Interview

"Mir ist deutlich geworden, warum das Erzbistum dieses Gutachten in der Schublade halten will"

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Kölner Dom bei Nacht

Vergangene Woche stellte der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in seinem Bistum vor. Es war die zweite Untersuchung, die er dazu in Auftrag gab, ein erstes Gutachten hatte er wegen "methodischer Mängel" über Monate zurückgehalten. Nun konnten Betroffene erstmals Einblick in das zuerst erstellte Dokument werfen, einer von ihnen ist Karl Haucke. Der hpd hat mit ihm gesprochen.

hpd: Herr Haucke, Sie konnten nun als einer der Ersten das unveröffentlichte Gutachten der Kanzlei Westpfahl-Spilker-Wastl (WSW) einsehen. Wie lief das ab?

Karl Haucke: Bei einem Gutachten, das nicht veröffentlicht werden soll, ist es klar, dass keine Kameras oder Handys mitgenommen werden sollen, das hat ja vielleicht auch seinen Sinn. Ich durfte nur Block und Stift mitbringen. Aber es war schon etwas seltsam anmutend, dass wir da saßen wie zu der Zeit, als ich Internatsschüler war. Nachmittags gab es immer eine Hausaufgabenaufsicht und so saßen wir auch in diesem Raum. Es saß jemand vorne, der offensichtlich dafür zuständig war, uns zu beaufsichtigen. Für die Einsicht haben wir zwei Stunden bekommen. Vorher habe ich eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Demnach dürfen wir nicht aus dem Gutachten zitieren. Es war auch zunächst nicht klar, ob wir sofort hinterher Interviews geben dürfen. Das haben Journalisten dann mit der Pressestelle des Erzbistums geklärt.

Was war Ihr Eindruck von dem unveröffentlichten Gutachten?

Mir ist deutlich geworden, warum das Erzbistum dieses Gutachten in der Schublade halten will: Es ist zu gut. Zu opferorientiert. Es hat sich – im Gegensatz zu dem der Kanzlei Gercke-Wollschläger – nicht mit ariel-klinisch-sauberen Rechtspositionen zufriedengegeben. Zu diesen hätte ich ohnehin noch einen Rechtsversteher befragen müssen. Das WSW-Gutachen hat sich auch Bewertungen erlaubt. Ich habe immer gesagt, Rechtssicherheit ist nicht mein Kriterium. Da ich niemanden vor den Richter zerren wollte, ist mir die Einordnung vor dem Hintergrund kirchlichen Selbstverständnisses wichtiger.

Karl Haucke trat im Zuge der Nichtveröffentlichung des Missbrauchsgutachtens im November 2020 nach Patrick Bauer als zweiter Sprecher des "Beirats von Betroffenen sexualisierter Gewalt beim Erzbistum Köln" zurück. Er ist Mitglied im Verein MoJoRed – Missbrauchsopfer-Josephinum-Redemptoristen.

Was macht man, wenn man nur zwei Stunden Zeit hat? Was haben Sie sich angeschaut? Wie beurteilen Sie dieses begrenzte Zeitfenster?

Das Gutachten von Westpfahl-Spilker-Wastl hat insgesamt 509 Seiten. Ich bin Qualitätsauditor, als solcher ist man eine solche Arbeitsform ein wenig gewohnt, das hat mir sehr geholfen. Ich habe mir zunächst das Inhaltsverzeichnis angeguckt und habe mir dort spezielle Kapitel vorgemerkt, dann habe ich mir die Zusammenfassung angeschaut – das ist eine Seite etwa – und dann habe ich mir den Appendix angesehen, weil es durchaus üblich ist, ganz spannende Sachen in den Anhängen zu verstecken. Man kann – auch wenn man nur ganz wenige Stellen findet innerhalb von zwei Stunden – nicht alles, was einem wichtig ist, auswendig lernen, aber man kann sich Stichworte aufschreiben.

Und was haben Sie sich aufgeschrieben?

Mir sind ein paar Einzelheiten aufgefallen: Tätern wurde grundsätzlich eher geglaubt als Opfern. Bis 2010 hat (in 149 Fällen) kein einziger Täter Sanktionen erfahren. Es gab ein vollständiges Desinteresse an den Betroffenen. Es gab keine Hilfsangebote für Betroffene. Die Studien zum Thema aus anderen Ländern haben niemanden interessiert.

Was ist ihr Fazit, nachdem Sie nun beide Gutachten kennen?

Es ist gut, dass es jetzt Gutachten gibt, auf deren Basis die Aufarbeitung sexueller Gewalt im Erzbistum beginnen kann. Beide Gutachten berichten über ein System der Eiseskälte. Die Ergebnisse des Gercke-Gutachtens und des WSW-Gutachtens laufen auf das Gleiche hinaus: Täterschutz geht vor Opferschutz. Außerdem herrscht absolute Empathielosigkeit für die Opfer vor. Das WSW-Gutachten traut sich aber, den juristischen Jargon zu verlassen und wenigstens auf einigen Seiten den moralischen Anspruch zurückzugeben, den die Kirche immer vor sich her trägt. Deshalb ist es sehr, sehr unbequem, vor allem, wenn es von systemischen Ursachen spricht, dem Zölibat zum Beispiel.

Karl Haucke
Karl Haucke (Foto: privat)

Wie beurteilen Sie das Vorgehen von Herrn Woelki?

Mein Eindruck gipfelt in der Fragestellung: Warum dieses ganze Theater vorher? Da ich aufgrund des mehrfachen Vertrauensbruches nicht mit ihm darüber sprechen werde, kann ich natürlich nur Vermutungen hegen. Das tue ich auf Grundlage der Anhänge, in denen die Personen vorkommen, gegen die es auch schon Ahndungen seitens des Erzbistums gab. Ich habe deren Stellungnahmen verfolgt, die im Gercke-Gutachten ja auch als diejenigen mit den Pflichtverletzungen benannt worden sind. Genau diese Pflichtverletzungen haben meiner Ansicht nach dazu geführt – also das ist tatsächlich eine Spekulation –, dass die Leute, die äußerungsrechtliche Schwierigkeiten gesehen haben, auch mit ihren Anwälten dafür gesorgt hätten, dieses Ding überhaupt nicht zu publizieren. Es mag sein, dass Herr Woelki da eine große Not hatte und deshalb gesagt hat: "Wenn dieses Münchener Gutachten dazu führt, dass gar nichts veröffentlicht wird, dann nehme ich lieber den anderen Weg und dann nehme ich das ganze Theater in Kauf."

Heißt das, Sie haben Verständnis dafür, wie er gehandelt hat?

Nein. Ich habe für zwei Dinge kein Verständnis: Für die Art und Weise, wie er uns im Betroffenenbeirat instrumentalisiert hat. Er hätte sich das Gütesiegel "mit dem Beirat abgestimmt" nicht erschleichen müssen. Er hätte mir nicht verheimlichen müssen, dass er einen neuen Gutachtenauftrag schon bereits vor Wochen erteilt hat. Er hätte bereits im März 2020 sagen können: "Lieber Betroffenenbeirat, mir ist ein neues Gutachten lieber, als mich von meinen Kollegen zur Geheimhaltung des jetzigen erpressen zu lassen."

Das zweite ist: Das Gercke-Gutachten folgt rein formalen Kriterien und betrachtet nur Rechtspositionen. Allerdings – Recht muss immer legitimiert sein durch die Ethik der menschlichen Gemeinschaft, für die es gilt.  Insofern ist die Systematik, moralische Einschätzungen völlig außen vor zu lassen, sehr fragwürdig. Aber sie ermöglicht Herrn Woelki eine umfassende Distanzierung von moralischer Verantwortung. Ich bin der Meinung, dass er viel mitbekommen hat von all den Dingen. Er spricht ja selbst von den Dienstbesprechungen mit nebulösen Formulierungen über Täter. Warum hat er nie nachgefragt? Es ist unglaubwürdig, dass er nichts gewusst haben soll. Insofern könnte er heute in moralischer Hinsicht auftreten und sagen: "Ja, das waren unsere Vorgehensweisen damals. Und weil ich jemand bin, der immer Moral predigt, muss ich jetzt auch eine Moralpredigt gegen mich selbst richten; ich trage einen Teil der moralischen Verantwortung."

Einen Rücktritt lehnt der Kardinal ab. Dafür hat er jedem Betroffenen ein persönliches Gespräch angeboten. Was halten Sie davon?

Ich habe nie seinen Rücktritt gefordert. Ich habe Verantwortungsübernahme gefordert. Die Arbeit, das dann operativ zu bewältigen, kann ich ihm nicht auch noch abnehmen. Das persönliche Gespräch mag passend sein für diejenigen, die in den Schoß der Kirche zurück wollen. Das ist jedes Menschen gutes Recht. Ich wünsche jedem, der diesen Weg geht, seine Befriedung. Ich werde dieses Recht nicht wahrnehmen.

Seit gestern bis zum 1. April kann jede interessierte Person Einsicht in beide Gutachten nehmen. Dafür ist eine Anmeldung beim Erzbistum Köln notwendig.

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