Anmerkungen zur Tagung "Digitale Selbstbestimmung" der Humanistischen Akademie

Müdigkeit und digitale Selbstbestimmung

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Der Autor am Rednerpult
Der Autor am Rednerpult

Ende April lud die Humanistische Akademie Berlin-Brandenburg zu einer Tagung ein, die sich mit Themen der Digitalen Selbstbestimmung auseinandersetzte. Der hpd veröffentlicht den Bericht, der bereits vor drei Wochen auf der Webseite der Akademie erschienen ist, wegen seiner Relevanz ebenfalls.

"Bin ich eigentlich gerade online?" fragte sich Rainer Rehak vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung während seines Vortrages und schaute auch gleich mal nach. Er illustrierte auf diese Weise seine These und die seiner Mitstreiterin Petra Pseudonym vom Chaos Computer Club Berlin, dass wir mit unserem herkömmlichen Verständnis von Selbstbestimmung in Zeiten von Vernetzung womöglich an Grenzen kommen und ganz neu denken müssten. Dies konvergiert mit der philosophischen Einsicht, dass Selbstbestimmung sinnvoll nicht als die unbedingte eines losgelösten autonomen Subjekts gedacht werden kann, sondern immer nur als eine bedingte in einem konkreten sozialen Umfeld. Embedded durch Vernetzung und Sozialität: Was kein Grund ist, das Streben nach Selbstbestimmung zu verabschieden, sondern einer für ein weniger idealistisches, abgerüstetes Verständnis dieses humanistischen Zentralbegriffs.

Begriffsklärungen, so wurde in den Debatten der Tagung deutlich, sind keineswegs eitle philosophische Selbstbeschäftigungen. Wir brauchen Begriffe auch nicht nur, um etwas zu verstehen, sondern vor allem, um etwas bewerten zu können. Begriffe sind normative Folien, mit der die Praxis – individuelle Verhaltensweisen, gesellschaftliche Verhältnisse – beurteilt werden kann. Ist der permanente Griff zum Smartphone selbstbestimmt oder eine durch social media verursachte Zwanghaftigkeit und damit Fremdbestimmung? Kann in einer digitalen Gesellschaft noch von Selbstbestimmung die Rede sein, wenn man Nachteile durch Nutzungsverweigerung zu befürchten hat? Für die Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen benötigt man ein zumindest halbwegs geklärtes Verständnis von Selbstbestimmung: Sind Wünsche oder Gründe die Grundlage für Selbstbestimmung? Verhindert Selbsttäuschung Selbstbestimmung? Welches Maß an Wahlmöglichkeiten muss es im sozialen Umfeld geben, damit Selbstbestimmung möglich ist?

Die Fragen zeigen schon an, dass – anders als nicht selten auch von Humanistinnen und Humanisten suggeriert – Selbstbestimmung kein einfaches Konzept, keine Selbstverständlichkeit und im Alltag mitnichten leicht umsetzbar ist. Ein zeitgenössisches humanistisches Verständnis sollte daher ein umfassendes Verständnis von personaler Selbstbestimmung entwickeln und sich nicht auf moralische Autonomie reduzieren: Themen wie "Achtung des Anderen" und "soziale Verantwortung" können in einen solchen Rahmen integriert werden. Den meisten von uns ist die Selbstbestimmung des anderen keineswegs gleichgültig und sie würden jemanden merkwürdig finden, der behauptet: "Ich bin für Selbstbestimmung, aber nur meine eigene". Und wenn ich nicht die Selbstbestimmung des anderen achte, dann gehe ich die Gefahr ein, dass auch die anderen meine Selbstbestimmung nicht achten, d.h. ich gefährde damit meine Selbstbestimmung. Handelt also jemand, der ein Mobbingvideo postet, deshalb nicht wirklich selbstbestimmt, weil er die Grundlagen für seine eigene zukünftige Selbstbestimmung unterminiert?

Angesichts der ganz normalen Verstrickungen unseres Alltagslebens ist nicht von der Idylle eines selbstbestimmten Lebens auszugehen, sondern von einem Spannungsverhältnis: Wir haben einerseits zumeist den Anspruch und das Selbstverständnis, ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu wollen, und anderseits erleben wir im Alltag Schwierigkeiten und Hindernisse, die Grund genug für Zweifel geben, inwieweit Selbstbestimmung überhaupt möglich ist. Denn schließlich passieren uns Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben und die unsere Wünsche durchkreuzen. Oftmals ist es schwer, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und umzusetzen: Unsicherheiten in Bezug auf die authentisch-eigenen Wünsche sind nichts Exotisches. Selbstbestimmung findet immer schon in einem sozialen Umfeld statt, in dem es auch bestimmte Verpflichtungen gibt, und es gibt gesellschaftliche Bedingungen, die Selbstbestimmung erschweren oder verhindern können. Dieses Spannungsverhältnis grundiert auch die Debatten um digitale Selbstbestimmung.

Im Netz gebe es keine Nacht, social media konkurrierten mit dem Schlaf, so Rainer Rehak. Mit der Formel "permanently online, permanently connected" brachte Christof Klimmt von der Hochschule für Musik, Theater und Medien aus Hannover diesen Umstand auf den Punkt. Er vermeid dabei wohltuend jeden pauschalen Kultur- und Technikpessimismus und analysierte nüchtern die Vor- und Nachteile der Netzmenschenexistenz. Hier kann man sicherlich auch einen deutlich kritischeren Akzent setzen. Die Zwangsverhältnisse der "Müdigkeitsgesellschaft" intensivieren sich durch Digitalisierung weiter: Leistungsdruck, Reizüberflutung, Beschleunigung, Selbstoptimierung, und für alles sind wir immer ausschließlich selbst verantwortlich. Müde macht nicht nur die zunehmende Verdrängung der Nacht, sondern schon der ganz normale digitale Tag: enorme wechselseitige Kommunikationserwartungen in Bezug auf Häufigkeit und Schnelligkeit; alle news sind zu überprüfen, sind sie fake oder wahr; die jeweiligen Nutzungsbedingungen sollte man besser auch mal lesen; man kann auf den Plattformen Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre vornehmen, auch wenn sie nach jedem Update verschwinden und neu gemacht werden müssen.

Digitale Selbstbestimmung erfordert die Entwicklung digitaler Kompetenzen, so ein Tenor der Tagung. Besonders auffällig sei das Missverhältnis von ausgeprägten Nutzungskompetenzen einerseits und mangelnden Reflexionskompetenzen andererseits. Natürlich ist das nicht falsch. Aber trotzdem: welche Kompetenzen denn noch? Wir haben uns an ausufernde Kompetenzforderungen gewöhnt: Soziale Kompetenzen, emotionale Kompetenzen, kommunikative Kompetenzen, interkulturelle Kompetenzen und so weiter und so fort, jetzt eben digitale Kompetenzen. Hier wird an den Leistungs- und Belastungsschrauben gedreht bis der Arzt kommt. Ich hoffe auf digitales Doping oder schöner: enhancement.

Was ist digitale Dissidenz? Die Dissidenten, das waren zunächst die Protestanten, Abweichler vom römisch-katholischen Glauben, später dann auch die evangelischen und katholischen Freireligiösen, schließlich die sich von der Religion ganz abwendenden Freidenker, Atheisten und Humanisten. Zur Freiheit in der Religion kam die Freiheit von der Religion hinzu, ohne dass dies lächerlich war. Gilt dies auf für digitale Dissidenz? Gibt es heute nur noch eine Dissidenz innerhalb des Digitalen oder auch eine Freiheit vom Digitalen ohne altbackenes Antlitz? Angesichts der Netzdevise "alle Probleme lassen sich lösen", die geringe Frustrationstoleranzen für unseren Umgang mit Rückschlägen antrainiert, könnte man bewusst erfundene oder wirkliche Misserfolge posten sowie sein ekliges Essen fotografieren. Aber kann man auch noch ganz "raus"?

Zu den vielgehörten Bonmots in der digitalen Gesellschaft gehört jenes von der Technik, die an sich weder gut noch schlecht sei, denn es komme nur darauf an, sie richtig – z.B. selbstbestimmt – zu nutzen. Auf der Tagung blieb diese Perspektive nicht unwidersprochen: Digitale Medien legten nahe, dass man sie benutzt – anstelle einer analogen Alternative – und wie man sie benutzt – eher flott, intensiv und gewohnheitsmäßig als nun gerade langsam, dezent und reflektierend. Zu befürchten ist, dass unser Wahrnehmen, Denken, Handeln und Zusammenleben auf einer Ebene unterhalb bewusster Entscheidungen geprägt wird, ohne gänzlich in der Reflexion eingeholt werden zu können. Was eine echte Herausforderung für den Wunsch nach digitaler Selbstbestimmung wäre: Mit Dunkelheit leben.

Sowohl unserer Selbstbestimmung als auch der sich ausbreitenden Erschöpfung nicht abträglich wäre sicherlich die Reduktion und Evaluierung digitaler Angebote. Jon Worth, politischer Blogger und Journalist, plädierte für die journalistische Regel, sich nur zu Themen zu äußern, über die man auch Bescheid weiß, und forderte Gütesigel für Digitales analog zu Fairtrade oder Energieverbrauchsangaben.

Die Beiträge der Referenten und Gäste signalisierten insgesamt vor allem die Bereitschaft, sich der Komplexität der Themen zu stellen. Bei aller berechtigten Kritik an der Herrschaft der Algorithmen durfte dann z.B. auch der Hinweis auf die enorme und von vielen gewollte Zeitersparnis durch den profilgeleiteten Auswurf von Sucherergebnissen nicht fehlen. Auch der aktuelle sogenannte "Daten-Skandal" von Facebook war Anlass für Ausführungen zu einem "Überwachungskapitalismus" wie auch zu der Diagnose, dass man die Bedeutung gewisser Daten auch übertreiben könne. Und so kann auch die durch die Digitalisierung vorangetriebene Ermüdung und Erschöpfung noch einmal anders betrachtet werden. Denn die Müdigkeit unterbricht das permanente, quasi-automatische Aktivsein und die reine Selbstbezüglichkeit der Ich-AGs. Müde werden: Ein "Wegklappen" der angespannten Fixierung auf die nur eigenen Projekte. Wäre nicht dieser Raum zu füllen mit gemeinsamen Erfahrungen des Müdeseins, diesseits von Leistungswahn und Selbstinszenierung?