Kapitalistische Verblendung durch idealisiertes Sterben und verteufelte Suizidhilfe

Pflegenotstand in der Negativspirale

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Lieber tot sein wollen als pflegebedürftig? Nur mit Ablenkungsmanövern und Durchhalteparolen ist die Politk der klar absehbaren Katastrophe entgegengetreten. Gegenüber dem Mythos von der hospizlichen Sterbebegleitung blieb die "gottlose" Aufklärung hilflos. Doch plötzlich stehen die untätig Gebliebenen nackt da. In größter kapitalistischer Systemnot wird auf eine Wunderwaffe gesetzt. Sie heißt Jens Spahn.

Wie im Märchen "Des Kaisers neue Kleider"

Im vergangenen Wahlkampf musste Bundeskanzlerin Angela Merkel auf den letzten Metern noch eine bittere Pille schlucken. Wir erinnern uns: Der bisherige Gesundheitsminister Herrmann Gröhe (CDU) hatte mit Amtsantritt im Januar 2014 sein Hauptanliegen verkündet, was er im November 2015 auch wahrmachen konnte: Die Hilfe zur Selbsttötung weitestgehend zu verbieten und zeitgleich die Versorgung Sterbender zu verbessern. Diese Fixierung auf die 2015 allenfalls 250 Suizidbegleitungsfälle und vielleicht 25.000 sterbenskranke PatientInnen in Hospiz- und Palliativ-Einrichtungen hatte eine gravierende Folge: Die chronisch kranken, alten und schwerpflegebedürftigen Menschen wurden systematisch ausgeblendet. Es handelte sich laut Statistischem Bundesamt 2015 um 783.000 Menschen in den Heimen – ganz zu schweigen von den 692.000 Pflegebedürftigen, die zu Hause versorgt wurden.

Unter dem Druck der Verhältnisse war es schließlich die Stimme eines Einzelnen, selbstbewusst und ebenso höflich wie glasklar, welche der perplexen Angela Merkel in der ARD-Wahlarena im vorigen Herbst zu schaffen machte: Die eines blutjungen, sehr sympathischen und engagierten Pflege-Auszubildenden. Der 21-Jährige ließ sich von der merkeltypischen Zusicherung, mit einer "Neuausrichtung der Betreuungsschlüssel" werde hoffentlich bald "alles besser werden" nicht abspeisen. Und auch von ihrer zweiten Beschwichtigungsantwort nicht. Mit seinem Nachhaken: "Wie wollen Sie das denn schaffen, Pflegekräfte fallen nicht vom Himmel" erschien er – in unzähligen Medienaufzeichnungen dieser Szene – wie das Kind im berühmten Märchen, welches es auf einmal ausspricht: Die Politik steht ja völlig nackt da.

Wie hatte es im kapitalistischen System soweit kommen können?

Der Politik war es tatsächlich sehr lange gelungen, vom Pflegeelend abzulenken: mit der Verteufelung der "kommerziellen" Suizidhilfe als "gottlosem Geschäft mit dem Tod" bei gleichzeitiger quasi-religiöser Verklärung der Hospiz- und Palliativversorgung – durch die es sich doch so wunderbar menschenwürdig sterben ließe. Tatsächlich lässt sich mit einem stationären Hospiz kaum Geld verdienen.

Eine detaillierte, fachkundige Kritik wäre jedoch längst angebracht gewesen bei dem Missverhältnis, dass der Platz für den Hospizgast monatlich mit 7.500 Euro um 5.000 Euro höher veranschlagt wird als der Pflegeheimplatz. Zudem müssen PatientInnen im Hospiz aufgrund eines atypischen Sozialgesetz-Finanzierungsmodells nicht einen Cent zuzahlen, während es sich bei der Pflegeversicherung für HeimbewohnerInnen ja nur um eine Teilkasko-Finanzierung mit erheblichem Eigenanteil handelt. Mit der (Wieder-)Entdeckung des vorher weitgehend tabuisierten Themas "Menschlich und spirituell begleitet in Würde sterben" konnte das brisante Pflege- und Demenzthema aus dem öffentlich-politischen Bewusstsein verdrängt werden. Dass HeimbewohnerInnen laut Sozialgesetzbuch der Deluxe-Anspruch auf einen der begehrten Hospizplätze verwehrt ist und diese eh nur für die etwa 2–3 Prozent aller Sterbenden vorbehalten sind, die bestimmte Bedingungen erfüllen – geschenkt. Dabei handelt es sich wohl um eines der bestgehüteten Geheimnisse aus den Tiefen unseres Sozialsystems.

Wie die politischen Täuschungs- und Ablenkungsmanöver so lange Zeit auch gegen humanistische Aufklärungsbemühungen erfolgreich bleiben konnten, ist eigentlich unbegreiflich. Jedenfalls trauten sich (und trauen sich bis heute) selbst entschiedene Suizidhilfebefürworter nicht, gegen den Mythos des Gutmenschentums der inzwischen institutionalisierten Hospizbewegung ein kritisches Wort zu sagen. Ihre propagandistische Stoßrichtung bestand allenfalls in der Beschwörungsformel, dass hospizlich-palliativmedizinische Sterbebegleitung doch gar nicht im Widerspruch zum selbstbestimmten Tod mittels Suizidhilfe steht. 2015, im Vorfeld der entsprechenden Gesetzgebung, war es nur die Humanistische Union (HU), die mit einem Beitrag zum "Hospizmythos – Anspruch und Wirklichkeit" eine gesellschaftspolitische Tiefenanalyse dazu veröffentlichte.

Eine parallele Gesellschaftsentwicklung im Verborgenen, von der auch so gern abgelenkt wird, ist für die sich zuspitzende Pflegekatastrophe mitverantwortlich: Die zunehmende privatwirtschaftliche Übernahme von Pflegeeinrichtungen und Kliniken durch Investoren, denen es im Kapitalinteresse ausschließlich um Gewinne geht. Konzerne machen ihren Häusern eindeutige Vorgaben, wie viel Prozent Rendite sie zu erwirtschaften haben. Nach diesem betriebswirtschaftlichen "Vorbild" wird inzwischen auch von vielen anderen Trägern mit Kennziffern Druck auf ihre Einrichtungen ausgeübt.

Gewinne und Überschüsse sind durch rationalisierte Ausbeutungsverfahren in der Wachstumsbranche Pflege durchaus in erheblichem Maße zu erzielen. In den Tagesschau-Kommentaren vom 17. Mai 2018 schreibt eine Pflegekraft unter dem Namen LiNe:

"Ich habe viele Jahre mit Leib und Seele in der Krankenpflege gearbeitet. Die Situation änderte sich, als die Klinik von einem privaten Konzern übernommen wurde. Die Schichtstärke wurde bis zum Äußersten nach unten und die OP-Zahlen enorm nach oben gefahren. Diesen Mehraufwand hatte ich im Betriebsrat dem Geschäftsführer gegenüber bemängelt. Sein Kommentar: 'Dann muss halt die Schwester schneller laufen!'

Die Pflege, die ich gelernt habe, konnte ich nicht mehr anwenden. Wir haben nur noch durchgeschleust, gepflegt wurde wie am Fließband und betreut gar nicht mehr. Weihnachts- und Urlaubsgeld wurde gestrichen, die Zusatzversorgung reduziert …"

Spahn erkennt den Wahnsinn einer Negativspirale

Auch den neuen Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) traf die Erkenntnis zum Pflegenotstand, der in den Heimen ebenso wie in den Kliniken fatal ist, schlagartig auf wundersame Weise, indem er nämlich mit Pflegekräften Gespräche führte.

Dabei dürften Formulare, auf denen verzweifelte Pflegekräfte Überlastungen und Patientengefährdungen dokumentieren – was von den Leitungsebenen stets abgewiegelt wird – wohl bekannt sein. Einige Beispiele hat die Zeit herausgegriffen und veröffentlicht:

"Die Hilferufe sind kurz und sachlich. Doch was die Formulare erzählen, klingt bedrohlich: 'Gefährdung des Personals durch eingeschränkte Hygiene', heißt es in einem von ihnen. In einem anderen Dokument steht: 'Zeitnahe Medikamenten-Gabe nicht möglich.' Oder gar: 'Pat. postoperativ kollabiert, Präsenz beim ersten Aufstehen konnte nicht gewährleistet werden, → Rea.' Was bedeutet, dass ein frisch operierter Patient zusammengebrochen war und wiederbelebt werden musste, weil niemand bei ihm war, als er versuchte, das erste Mal selbständig aufzustehen."

Spahn hat seine neuen Erkenntnisse im Spiegel-Interview dargelegt, welches auf der Seite seines Ministeriums nachzulesen ist: "In Kliniken und Heimen hat es in den vergangenen Jahren eine wahnsinnige Verdichtung der Arbeit gegeben. Viele Pflegekräfte berichten mir, dass sie zu oft ihrem eigenen Anspruch nicht mehr gerecht werden können, weil sie keine Zeit für die Patienten und Pflegebedürftigen haben. … Viele Pflegende glauben nicht daran, dass wir Politiker wissen, was los ist und dass wir die Kraft haben, etwas zu ändern."

Auf die Frage, wie er sich bei der Vertrauenskrise und Misere überhaupt Abhilfe vorstellen kann, antwortet der Gesundheitsminister: "Ich will die fatale Spirale durchbrechen, die es in der Pflege derzeit gibt: Die Belastung steigt, Kollegen steigen frustriert oder krank aus dem Beruf aus, die Belastung steigt noch weiter. Wir können den Pflegeberuf nur attraktiver machen, indem wir mehr Stellen schaffen und besetzen."

Immerhin: War der vorherige Gesundheitsminister vorrangig mit dem Kampf gegen die gottlose Suizidhilfe befasst, hat der neue immerhin die Erkenntnis öffentlich kundgetan: Unser kapitalistisches Sozialsystem ist längst einem ganz anderen teuflischen Dammbruch und Negativkreislauf anheim gefallen. Ob und mit welchen Maßnahmen im Rahmen eines von Spahn angestrebten Gesamtkonzeptes es überhaupt noch gelingen kann, diesen Prozess zurückzufahren, wird sich erweisen müssen. Hektischer Tatendrang ist nun angesagt.

(Fortsetzung folgt am 24. Mai unter dem Titel: "Pflege am Boden – Revolutionierung des Systems oder bloße Verlockungen?")