Frauen auf der gesamten Welt sind durch die Disruptionen im Gesundheits- und Transportwesen nicht mehr zuverlässig in der Lage, elementare medizinische Dienste wahrzunehmen. Dies zeigt ein aktueller Bericht von Marie Stopes International. Die Nichtregierungsorganisation erwartet 1,5 Millionen zusätzliche unsichere Schwangerschaftsabbrüche und über 3.000 zusätzliche Muttertode in den Regionen, in denen sie tätig ist. Frauen in Indien sind aufgrund chaotischer Ausgangs- und Straßensperren am schwersten betroffen.
Marie Stopes International (MSI) ist eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit Sitz im Vereinigten Königreich, die in 37 Ländern Dienste in Sachen Frauengesundheit anbietet. Diese unter dem Schlagwort "Sexual and Reproductive Health and Rights" (SRHR) zusammengefassten Dienstleistungen beginnen bei proaktiver Familienplanung durch Bereitstellung verschiedener Verhütungsmittel und reichen über sichere Abtreibungen, sichere Geburten und postnatale Pflege hin zu Rechtsberatungen bei häuslicher Gewalt.
Für den Report "Belastbarkeit, Anpassung, Handlungsbereitschaft" wurden jeweils 1.000 Frauen zwischen 16 und 50 Jahren im Vereinigten Königreich, in Südafrika und in Indien befragt. Im ersten Halbjahr 2020 begleitete MSI knapp zwei Millionen Klientinnen weniger als in der Vorausberechnung. Allein in Indien wurden 1,3 Millionen Frauen weniger betreut als erwartet. Der Rückgang ist damit weniger drastisch als zunächst befürchtet.
Dies führt laut MSI jedoch zu mindestens 1,5 Millionen zusätzlichen unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen, zwei Drittel hiervon sind in Indien zu erwarten. Von 900.000 zusätzlichen ungewollten Schwangerschaften werden 650.000 in Indien verortet. MSI rechnet mit 3.100 zusätzlichen Muttertoden durch verschlechterte medizinische Bedingungen, in der Prognose entfallen hiervon ganze 2.600 auf Indien.
"Die Bedürfnisse von Frauen verschwinden in einer Notsituation nicht plötzlich, sie werden noch größer", kommentiert Dr. Rashmi Ardey, Direktor eines der beiden MSI-Programme in Indien, den Bericht. "Als Arzt habe ich oft genug gesehen, zu welchen drastischen Maßnahmen Frauen und Mädchen greifen müssen, wenn sie nicht in der Lage sind, sich auf Verhütungsmittel und sichere Abtreibungen zu verlassen."
Frauen in allen drei Ländern bezeugen große Unsicherheit hinsichtlich der Frage, wie sie Zugang zu Verhütungsmitteln und Schwangerschaftsabbrüchen erhalten sollen. In Südafrika und Indien geben nur knapp über 40 Prozent der Frauen an, dass private Kliniken in ihrer Region während der Pandemie Abtreibungen durchführen. Im Vereinigten Königreich gibt das lediglich jede fünfte Frau an. Fast jede dritte Befragte in Indien und jede vierte in Südafrika sagt außerdem, sie könne aufgrund des Infektionsrisikos keine Verhütungsmittel beschaffen.
Fast jede dritte Frau in Indien, die zum Zeitpunkt der Befragung abtreiben wollte, berichtet, dass sämtliche Kliniken in ihrer Region geschlossen waren. Weitere neun Prozent geben an, mindestens fünf Wochen auf einen ersten Termin warten zu müssen.
Eine Frage von Erreichbarkeit der Einstufung als "essenzieller Dienst"
Eine kritische Frage ist, ob Abtreibungskliniken während einer Pandemie als "essenzielle Dienste" klassifiziert sind. Die WHO hatte bereits Ende März dazu aufgerufen und entsprechende Hilfestellungen angeboten.
Problematisch ist außerdem, dass viele Frauen Apotheken und Kliniken gar nicht erreichen können. Nicht, wenn das Transportwesen zusammenbricht, unkoordiniert Ausgangssperren verhängt werden oder lokale Behörden unzureichend informiert sind. So hat Indien Abtreibungen zwar als essenziell eingestuft, es bestehen allerdings immense logistische Schwierigkeiten.
Dementsprechend flexibel muss die Arbeit von NGOs wie Marie Stopes International sein. In Uganda beispielsweise ermöglicht eine Kooperation mit SafeBoda, einer Art lokalem Uber, die Lieferung von Verhütungsmitteln per Motorrad. In Zimbabwe wiederum wurden die Dienste von Marie Stopes in das landesweite Impfprogramm integriert.
In Nepal, wo der strikte Lockdown erschütternde Effekte auf die Gesundheit von Frauen und Neugeborenen hatte, erhielt MSI eine Sondergenehmigung, um Abtreibungen und postnatale Pflege bei den Patientinnen vor Ort anzubieten.
Im Vereinigten Königreich ging die NGO einen anderen Weg. Per telemedizinischer Konsultationen wurden seit April über 7.000 Frauen bei medikamentösen Abtreibungen begleitet. Eine 2019 veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass auf diese Weise durchgeführte medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche ebenso sicher sind wie in einer entsprechenden Klinik.
Telemedizin als Lösung?
98 Prozent der Frauen bewerten die telemedizinische Versorgung durch MSI als "gut" oder "sehr gut". Man hofft, entsprechende Angebote zeitnah auch in Indien, Südafrika und Nepal bereitstellen zu können.
"Es kostet etwa drei Cent pro Tag, eine junge Frau vor einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen", schreibt Simon Cooke, CEO von MSI, und ruft die Weltgemeinschaft damit auf, die Unterstützung für essenzielle Dienste der Frauengesundheit nicht versiegen zu lassen.
Nicht nur müsse der Zugang zu Verhütung und sicheren Abtreibungen sowohl auf nationaler wie auch auf lokaler Ebene eindeutig als "essenziell" definiert werden, auch sollten Staaten, gerade im Hinblick auf die Infektionsgefahr, unnötige Hürden wie die Rezeptpflicht bei Verhütungsmitteln oder die verpflichtende Mehrfachkonsultation bei einem Abtreibungswunsch abschaffen. Cooke: "[Wir haben die] Gelegenheit, diese Situation als Katalysator zu nutzen, unsere Dienste zu flexibilisieren und das Leben von Frauen so zu verbessern."