Von der Personaluntergrenze bis zur Einmal-Geldprämie

Pflege am Boden – Revolutionierung des Systems oder bloße Verlockungen?

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Um den Systemzusammenbruch im Pflegebereich kümmert sich nun mit Jens Spahn (CDU) jemand, der für Krawall und harte Kante bekannt ist. Wird "Personaluntergrenze" statt "Flüchtlingsobergrenze" gar zum Reizthema der Zukunft? Selbst mit den kirchlichen Einrichtungen will sich der neue Gesundheitsminister anlegen, um einen brancheneinheitlichen Tarifvertrag durchzusetzen.

Jens Spahn ist hoch ambitioniert

Angesichts von gut 140.000 fehlenden Fachkräften – 100.000 in der Kranken- und mindestens 40.000 in der Altenpflege mit zunehmender Tendenz – steht das System vor dem Zusammenbruch. Dem Bundesgesundheitsminister ist bewusst, "dass in der Pflege ein ganzer Berufsstand in der Krise steckt. Wir müssen gegensteuern. Entschieden und schnell", so Spahn in einem Interview mit dem Spiegel, das auf der Seite seines Ministeriums nachzulesen ist. Mag sein, er agiert aus politischem Ehrgeiz, der ihn ein noch höheres Amt anstreben lässt. Jedenfalls könnte die sich bahnbrechende Sorge der Wählerinnen und Wähler vor schlechter pflegerischer Versorgung zu einem zentralen sozialpolitischen Thema werden. Es macht für alle spürbar, wie die ideologisch vielgepriesenen Marktmechanismen versagen und die angemessene Bezahlung für Pflegekräfte ausbleibt. Wird bald die "Pflegepersonaluntergrenze" thematisch die "Flüchtlingsobergrenze" in den Schatten stellen?

Die Pflegerealität – drastisch, zynisch, brutal

Pflegekräfte schildern drastisch und zynisch, was ihren Berufsalltag ausmacht. Dessen teils brutale Auswirkungen scheinen einem Politiker wie dem hier adressierten Erwin Rüddel (CDU), der gern ein positiveres Bild gezeichnet sehen wollte, unbekannt ist. Sie können nachgelesen werden unter dem Hashtag #twitternwierueddel – hier eine Auswahl des Tagesspiegels:

  • Von Master Bdr @xtremetitsch: "Wenn du als Pflegepraktikant krank wirst und die Stationsleitung Panik bekommt, weil Personal fehlt. – Als Pflegepraktikant. In der dritten Woche."
  • Von Madame Hummelchen @mdeHummelchen: "Wenn du angeschrien wirst, weil du einer sterbenden alten Dame in den letzten 5 Minuten ihres Lebens die Hand gehalten hast. Du kannst die Scherben nicht zählen, in die deine Seele dann zerbricht."
  • Von LAD in GAZ @emergencyum: "Du möchtest 3 Jahre wie bekloppt alles von Anatomie über Medikamentenlehre bis zu Pflegewissenschaften lernen um Dir anschließend anzuhören, dass Schleckerfrauen, Flüchtlinge, Prostituierte etc 'mal eben' Deinen Job machen können? Dann auf in die Pflege!"
  • Von Tschudith @Chaosundich: "Wenn du morgens um 7.00 Uhr die liebe, alte Dame auf der Toilette sitzend findest, weil die Nachtschwester ihr um 02.08 Uhr gesagt hat, sie komme gleich wieder. Und sie es vor lauter Arbeit vergessen hat."

Schon lange hatte die Gewerkschaft ver.di neben überfälligen Lohnerhöhungen eindringlich Personaluntergrenzen gefordert. Ein staatlicher Auftrag, solche verbindlich für "pflegesensitive" Bereiche zu erarbeiten, war auch bereits im Juli 2017 von der Vorgänger-GroKo-Regierung erteilt worden. Beauftragt wurde, wie in solchen Fällen üblich, ein Selbstverwaltungsgremium aus Deutscher Krankenhausgesellschaft (das heißt dem Interessenverband aller Krankenhausträger) einerseits und den privaten und gesetzlichen Krankenkassen (PKV und GKV-Spitzenverband) andererseits.

Personaluntergrenzen für "pflegesensitive" Bereiche

Als besonders "pflegesensitive" Bereiche gelten Notfallaufnahme, Unfall- und Herzchirurgie, Kardiologie, Intensivstation, Neurologie und Geriatrie. Das sind Abteilungen, in denen ersichtlich der Pflegepersonalmangel zu besonders "unerwünschten" Folgen führt. Demnach können dort erworbene Pneumonie, Harnwegsinfektion, Durchliegegeschwür, Sepsis oder ähnliche durchaus lebensbedrohliche Komplikationen vermieden werden, wenn es auf den Stationen nur mehr Zeit gäbe zur aufmerksamen Beobachtung und zum entsprechenden Handeln.

Durch Personaluntergrenzen soll die zu leistende Arbeit auf mehr Pflegekräfte verteilt und der Beruf – bei zusätzlichen Lohnerhöhungen – attraktiv gemacht werden. Ein drohendes Aufweichen der vorgesehenen Untergrenzen, die Spahn entschieden nicht nur in pflegesensitiven, sondern in allen Bettenbereichen durchsetzen will, scheint jedoch absehbar. Jedenfalls wird gegen die bekannt gewordenen Entwürfe des beauftragten Selbstverwaltungs-Gremiums von ver.di und dem deutschen Pflegerat, wie die Ärztezeitung berichtet, bereits Sturm gelaufen. Die Krankenhausleitungen suchen zwar händeringend – von den Kassen zu finanzierendes – Personal, zumal immerhin wegen des Arbeitskräftemangels Bereiche von der Schließung betroffen sind. Aber sie wollen andererseits starre Festlegungen auf den einzelnen Stationen unbedingt vermeiden, die ihnen ein rational-flexibles Personalmanagement erschweren würden.

Alle Arbeitgeber, vor allem auch im Altenheimbereich und in der ambulanten Pflege sind damit beschäftigt, sich gegenseitig die Pflegekräfte abzujagen – zu höheren Löhnen in dieser Zukunftsbranche führt dies allerdings nicht. Ein Paradebeispiel für die am Ende unauflösbaren Grundwidersprüche des kapitalistischen Wirtschaftens!

Verlockung: Negativspirale mit Einmal-Prämie durchbrechen?

Aber wie sollen überhaupt vorgegebene Mindeststandards bei der Personalausstattung erfüllt werden, wenn kaum BewerberInnen für offene Stellen zu finden sind?

Dazu gibt es Ideen des neu eingesetzten Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus (CDU): Prämienzahlungen für eine Rückkehr in den Beruf oder für eine Aufstockung der zahlreichen Teilzeitkräft. Beachtenswert einfach ist sein Vorschlag, ausgeschiedene Pflegekräfte mit einem Geldbetrag, die Rede ist von steuerfreien (!) 5.000 Euro, wieder in den Beruf zurückzuholen. Doch meint man wirklich, Menschen mit einer Einmalzahlung zum Wiedereinstieg verlocken zu können, die es wegen unbarmherzigem Zeitdruck, menschlichen Extremsituationen, chronischen Rückenleiden oder sonstigen gesundheitlichen Schädigungen nicht mehr ausgehalten haben? Was würden wohl diejenigen dazu sagen, die trotz allem bisher ausharren und sich somit bestraft sehen müssen?

Zwar sollen auch zur Zeit berufstätige Vollzeitkräfte Vergünstigungen erhalten und befristet etwa zwei Jahre lang ihre Arbeitszeit von 100 auf 80 Prozent reduzieren dürfen – bei vollem Lohnausgleich. Sinn ergeben solche einmaligen Prämien und Vergünstigungen aber nur, wenn einschneidende Begleitmaßnahmen damit verbunden wären: Ein verstetigter, endlich angemessener Lohnzuwachs für alle Beschäftigten sowie menschenwürdige Bedingungen bei der Pflege von alten und kranken Menschen, die von Respekt, Fairness und Wertschätzung gekennzeichnet sein müssen. Für das Vorstandsmitglied Sylvia Bühler der Gewerkschaft ver.di sind Einmalzahlungen "nur ein Lockmittel, das viel Geld kostet und dessen Wirkung schnell verpufft". Auch der Vorsitzende der Linkspartei, Bernd Riexinger, hält die Prämienidee für "unseriös": Mit einem "Kopfgeld ehemalige Pflegekräfte zurückholen zu wollen, geht völlig am Problem vorbei." Zynisch sei es zudem, Teilzeitbeschäftigte mit Einmalzahlungen wieder in Vollzeit locken zu wollen. Beifall bekam der Vorstoß des Christdemokraten Westerfellhaus hingegen von Vertretern der Regierungspartner CSU und SPD und auch von einer Vertreterin der Grünen, die zumindest einen ersten Schritt in die richtige Richtung lobten.

Alles doch schon zu spät? Spahns allerletztes Mittel

An deutlichen Lohnerhöhungen geht kein Weg vorbei. Doch ist der jüngste Tarifabschluss vom April 2018 für die Pflegeberufe ein fatales Signal: Die Gehaltserhöhungen liegen schrittweise lediglich zwischen einem und etwas über drei Prozent – bei einer Laufzeit von drei Jahren.

Angesichts der Notlage hat Spahn die Idee entwickelt, einen allgemeinen Tariflohn für den gesamten Pflegesektor durchzusetzen. Grundlage wäre Paragraf 5 des Tarifvertragsgesetzes. Damit könnte im Einvernehmen der Sozialpartner ein Einheitstarifvertrag als bindend für alle Träger, Unternehmen und Einrichtungen der ganzen Branche erklärt werden, wenn unabweisbar ein dringendes öffentliches Interesse dafür vorliegt – was ja der Fall ist. Dann würde laut Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes für die Pflege zum Beispiel ein examinierter Altenpfleger in Vollzeit je nach Berufsjahren zwischen 2.700 und 3.400 Euro brutto im Monat verdienen. Außerdem gäbe es als Garantie ein 13. Monatsgehalt, betriebliche Altersvorsorge und Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsdienste. Der im Mittel errechnete Verdienst für eine Vollzeit-Fachkraft in der Altenpflege liegt derzeit bei 2.620 Euro im Monat, wobei es ein großes Problem gibt: Eine auch regional bedingte Spannbreiten von fast 1.000 Euro, was zu Entlohnungen von nur 1.985 Euro führen kann.

Wie Spahn dem SWR sagte, will er sich bis zum nächsten Jahr mit Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) über eine ganz neue, branchenübergreifenden Lösung verständigen. Allerdings hat Heil die Hoffnung inzwischen gedämpft, dass es eine zeitnahe Besserbezahlung von Pflegekräften durch flächendeckende Tarifverträge geben wird. Ein besonderes juristisches Hindernis sei die Situation, dass viele Einrichtungen kirchlich geführt sind und es dort gar keine klassischen Tarifverträge gibt. Doch Spahn ist für die Überraschung gut, dass er selbst vor den Lobbyinteressen der Kirchen nicht zurückschreckt und auch dieses Problem laut SWR für lösbar hält.

Kann der kritische Geist Westerfellhaus zu revolutionär werden?

Bliebe schließlich noch die Forderung Spahns, Lücken auch durch mehr ausländische Arbeitskräfte zu füllen. Als unfair dürfte gelten, von anderen bedürftigen Staaten dort ausgebildetes Personal abzuwerben. PflegerInnen aus Nachbarländern einzuladen ist für Judith Heepe, Pflegedirektion der Berliner Charité, deshalb keine Option – obwohl diese Klinik unter besonderem Zugzwang zur Personalaufstockung stand und weiterhin steht.

Vielleicht ist es ein Zeichen, dass selbst potentielle osteuropäische Pflegekräfte um das Deutsche System einen Bogen machen. Der neue Pflegebevollmächtigten Westerfellhaus scheut sich nicht, dem Gesundheitsminister zu widersprechen, kaum dass er von diesem ins Amt berufen wurde. Der 61-Jährige, im Pflegebereich erfahrene CDU-Sozialpolitiker, will kein willfähriges Feigenblatt für weitere Tatenlosigkeit oder Symbolpolitik sein.

Westerfellhaus macht deutlich: Deutschland müsse erst einmal die eigenen Hausaufgaben machen und die Arbeitsbedingungen verbessern, wofür zunächst die derzeitigen Krankenkassenüberschüsse zu verwenden seien. Dann müsse man "ernsthaft darüber nachdenken", ob die bisherige Teilkaskoversicherung für die Pflege überhaupt der richtige Ansatz sei. Jedenfalls dürfe eine angemessene Bezahlung der (Alten-)Pflegekräfte nicht etwa zu zusätzlichen Eigenanteilen der Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen führen. Steht also quasi eine soziale Revolutionierung in der immer umsatzstärker werdenden Pflegebranche bevor? Oder wird Spahn sich noch fragen, wie er den kritischen Geist, den er selbst gerufen hat, wieder loswerden kann?