10 Jahre Patientenverfügungsgesetz

Patientenverfügung: Eine bittere Bilanz im Krisenfall

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Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist sehr wichtig um den Patientenwillen zu dokumentieren.
Kommunikation zwischen Arzt und Patient

Zehn Jahre sind es her, seit der Bundestag die Patientenverfügung zivilrechtlich geregelt hat. Doch deren Wirksamkeit scheitert ausgerechnet im klinischen Akut- und Notfall, was Angehörige erleben müssen und neuere Studien bestätigen. Grund sind standardisierte Situationsbeschreibungen, welche diesen nicht erfassen. Abgesehen davon mangelt es organisatorisch an einer Verankerung der Patientenautonomie in routiniertes pflegerisches und medizinisches Entscheiden.

Sehr lange zuvor hatten Juristen, Politiker, Mediziner, Kirchen, humanistische Verbände, Patientenvertreter und Verbraucherschützer um die Frage gerungen: Wann muss bei (meist schwerstkranken) PatientInnen eine Therapie beendet werden, wenn sie nicht mehr selbst bestimmen können? Wer hat dann wie zu entscheiden? Dass es laut "Patientenverfügungs-Gesetz" vom Sommer 2009 keine Beschränkung ihrer Reichweite – etwa auf den Sterbeprozess – mehr geben sollte, wurde insbesondere von der katholischen Kirche missbilligt. Ihr zufolge kann Selbstbestimmung für zukünftige Situationen nicht "absolut" gelten, da kein Mensch grenzenlos über sich selbst zu verfügen vermag. So argumentierten die Bischöfe etwa mit Blick auf PatientInnen im jahrelangen Koma – bei denen niemals die künstliche Ernährung eingestellt werden dürfte, da es sich anderenfalls um "aktive Sterbehilfe" handle.

Doch gegen die Einwände der Bischöfe war eine Regelung verabschiedet worden, dass hinreichend konkret abgefasste Patientenverfügungen "unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung" verbindlich sind. Hat die Politik damit aber uneinlösbare Sicherheitsversprechen befördert?

Ernüchterung nach 10 Jahren: Falsche Gewissheit

Jeder Volljährige kann festlegen (seit 2009 theoretisch mit der Zuversicht, dass dies auch befolgt werden muss), wann lebensverlängernde Maßnahmen für ihn sinnlos, unerwünscht und folglich zu unterlassen sind. Formell geht das auch ganz einfach, ohne zeitliche Begrenzung (das heißt ohne Aktualisierungsnotwendigkeit), ohne Pflicht zur fachkundigen Beratung und erst recht ohne notarielle Beglaubigung. Seitdem haben unzählige Organisationen Ratgeber und standardisierte Formulare und Muster für Patientenverfügungen veröffentlicht. Auch viele Krankenhäuser und Palliativstationen haben reagiert: PatientInnen werden schon bei der Aufnahme gefragt, ob sie eine Patientenverfügung abgefasst haben. Doch darf diese Entwicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vorliegen eines solchen Dokuments bei Betroffenen und Angehörigen oftmals zu falscher Gewissheit führt.

Jetzt, zehn Jahre später, hat sich vor allem bei ExpertInnen, die der Patientenselbstbestimmung sehr zugetan sind, eine bittere Erkenntnis durchgesetzt: Fast alle Patientenverfügungen sind in klinischen Notfällen unwirksam. Der Grund: Die Situationsbeschreibungen als Voraussetzung für einen Behandlungsverzicht können ärztlicherseits nur schwer prognostiziert werden, als da genannt sind: unmittelbarer Sterbeprozess, tödlicher Verlauf oder unumkehrbares Koma.

Die Versorgungsforscherin Christiane Hartog ist Mitautorin einer wissenschaftlichen Studie, welche die mangelhafte Aussagekraft konventioneller Patientenverfügungen in Akutsituationen analysiert hat. Sie betont, es sei höchste Zeit, Konsequenzen zu ziehen, wobei man Standardverfügungen aber nicht optimieren könne. Denn deren ursprünglich durch das Muster des Bundesjustizministeriums vorgegebene Grundstruktur erlaube dies nicht. Im Deutschlandfunk Kultur vom 6. Juni (aus der auch alle folgenden Zitate stammen) erläutert sie: "Herkömmliche Patientenverfügungen kann man nicht verbessern, weil sie falsch aufgebaut sind. … Der Knackpunkt ist die Beschreibung der klinischen Situation, in der das gültig sein soll". Es wird künstliche Ernährung und Beatmung oder auch Dialyse untersagt, so Hartog, etwa für den Fall "einer schweren Dauerschädigung des Gehirns oder im unabwendbaren Sterbeprozess. Der unabwendbare Sterbeprozess … Kein Mensch weiß, wann der einsetzt. Wie lange dauert das? Jeder interpretiert das anders."

Das Problem: Der Aufbau herkömmlicher Verfügungen

Wenngleich standardisierte Patientenverfügungen verschiedener Anbieter teils leicht abgewandelte Formulierungen beinhalten, haben sie alle einen typischen Aufbau: Zunächst sind die Bedingungen aufgeführt, an welche die anschließend geforderte Unterlassung von lebenserhaltenden Maßnahmen geknüpft ist. Häufig findet man eine Situationsbeschreibung wie diese, die wörtlich der Empfehlung des Bundesjustizministeriums (seit 2003!) entspricht: "Wenn bei mir eine schwere Hirnschädigung eingetreten ist und zwei Fachärzte unabhängig voneinander feststellen, dass ich nie mehr das Bewusstsein erlangen werde, dann möchte ich, dass die Ernährung über eine Sonde eingestellt wird."

Für den Arzt ist eine so eng gefasste Reichweite verbindlich, das heißt jedoch im Umkehrschluss: Er darf eigentlich die Therapie auch nur unter der Bedingung einstellen, dass die unabwendbare Situation ("Irreversibilität") genau so zutrifft – was kaum der Fall sein dürfte. Was im Grunde jeder wissen müsste: Es ist über sehr lange Zeit überhaupt noch nicht definitiv feststellbar, ob das Bewusstsein – freilich bei bleibenden geistigen und/körperlichen Schwerstbehinderungen – nicht doch wiedererlangt werden kann. Wenn der Patient bei lauter Nennung seines Namens nur aufmerkt, wäre die Bedingung des Bewusstseinsverlustes schon nicht mehr erfüllt. Dann gilt: "Er konnte einen Hauch zu viel – das war sein Fluch", worauf der Spiegel bereits vor genau neun Jahren mit einer Fallgeschichte hinwies.

Solche Warnung blieb allerdings von Vorsorgewilligen völlig unbeachtet. Die Risiken sind ihnen nicht bewusst oder werden gern verdrängt, wenn sie einen offiziellen Text im guten Glauben rechtswirksam unterschreiben, was auch stimmt – nur dass er weder den eigenen Vorstellungen entspricht noch praxistauglich ist. Und das verstehen auch die Angehörigen und Gesundheitsbevollmächtigten später nicht. "Das ist das ganz große Problem", weiß Hartog, weil die Angehörigen dann sagen: Sie kennen den Willen des Patienten gut, er lehne künstliche Beatmung auf der Intensivstation ab und diese soll sofort abgebrochen werden, das stehe doch "hier schwarz auf weiß und unterschrieben, was gemacht werden soll. Und nun, liebe Ärzte, macht das doch bitte! Und dann das große Erstaunen, dass die Ärzte sagen: Wir können das gar nicht klar sagen aufgrund der Formulierungen."

Denn, so erklärt es auch Kristijan Diehl von der Stiftung Patientenschutz: "Die Patientensituationen, die dann eintreten zum Beispiel nach einem Schlaganfall, sind … noch sehr, sehr weit weg von diesen möglichen irreversiblen Behandlungssituationen … Die Angehörigen glauben aber, dass die Patientenverfügung bereits greifen würde. Sie meinen, diese Behandlung müsse abgebrochen werden."

Nur jede 50ste Verfügung war im Notfall wirksam

Den meisten Menschen macht vor allem die moderne Hightech-Medizin Angst, wenn diese ihnen am Lebensende für sich nur noch als sinnlose, schwere Belastung erscheint. Viele Millionen Bürgerinnen und Bürger hoffen, sich gegen unnötig gewordene Notfall- und Intensivmaßnahmen mit einer Patientenverfügung schützen zu können.

"Ich will keine künstlichen Maßnahmen zur Lebensverlängerung, wenn ganz offensichtlich die Situation eingetreten ist, dass das Ende bevorsteht", sagt typischerweise ein Heimbewohner. "Man soll mich in Ruhe sterben lassen. Und ich will nicht lange noch gequält werden. Wenn man sieht, da ist normalerweise nichts mehr zu machen, dann soll man nicht eingreifen und das irgendwie erzwingen wollen." Vor vielen Jahren hat der Mann deshalb eine Verfügung verfasst – aber entspricht sie auch dem geäußerten Wunsch? Aller Wahrscheinlichkeit wird sie nicht verhindern können, dass er als Bewusstloser in eine Notaufnahme transportiert würde. Aber wird sie dann dort zumindest den ÄrztInnen helfen, in seinem Sinn die richtigen Therapie-Entscheidungen zu treffen? Wie (un)wahrscheinlich dies ist, hat der Intensivmediziner Steffen Grautoff zusammen mit seinen KollegInnen am Beispiel einer Rettungsstelle untersucht. Er wollte einmal zahlenmäßig feststellen, "was dran ist, wenn unter Medizinern immer gesagt wird, dass Patientenverfügungen eigentlich wenig Wert haben", erklärt Grautoff ebenda im Deutschlandfunk Kultur (Autor: Dr. Horst Gross, Anästhesist und Medizinautor). Die Sendung trägt den beunruhigenden Titel: "Nur jede 50. Patientenverfügung greift im Notfall" – also nur zwei von Hundert: Es handelt sich um das von Grautoff ermittelte, zu seiner eigenen Verblüffung so extreme Ergebnis.

Einige Patientenverfügungs-Anbieter wie die DGHS oder DIPAT bewerben als besondere Leistung ihren online-gesteuerten Hinterlegungsservice. Doch entgegen diesem Versprechen, so unmittelbar wirksam zu werden, ist das entscheidende Problem der Patientenverfügung nicht ihre technisch vermittelte, schnelle Zurkenntnisgabe. Vielmehr geht es um die Beurteilung, ob die Verfügung im vorliegenden Notfall überhaupt greift. Der Großteil der Heimbewohner, die einwilligungsunfähig in die nahegelegene Rettungsstelle eingeliefert wurden, hatte eine Patientenverfügung, die auch vorlag, so Grautoff. Dann wäre mit seinem Team systematisch geprüft worden, "ob diese Patientenverfügung auch von den behandelnden Ärzten benutzt werden kann, um zu schauen: Wollen diese Patienten in dieser Konstellation, auf die Intensivstation? Wollen die noch Dialyse? Wollen sie beatmet werden? Oder kann man das anhand von den Angaben in den Patientenverfügungen gar nicht erkennen?"

Zur Endauswertung führt Grautoff aus: "Die Zahlen waren überraschend schlecht … Es war nur in einem einzigen Fall so, dass man sich ausschließlich auf die Patientenverfügung verlassen hat. Es gab durchaus Fälle, wo man die Patientenverfügung mitbewertet hat …", aber trotz Verfügung musste über den mutmaßlichen Willen spekuliert werden. Oft gelang es nicht, ihn zu ermitteln, wie in der typischen Situation: "… der Hausarzt ist nicht erreichbar, die Angehörigen sind vielleicht auf der Anfahrt. Aber es zeigt sich jetzt hier ein lebensbedrohliches Bild und den Patienten selber kann ich gar nicht befragen, dann würde ich natürlich erstmal eine Maximaltherapie machen", sagt Grautoff. Dann geschieht genau das, was viele der Betroffenen verhindern wollten: Weil ihre Patientenverfügung keine eindeutigen Aussagen zulässt, kommen sie erst einmal auf die Intensivstation.

Doch spätestens dort, auf der Intensivstation, sollte die Patientenverfügung dann eigentlich wirksam werden. Christiane Hartog und andere haben genau das im Rahmen ihrer klinischen Studie auf einer großen Intensivstation überprüft. 477 intensivmedizinische Behandlungsfälle haben sie und ihre KollegInnen ausgewertet. Das verblüffende Ergebnis, welches allerdings in Befragungen von 2013–2014 zustande kam und welches man in dieser Eindeutigkeit heute in Frage stellen möchte: Auf einer typischen Intensivstation soll das Vorhandensein einer Patientenverfügung gar keinen Einfluss darauf haben, ob und wie lange Organersatzverfahren eingesetzt werden.

Was also ist zu tun, wie kann geholfen werden?

Hartogs Fazit für die mangelhafte Wirkung von Patientenverfügungen beziehungsweise ihre mögliche Missachtung mit dem Hinweis, die beschriebene Bedingung (Sterben, Dauerbewusstlosigkeit) sei ja noch nicht feststellbar: "Der Aufbau, dass man klinische Szenarien beschreibt, die in der Zukunft stattfinden können, ist ein Irrweg. Ich fände es sinnvoller, wenn Patienten festlegen oder einen Hinweis geben, welchen Preis sie bereit sind zu bezahlen mit einer lebensverlängernden Therapie. Wie viel Folgeschäden würden sie akzeptieren? Wie groß darf das Risiko sein für schwerste Pflegebedürftigkeit? Ich glaube, in diese Richtung kommen wir hier weiter."

Dieses Ziel der maßgeschneiderten Patienenverfügung, angereichert mit individuellen Wertvorstellungen, verfolgt auch Elke Rasche vom Humanistischen Verband, Leiterin der Berliner Zentralstelle Patientenverfügung mit qualifiziertem Beratungsangebot.

Dort soll auch ein mögliches Spannungsfeld zwischen Wunsch und Wirklichkeit offen gegenüber Klienten angesprochen werden, vor allem beim Wunsch nach Einschränkung von Wiederbelebungsmaßnahmen. Die Klienten würden aber denken, führt Rasche aus, "wenn ich jetzt reinschreibe: maximal fünf Minuten, danach möchte ich nicht mehr wiederbelebt werden nach Herzkreislaufstillstand, dass das dann tatsächlich so gemacht wird. Das ist ein Trugschluss." Rasche kann verstehen, dass manche Menschen das Thema schnell hinter sich haben wollen und das Internet nutzen. Aber sie betont die Wichtigkeit des persönlichen Gesprächs: "Ich brauche ein Gegenüber, mit dem ich mich austauschen kann. Es geht um Wertvorstellungen. Es geht um Ethik. Es geht um Religionen. Es geht um Lebensqualität. Das muss besprochen werden."

Kristjan Diehl wiederum leitet in München eine sehr seltene, vielleicht sogar einmalige Patientenverfügungs-Schiedsstelle, die – für jeden kostenfrei und zügig je nach Dringlichkeit – missverständliche Formulierungen überprüft und bei entstandenen Konflikten vermittelt. Dabei verhärten sich nicht selten die Fronten. Über den Verlauf der Schlichtungsbemühungen seines Teams berichtet Diel: "Das Erste ist, dass wir den Menschen, die sich aufgewühlt an uns wenden, Zeit geben, die Situation zu besprechen. Um dann zu beschreiben, was ist passiert? Wenn die Patientenverfügung doch anwendbar sein sollte, dann unterstützen wir die Menschen argumentativ für das nächste Gespräch mit den Ärzten", so Diehl. Und sie wären auch diejenigen, die gegebenenfalls zum Telefonhörer greifen, um die Sicht der Ärztinnen und Ärzte zu erfragen. "Und dann entsteht Vermittlung, entsteht Klarheit, entsteht Durchsetzung von Patientenwillen."

Wirksamer Notfallbogen nach Beratung zur Vorausplanung

Dass am Ende – Verfügung hin oder her – oft genug doch wieder über den Patientenwillen spekuliert werden muss, hat zwischenzeitlich auch der Gesetzgeber eingesehen. Er hat – bisher weitgehend unbeachtet – Ende 2015 mit § 132d im Sozialgesetzbuch V eine rechtliche und finanzielle Grundlage für Projekte in Pflegeheimen zur "Behandlung im Voraus planen" (BVP) geschaffen. Dies wird nach dem erfolgreichen USA-Vorbild auch "Advance care planning" (ACP) oder "Vorausplanung für den gesundheitlichen Notfall" genannt.

Das Konzept für Deutschland: Ausgebildete Beratungskräfte führen mit älteren, chronisch kranken oder pflegebedürftigen Menschen – mit oder ohne vorhandener Patientenverfügung – längere persönliche Gespräche. Sie helfen ihnen dabei, für eine plötzliche Krisensituation ihre Wünsche so zu formulieren, dass dies als eindeutige Willenserklärung dann auch tatsächlich greift. Dies wird dann unter wenigen möglichen Optionen mit eindeutigem Ankreuzen (keine Mehrfachnennungen!) in einem Notfallbogen dokumentiert (zum Verbot jeglicher Wiederbelebung über Transport noch in ein Krankenhaus oder Verbleib in der gewohnten Umgebung bis hin zum dortigen Versterben-Wollen bei jeder Zustandsverschlechterung ausschließlich mit Palliativversorgung). Für die unmittelbare Wirksamkeit als eine ärztliche Anordnung ist der meist nur aus einem Blatt bestehende Notfallbogen von den verschiedenen Beteiligten zu unterschrieben. Ein Beispiel ist der VorAN genannte, frei zugängliche Notfallbogen einer informellen Vorsorgeinitiative von engagierten Rechtsanwälten und ÄrztInnen (darunter der unlängst verstorbene Uwe-Christian Arnold). Er kann unter diesem Artikel des Humanistischen Pressedienstes abgerufen werden.

Wenngleich damit die herkömmlichen Instrumente zur Patientenselbstbestimmung keinesfalls "ausgedient" haben, propagieren die exponierten universitären Vertreter dieser neuen Modelle oftmals, dass es jetzt "von der Patientenverfügung zur gesundheitlichen Vorausplanung" gehen soll. So beklagen Prof. Jürgen in der Schmitten u. a. in der Zeitschrift Dr. med. Mabuse 236 (November / Dezember 2018), allzu viele Fachleute und erst recht Laien seien noch in der "obsoleten Vorstellung befangen, dass das Verfassen einer Patientenverfügung ein einmaliger Akt sei." Tatsächlich sei Behandlung im Voraus planen, so heißt es dort weiter, "aber ein lebenslanger Gesprächsprozess, der im Laufe des Älterwerdens immer wieder aktualisiert und konkretisiert werden sollte."

Persönliches Umdenken-Müssen und organisatorischer Systemwandel

Für einen grundsätzlichen Wandel sind zwei Voraussetzungen nötig, auf der individuellen und auf der organisatorischen Ebene.

Viele Angehörige und Gesundheitsbevollmächtigte sind verzweifelt, wenn sie mit der unerwarteten Wirkungslosigkeit – dem "Autonomie-Placebo" – einer ihnen vorliegenden Patientenverfügung konfrontiert werden. Wenn sich eine zu enge Situationsbeschreibung gar als "kontraproduktiv" erweist, entsteht Anlass für Empörung – auch gegen die Anbieter solcher weit verbreiteten Texte. Viel zu viele BürgerInnen vertrauen leider blind auf die Autorität von Dienstleistern – gebildetere und besser "betuchte" Vorsorgewillige meist auf ihre Notare – und delegieren ihre ureigene Selbstbestimmung an diese. Dabei, betonen in der Schmitten u. a., weiß in der Regel "die vorausplanende Person aus eigener Erfahrung sehr genau, wovon sie spricht, wenn sie zum Beispiel Festlegungen über das künftige Vorgehen im Fall eines Herz- oder Atemstillstands aktualisiert oder eine stationäre Einweisung bei Eintritt eines schweren Schlaganfalls für sich ablehnt." Aber zur Abfassung einer Patientenverfügung werden persönliche Gespräche (etwa auch mit Nahestehenden) lieber gemieden, obwohl die aus diesem Kreis gewählten Gesundheitsbevollmächtigten später für die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen verantwortlich sind. Auch zur – irriger Weise angenommenen – erhöhten Rechtssicherheit werden stattdessen vorgefertigte Versatzstücke womöglich per Internetabfrage bevorzugt.

Auf der organisatorischen Ebene ist eine grundlegende (Organisations-)Neuentwicklung notwendig, die allen Regeln professionellen Managements gerecht wird. Die Positionierung zur Patientenautonomie gegen die Macht eines bestehenden "Systemautomatismus" darf nicht länger Lippenbekenntnis bleiben. Sondern sie muss von der Führungsebene in allen betroffenen Einrichtungen aktiv unterstützt werden, um mittels guter Vernetzung zur Grundlage routinierten pflegerischen und medizinischen Entscheidens zu werden.

Schließlich bleibt die Kommunikation zwischen Arzt und Patient zu erwähnen. Diese betont der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Uwe Janssens, in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Juni. Es erscheine ihm sehr wichtig, dass gerade bei chronisch schwerkranken Menschen frühzeitig der Wille (einschließlich eines eventuellen Wiederbelebungsverbots) eruiert und auch dokumentiert wird. Janssens gibt im Ärzteblatt vom 7. Juni an, dass rund jeder achte Todesfall in Deutschland sich auf einer Intensivstation ereignet und erläutert dazu: "In vielen Fällen geht dem Sterben auf der Intensivstation ein Behandlungsverzicht voran – lebenserhaltende Maßnahmen werden also bewusst beendet, begrenzt oder gar nicht erst begonnen."

Dies scheint zumindest in einem Spannungsverhältnis zu stehen zum oben erwähnten Forschungsergebnis von Christiane Hartog u. a. Doch Janssens zeigt sich optimistischer und schlägt zur verbesserten Beachtung von vorsorglichen Willenserklärungen vor: Damit in der Intensiv- und Rettungsmedizin rechtzeitig reagiert werden kann, sollten möglichst in Altenheimen oder auf Normalstationen von Krankenhäusern die Wünsche und Einstellungen der Patienten besprochen und eine vorliegende Patientenverfügung angeschaut werden – bevor es im eingetretenen Notfall zu spät sei.