Interview

Produktives Streiten zielt auf Erkenntnisgewinn

Offene Debatten sind zentrales Element einer demokratischen Gesellschaft. In der Broschüre "Produktives Streiten", die als Band 8 der Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung erschienen ist, brechen vier Autoren eine Lanze für den Disput. hpd-Autor Martin Bauer sprach mit dem Autorenteam – Tobias Wolfram, Felix Urban, Michael Tezak und Johannes Kurzbuch – über Lagerdenken, Neugierde und den Weg in eine neue produktive Streitkultur.

hpd: Eure Publikation trägt den Titel "Produktives Streiten" – nun haftet "Streit" in der Regel das Image einer destruktiven Angelegenheit an, was versteht ihr also darunter?

Michael Tezak: Wir wollen den Streit wieder als etwas grundlegend Positives aufleben lassen. Ziel unseres Buches ist es, zu einer konstruktiven Streitkultur beizutragen. Darunter verstehen wir ein öffentliches Klima, in dem sich alle dazu ermutigt sehen, für ihre eigenen Ansichten einzutreten, ohne anderen das Vertreten ihrer Überzeugungen abzusprechen.

Johannes Kurzbuch: Genau – Produktives Streiten ist nicht dem "Streit an sich", sondern der Erkenntnis verpflichtet. Aus dem konfrontativen Gewinnenwollen wird im Idealfall ein kooperatives Dazugewinnenwollen.

Beispielbild
"Produktives Streiten" ist der jüngste Band der Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung im Alibri-Verlag.

Ihr stellt einleitend eine Krise des Streitens fest. Welche Ursachen seht ihr dafür, dass in Deutschland fruchtbringende kontroverse Diskussionen seltener geworden sind?

Felix Urban: Wir beobachten, dass seit mehreren Jahren zunehmend gegeneinander angeredet und nicht mehr länger produktiv miteinander gestritten wird. Schon 2016 gaben in einer Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach 18 Prozent der befragten Bundesbürger an, dass man seine Meinung in der Öffentlichkeit nicht mehr frei äußern könne. Ein Jahr später stimmten bei einer Studie des Bonner infas-Instituts für angewandte Sozialwissenschaft nur 52 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass man auch Meinungen tolerieren sollte, denen man eigentlich nicht zustimmen kann. Als einen der wichtigsten Gründe dafür haben wir im Buch die zunehmende gesellschaftliche Lagerbildung beschrieben.

Tobias Wolfram: Man kann das an konkreten Themen festmachen. Ob in der Migrations- und Islamdebatte, der Klimadebatte oder auch in den jüngsten Diskussionen um die Angemessenheit von Maßnahmen gegen Covid-19, die Gesellschaft spaltet sich – und das immer an einer ungefähr gleichen Konfliktlinie zwischen im weitesten Sinne als "links" und "rechts" zu bezeichnenden Lagern. Zum Erhalt des eigenen Weltbildes grenzen sich beide ab oder diffamieren sich gegenseitig – stets im Glauben, auf der richtigen Seite zu stehen. Ein gemeinsamer und produktiver argumentativer Schlagabtausch über wichtige Fragen wird da immer seltener. Die USA liefern aktuell ein eindrückliches Beispiel, wohin eine derartig tiefe Spaltung der Gesellschaft führen kann.

Auf die "Lagerbildung" möchte ich etwas näher eingehen. "Lager" bilden sich ja nicht nur durch die Zugehörigkeit von sozialen Gruppen aus, in denen sich Menschen organisieren. Manchmal sind es ja gerade die bezogenen unvereinbaren Positionen, die das "Lager" herstellen. Ist auch dann eine Diskussion noch möglich und sinnvoll? Wenn beispielsweise die Identitären unterschiedlicher Ausrichtung die Universalität der Menschenrechte ablehnen, muss ich mit ihnen dann noch streiten oder sollte ich meine Energie nicht darauf konzentrieren zu verhindern, dass sie politische Macht erlangen?

Felix Urban: Zunächst muss man dazu beobachten, dass ideologische Lager keine festen Größen darstellen, sondern stets dynamisch sind, das heißt, sie wachsen und schrumpfen, je nachdem wie effektiv sie darin sind, andere Menschen zu überzeugen und deren Vertrauen für sich zu gewinnen. Wer also erfolgreich verhindern möchte, dass "die Falschen" politische Macht erlangen, ist in einer Demokratie wohl oder übel dazu genötigt, die eigenen Wertvorstellungen nicht bloß zu postulieren, sondern sie auf überzeugende Art und Weise argumentativ zu untermauern, so dass sie der Kritik des anderen standhalten.

Tobias Wolfram: Weiterhin sollte man nicht vergessen, dass selbst Überzeugungen wie die Universalität der Menschenrechte nicht einfach gottgegeben sind. Wenn wir nicht in der Lage sind, die moralischen Grundlagen unseres Gesellschaftssystems adäquat gegenüber Andersdenkenden zu verteidigen, sollten wir uns selbstkritisch fragen, weshalb wir überhaupt für sie eintreten. Ganz ehrlich – woher will ich wissen, ob Links- oder Rechtsidentitäre nicht vielleicht einen Punkt haben, wenn ich mir nicht einmal die Mühe gemacht habe, ihre Ansichten hinreichend zu verstehen? Menschen mit radikal unterschiedlichen Weltanschauungen sehen die Welt mit gänzlich anderen Augen. Selbst wenn also ihre Ideologie als Ganzes uns zuwider ist, haben sie möglicherweise in einzelnen Fragen produktive Einsichten gewonnen.

Johannes Kurzbuch: Ob man nun im konkreten Fall jemanden vor sich hat, mit dem es sich zu streiten lohnt, ist eine Frage, die jeder stets für sich selbst klären muss. In unserem Buch arbeiten wir jedoch mit der Annahme, dass man mit etwas Mut, Übung und Selbstreflexion durchaus auch dort ideologische Brücken bauen kann, wo man es zunächst nicht für möglich gehalten hätte.

Interessant fand ich die Feststellung, dass Bildung nur bedingt als "Heilmittel" zur Verbesserung der Diskussionskultur gesehen werden kann. Warum ist das eigentlich so? Wer eine hohe formale Bildung hat, sprich an der Universität war, muss dort doch gelernt haben, wie Debatten geführt werden.

Felix Urban: Unabhängig von der Tendenz, dass die Universität als vermeintliches Refugium des freien Denkens zunehmend durch Lagerdenken und Phänomene wie die "Cancel Culture" torpediert wird, stellen Studien der Bildung als Mittel gegen die beschriebene defizitäre Debattenkultur ein eher schlechtes Zeugnis aus.

Tobias Wolfram: In der Tat ist die Sache leider nicht so einfach. Intelligentere Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, ihre eigenen kognitiven Verzerrungen zu erkennen und gebildetere Anhänger einer Partei sind oft politisch radikaler und passen ihre eigenen Überzeugungen eher und schneller einer geänderten Linie ihrer Partei an. Am Ende sind das natürlich nur statistische Befunde, die keine Aussage über das Individuum oder alle möglichen Formen von Bildung zulassen. Doch die Studienergebnisse veranschaulichen archetypisch die Problematik des "Motivated Reasoning": Menschen nutzen ihre kognitiven Kapazitäten nicht, um der Wahrheit näher zu kommen, sondern um die Fakten bestmöglich im Sinne ihrer Gruppenidentitäten zu interpretieren.

Michael Tezak: Das, was wirklich hilft, ist Neugierde. Menschen, die über ein großes Maß an Neugierde gegenüber neuer wissenschaftlicher Erkenntnis verfügen, sind dazu in der Lage, auf Basis von Fakten ihre Meinung zu ändern. Die Neugierde kann gleichsam als "sozialer Kitt produktiven Streitens" anerkannt werden, weil dem Diskussionspartner mit anderer Weltsicht der Anspruch eigener Weltdeutung nicht aberkannt, sondern vielleicht auch eine dem eigenen Erkenntnisfortschritt zuträgliche Sichtweise zuerkannt wird.

Ein Kapitel nennt ihr "Leitfaden zum Streiten". Was habt ihr da in der Werkzeugkiste?

Michael Tezak: Ausgehend von der Neugierde als Grundvoraussetzung beschreiben wir sechs Leitmotive, die produktives Streiten im Sinne eines Erkenntnisgewinns befördern können. Darunter fallen unter anderem die Informiertheit, Sachlichkeit, Wohlwollen, Ehrlichkeit oder Offenheit. Letztere kann man in Diskussionen ganz konkret üben, indem man aus Feststellungen ("Du bist linksradikal!") Fragen macht ("Verstehe ich dich richtig, dass…?"). Schon Sokrates wusste, dass geschicktes Nachfragen ein sinnvolles Instrument der Wahrheitsfindung sein kann. Die "sokratische Methode" ermöglicht es, Fronten nicht vorschnell verhärten zu lassen und vermittelt Bescheidenheit und Erkenntnisinteresse.

Tobias Wolfram: Da uns das produktive Streiten nicht in die Wiege gelegt wurde, haben wir außerdem zwei Methoden im Buch vorgestellt, die im Sinne der genannten Leitmotive zielführend sind und den Lernprozess des produktiven Streitens erheblich beschleunigen können:

Die erste Technik ist der "ideologische Turing-Test" und zielt darauf ab, die Tiefe des eigenen Verständnisses der Position des anderen zu testen. Sie basiert auf der Annahme, dass eine Diskussion vor allem dann gewinnbringend sein kann, wenn wir die Alternativen zur eigenen Position kennen und sorgsam abgewogen haben.

Die zweite Technik ist die "Doppelcrux-Methode". Sie soll uns dabei helfen, in einer Diskussion die wirkliche, faktische Ursache von Meinungsverschiedenheiten zu identifizieren, damit dieselbe nicht oberflächlich bleibt. Oft hilft die Doppelcrux-Methode auch dabei, festzustellen, dass die grundlegenden Annahmen oder Wünsche oft ähnlicher sind, als vormals gedacht und keine tiefgreifenden moralischen Differenzen, sondern schlicht eine unterschiedliche Faktenbasis der Grund des Streits ist.

Da möchte ich nochmal zurückkommen auf mein Beispiel von vorhin. Welche Möglichkeiten hätte ich denn, ganz konkret, mit jemandem im Gespräch zu bleiben, der (oder die) die Menschenrechte mit kulturalistischen Argumenten relativiert?

Felix Urban: Mittels der Doppelcrux-Methode sollte die Meinungsverschiedenheit zunächst verstanden und möglichst konkret definiert werden. In Bezug auf die Ablehnung von Menschenrechten auf Basis von kulturalistischen Argumenten könnte beispielsweise genauer geklärt werden, auf welchen Grundannahmen die religiös begründete Beschneidung fußt, die dem Recht auf körperliche Unversehrtheit widerspricht. Gemeinsam könnte man dann über die möglicherweise identifizierte Grundannahme, dass das Recht der Religionsfreiheit ein wichtiges ist, wiederum die Gründe für diese Annahme eruieren. Die Meinungsverschiedenheit wird so auf eine tiefere Ebene verschoben, auf der sich gegebenenfalls mehr gemeinsames Terrain finden lässt, das es ermöglicht, den empirischen Grund der unterschiedlichen Überzeugungen zu identifizieren. Klaffende politisch-moralische Gräben können so im Idealfall auf eine Sachfrage heruntergebrochen werden.

Johannes Kurzbuch: Grundlegend sollte die Diskussion dabei immer sachlich und von Neugierde geprägt sein. Sobald sich Diskutanten persönlich angegriffen fühlen, neigen sie zu sogenanntem Reaktanzverhalten, das ist Trotzverhalten als Reaktion auf wahrgenommene Verhaltenseinschränkung oder Versuche der Persönlichkeitsänderung. Eine Diskussion wird dann destruktiv. Es geht nicht mehr um die gemeinsame Wahrheitsfindung, sondern um die Verteidigung der gefühlten Überlegenheit der eigenen Person oder Weltanschauung.

Wie schätzt ihr eigentlich die sozialen Medien beziehungsweise das Internet an sich in Bezug auf eine Streitkultur ein? Eher von Vorteil, eher problematisch oder ist es letztlich gleichgültig, ob Debatten am Biertisch oder im Cyberspace stattfinden?

Michael Tezak: Die sozialen Medien sind sicherlich ein Katalysator für die zunehmend defizitäre Debattenkultur. Die Anonymität und Unpersönlichkeit in virtuellen Diskussionen begünstigt ihre vorschnelle Eskalation und womöglich auch das Lagerdenken. Allerdings bieten Diskussionsforen und Kommentarspalten auch die Möglichkeit des Austausches oder der Überprüfung eigener Standpunkte.

Johannes Kurzbuch: Wir sind allerdings auch frei darin zu wählen, welche Standpunkte wir im Internet angezeigt bekommen wollen und können unsere "Bubble" selbstständig erweitern, um beispielsweise Techniken wie den ideologischen Turing-Test zu üben oder unsere dogmatische Eindimensionalität durch eine erkenntnis- und ergebnisoffene Multidimensionalität auszutauschen.

Felix Urban: Stimmt. Ohne die sozialen Medien hätten wir vier Autoren uns vermutlich außerdem niemals kennengelernt. Die meisten von uns kennen sich über die virtuelle Wahrheitssuche. Erst nach Jahren haben wir den diskursiv genutzten Cyberspace dann mit dem "Biertisch" ausgetauscht.

Tobias Wolfram: Wie jede neue Technologie bieten das Internet und die sozialen Medien im Speziellen Chancen und Risiken. Solange wir uns als Gesellschaft die Einigkeit darüber erhalten, dass uns mehr vereint als trennt und wir alle davon profitieren, unsere unterschiedlichen Perspektiven zum gemeinsamen Vorteil zusammenzubringen, sollten die Potentiale des Netzes für die produktive Gestaltung der Debatte letztendlich überwiegen.

Tobias Wolfram / Felix Urban / Michael Tezak / Johannes Kurzbuch: Produktives Streiten. Auswege aus einer defiztären Debattenkultur. Schriftenreihe der Giordano-Bruno-Stiftung 8. denkladen, 2020, 84 Seiten, geheftet, 7 Euro

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