem demokratischeren, bürgernäheren kommen?
Frank Linnhoff am Permanenter Link
Wir werden sehen, ob die in 4 Monaten neu gewählte Regierung den Austritt Großbritanniens tatsächlich in die Wege leiten wird; denn sie muss es nicht. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
"Großbritannien könnte in wenigen Jahren so aussehen wie Frankreich heute." Das, Herr Posener, wird wohl ein frommer Wunsch bleiben.
Dieter Bauer am Permanenter Link
Ein Ausscheiden des "Herrenclubs" öffnet den der Gemeinschaft sich verpflichtet fühlenden und vorausschauend Wirkenden den Weg in ein wirkliches und zukunftsfähiges Gemeinwesen ohne Bremser.
valtental am Permanenter Link
Ich frage mich immer, wieso für so viele die EU als positiv gesetzt gilt, ohne dass dies kritisch geprüft wird? Die EU ist m.E.
Man sollte einfach mal öfter und präzise zwischen der Institution EU und Europa unterscheiden. Kritiker oder gar Gegner der EU sind nicht automatisch Anti-Europäer, auch wenn dies politisch und medial ohne Unterlass suggeriert wird.
Die EU ist das Machtinstrument zur Verteidigung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung gegen alternative Politik, bzw. deren Ausbau wie mit TTIP und Ceta. Und dies eindeutig zu Lasten von Gemeinwohl und Demokratie.
Dieses kritiklose Positiv-Setzen der EU bleibt mir ein Rätsel, genau wie die Hoffnung auf deren Wandel solange sie sich im festen Griff der Neoliberalen, allen voran der EZB befindet, die mal schnell Bankautomaten abstellt, wenn eine Regierung es wagt, vom marktradikalen Kurs abzuweichen.
Ich bereue es mittlerweile, diese EU bei der letzten Europawahl noch mit meiner Stimme legitimiert zu haben.
Kay Krause am Permanenter Link
Mr. Cameron hat - wohl aus parteiinternen Querelen heraus - eine Volksabstimmung angezettelt. Das Ergebnis, mit dem er und wohl viele Tommies nicht gerechnet haben, zeigt ihm, dass das leichtsinnig war.
Der Nachteil bei Volksbefragungen ist, dass der Wähler in der Regel nur zwei Möglichkeiten zur Abstimmung Hat, nämlich "JA" oder "NEIN".
Hätte es eine dritte Möglichkeit gegeben, z.B. "Europa JA, aber bürgernäher", hätte die Abstimmung sicherlich anders ausgesehen!
Die Menschen regen sich zu recht auf, wenn in Brüssel entschieden wird, welche Glühbirnen wir gefälligst zu verwenden haben, und wie lang, dick und krumm Gurken sein dürfen / müssen. (u.s.w. - u.s.w.)
Nebenbei bemerkt: ein solches "Aufwachen" wünsche ich auch den Wählern, die (aus verständlichem Protest gegen die etablierten Parteien)
die AfD gewählt haben. Wehret den Anfängen!!!