Von mehrfachen, unnötig belastenden Krankenhauseinweisungen sind laut aktuellem AOK-Pflege-Report 2022 gut 50 Prozent der Bewohner*innen von Senioreneinrichtungen betroffen – vor allem kurz vor ihrem Versterben. Dagegen wendet sich ein organisationsethisches Konzept mit Fokus auf "Patientendienlichkeit".
Schon lange weisen Erfahrungsberichte darauf hin, dass die in Deutschland knapp 800.000 dauerhaft stationär versorgten Menschen oft unnütz und unerwünscht ins Krankenhaus oder gar auf eine Intensivstation verbracht werden. Dabei könnte eine fach- und palliativmedizinische Versorgung in den Heimen selbst (etwa bei Dehydration, Herzinsuffizienz, Schmerzempfinden, Luftnot, Angst, Harnwegsinfekt, Verstopfung) ihrem Wohl weitaus dienlicher sein. Die Bewohner*innen sind mehrheitlich über 80 Jahre alt, ihr Zustand ist in der Regel von Multimorbidität und schwerwiegenden Beeinträchtigungen geprägt, mehr als zwei Drittel (69 Prozent) gelten als dementiell erkrankt. (Behrendt et al. 2022)
Patientendienlichkeit – eine Herausforderung zur Neuorientierung
Im Kapitel "Krankenhausaufenthalte von Pflegeheimbewohnenden" macht der im Juli vorgelegte Pflegereport mit Routinedaten der AOK – sie vertritt etwa 27 Millionen Versicherte – ein besonderes Desaster offensichtlich. Laut der Autor*innen Antje Schwinger u. a. wird deutlich, "dass sich die Krankenhausaufenthalte vor dem Versterben verdichten und zudem häufig auch potenziell vermeidbare Behandlungsanlässe als Ursache dokumentiert sind". Mit ihrem Beitrag wollen die Autor*innen einen Anstoß geben, welcher Veränderungen es bedarf, "um eine rechtzeitige und konsequente Erfassung der Versorgungswünsche von Bewohnenden mit Blick auf ihr Lebensende zu sichern".
Ihre Datenanalyse versteht sich "als empirische Bestandsaufnahme". Diese zeigt, in welchem (international unübertroffenen) Ausmaß Todkranke für sie sinnlosen und nur noch quälenden Behandlungen in Kliniken ausgesetzt sind. Dort gehören sie keinesfalls hin, wie vor wenigen Wochen der Palliativmediziner Matthias Thöns im Stern-Interview öffentlichkeitswirksam dargelegt hat. Vielmehr sei der Verbleib in vertrauter Umgebung so gut wie immer empfehlenswert und in den Pflegeheimen auch möglich. Viel frühzeitiger, so Thöns, sollte die Palliativmedizin mit einbezogen werden, "da sich dadurch die Lebensqualität der Patienten dramatisch verbessern lässt. Der Anteil der Depressionen verringert sich um fast zwei Drittel, sie leben sogar länger als Patienten ohne Palliativversorgung".
Das Konzept der individuellen Patientendienlichkeit (englisch: patient benefit) ist hierzulande relativ neu. Seine Maxime lautet: Zwischen allen Akteuren sollen medizinisch-pflegerische Maßnahmen zur Vorbeugung, Heilung oder Linderung von Krankheiten mittels Digitalisierung optimal abgestimmt werden und ausschließlich zum Nutzen der Betroffenen erfolgen (wozu die Vermeidung eines vorzeitigen Todes ebenso wie die Ermöglichung eines würdigen Sterbens gehören), und zwar unter Beachtung ihrer individuellen Wünsche und eines menschlich-zugewandten Umgangs.
Die AOK will eine Diskussion anstoßen, wie patientendienliche Versorgungsbedarfe zu sichern wären – und der in Deutschland gängige "Verschiebebahnhof" zwischen Heim und Klinik am Lebensende vermieden werden kann. Derartige Missstände einmal wöchentlich oder noch häufiger zu beobachten, gaben 7 Prozent der (ergänzend zur AOK-Datenerhebung) 550 befragten Pflegekräfte an. Jeder fünfte von ihnen (21 Prozent) erlebt dies mindestens monatlich. Das Gros der Befragten wies zudem darauf hin, dass sich das Team für lebensverlängernde Behandlungen bei einem Heimbewohner entscheidet, obwohl seine Patientenverfügung anderes nahelegt. Ein Grund (neben deren Unauffindbarkeit oder einer zögerlichen Befolgung durch Ärzt*innen) sei auch der ausgeübte Druck durch Angehörige – mit denen eine frühere Willenserklärung bezüglich der vorliegenden medizinischen Situation erst einmal interpretiert werden muss.
Doch ist die Missachtung von Wünschen zum friedlichen Sterben-Lassen vielschichtiger. Pflegekräftemangel, Zeitdruck, Routine, psychische und körperliche Überforderung, rechtlich schlecht unterrichtete Heimleitungen, unzuverlässige Erreichbarkeit (und teils sogar haftungspflichtige Fehlindikation) von heimbetreuenden Ärzt*innen – all das führt zu vorschnellen Rettungsdienstrufen und Klinikaufenthalten. Oft genug haben diese zur Folge, dass der Allgemeinzustand der eingelieferten Senior*innen sich eher verschlechtert und dass etwa an Demenz Erkrankte gänzlich ihre Orientierungsfähigkeit verlieren.
Reformbemühungen auf der Makro-, Meso- und Mikroebene
Die Einführung der "Gesundheitlichen Versorgungsplanung" laut Paragraf 132g SGB V ist das Einzige, was im Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG von 2015) den Bewohner*innen von Einrichtungen zugute gekommen ist. Ansonsten bleiben sie von dort aufgeführten Reformbemühungen und – da sie ja bereits stationär untergebracht sind – von einer Hospizaufnahme prinzipiell ausgeschlossen. Diese kommt in aller Regel nur für unheilbar dem Tode nahe Krebspatient*innen in Frage, die in den letzten Lebenstagen oder -wochen zu Hause nicht mehr versorgt werden können.
Dem christlich-hospizlich konnotierten Mythos vom "schönen Sterben" in Würde für vermeintlich alle Bürger*innen hat der Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) bereits vor vielen Jahren den Spiegel der Realität vorgehalten – so in seiner Stellungnahme im Gesundheitsausschuss in der Anhörung zum HPG von 2015 und in der damals parallel dazu verlaufenden Debatte zur Suizidhilferegelung. Der Verband prangert in seinen Publikationen das zutiefst ungerechte Zwei-Klassen-Sterben anhand konkreter Vergleichszahlen an: Während die Sozialkassen für die jährlich rund 300.000 sterbenden Pflegeheimbewohner*innen als Teilkaskoleistung jeweils circa 1.800 Euro pro Monat zur Verfügung stellen, sind es als Vollfinanzierung für die jährlich knapp 34.000 Hospiz-Patient*innen circa 7.500 Euro (200–300 Euro täglich) – ohne dass diese einen Euro dazu zahlen müssen. Dies ist einer moralischen Überidealisierung der stationären Hospize geschuldet, mit der sie sich seit Beginn der 1990er Jahre als Bollwerk gegen die verpönte sogenannte aktive Sterbehilfe empfehlen konnten. Es handelt sich um eine systemfremde Finanzierung seit Anfang der 1990er Jahre, die wohl mutmaßlich auch als politisches Manöver verstanden werden kann, um von den damals noch völlig unter den Teppich gekehrten Problemen in der Altenpflege abzulenken.
Der Humanistische Verband wird sich weiter dafür einsetzen, dass auch den Langzeitpflegebedürftigen auf der politischen Agenda eine hohe Priorität zukommt. Dazu bedarf es einer sachgerechten Berichterstattung in publikumswirksamen Medien, denn Aufklärung tut not. Selbst die vor sieben Jahren gesetzlich normierte "Gesundheitliche Versorgungsplanung für die letzte Lebensphase" (englisch: Advance care planning) ist in den Heimen und im allgemeinen Bewusstsein noch nicht angekommen. Der Verband hat dazu einen leicht handhabbaren Notfallbogen kostenfrei verfügbar gemacht, der eindeutige, das heißt nicht mehr interpretationsbedürftige Anordnungen für akut (oder auch schon für dauerhaft) einwilligungsunfähige Patient*innen vorsieht. Doch auch dieser wird – wie entsprechende Vorsorgeinstrumente anderer Anbieter – in der Pflegeheimpraxis kaum in Anspruch oder erst gar nicht zur Kenntnis genommen.
Für die Patientendienlichkeit ist es wesentlich, auch im Forschungsbereich zur Qualitätsförderung in einen sozial- und organisationsethischen Kontext eingebettet zu sein. Dieser hat drei miteinander verzahnte, aber dennoch zu unterscheidende Ebenen im Blick. Dabei geht es jeweils
- auf der Makro-Ebene um übergreifende Systeme und ihre Vorgaben (gesundheitspolitische Entscheidungsträger, gesamtgesellschaftliche Effizienzvorgaben, Gesetzgeber),
- auf der Meso-Ebene um einzelne Institutionen und ihre Handlungsspielräume (Krankenhäuser, Pflegeheime, Hospiz- und Palliativdienste),
- auf der Mikroebene um die Akteure und ihr Agieren (Arzt-Patientenverhältnis, Arbeitsbedingungen, Pflegeethos, Entscheidungsprozesse).
Insgesamt ist festzustellen, dass die Ökonomisierung des Gesundheits- und Pflegebereiches (Stichwort auch: Übernahme durch renditeorientierte Investoren) nicht nur die Versorgung der Betroffenen beeinträchtigt. Sondern zugleich wird das Personal so sehr unter Druck gesetzt, dass auf der Mikroebene kaum mehr ethisch vertretbares Handeln möglich scheint, was die Mitarbeiter*innen zusätzlich zermürbt. In einem Teufelskreis führt dies auch zu Effizienzeinbußen und Renditebeschränkungen, wenn Bettenkapazitäten dann aufgrund von Fachkräftemangel nicht mehr ausgenutzt werden können.
Organisationsethische Ansätze ohne Scheuklappen
Die Gesundheitspolitikerin und heutige Vorstandschefin des AOK-Bundesverbands Carola Reimann mahnt aufgrund des Pflegereports deutliche Verbesserungen für das Pflegeheim als Sterbeort an. Sie plädiert auf der Meso- und Mikroebene – auch mittels telemedizinischer Kommunikationsmöglichkeiten – für engere Kooperationsbeziehungen zwischen heimbetreuenden palliativkompetenten Ärzt*innen und Pflegeheimmitarbeiter*innen unter Einbeziehung von Angehörigen, Betreuern oder auch ehrenamtlichen Begleiter*innen. Die Versorgung der Zukunft soll durch fortschreitende Digitalisierung in weiten Teilen Veränderungen bewirken, bei deren Gestaltung fokussiert die Patientendienlichkeit zu beachten wäre.
Ob diese ohne zu etablierende und gesetzlich verlässlich zu finanzierende Hospiz- und Palliativteams in den Heimen gewährleistet werden kann, ist fraglich. Die AOK-Chefin betont zu guter Letzt, die Versorgung, Pflege und Begleitung am Lebensende könne nur dann besser funktionieren, "wenn auch ausreichend Personal zur Verfügung steht". Bekanntlich sind jedoch die Mitarbeiter*innen in der Pflege besonders davon betroffen, die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit bereits überschritten zu haben. Dabei läge es auf der Hand, dass die eingesparten Kosten für unnötige und unerwünschte Klinikeinweisungen den fehlenden Ressourcen in der Pflege zugutekommen. Unabhängig davon dürfte sich auf der Makroebene unumstößlich die – in Deutschland einzigartig ausgeprägte – strukturelle Bevorzugung von Hospizen verfestigt haben (die inzwischen auch vom Pflegenotstand betroffen sind).
Vertreter*innen des Humanistischen Verbandes werden sich weiterhin für neue Konzepte einsetzen (auch damit bei alten Menschen nicht eine Haltung zum Suizid um sich greift, die im Focus einmal mit dem Titel "lieber tot als Pflegeheim" beschrieben wurde). Geplant ist die Mitwirkung in einem medizinethischen Projekt von hochkarätigen Wissenschaftler*innen. Untersucht werden sollen die Möglichkeiten, die etwa ein organisationsethischer Ansatz bieten könnte, um den Herausforderungen durch die Ökonomisierung zu begegnen. Fragen der Organisationsverantwortung müssen dann an Führungskräfte und Management von Einrichtungen ebenso wie an die politisch Verantwortlichen gestellt werden. Dazu bedarf es neben einer empirischen Bestandsaufnahme (wie etwa die jetzt von der AOK vorgelegte) auch einer weltanschaulich neutralen Wertung, die frei von ideologischen Scheuklappen ist. So sollte nicht weiterhin hospizliche "Begleitung beim Sterben" an der Hand eines Menschen statt "Hilfe zum Sterben" durch die Hand eines anderen als ethisches Mantra gepredigt werden – wie es auch in der jüngsten Bundestagsdebatte zur Suizidhilferegelung wieder zu hören war.