Real-Life-Vampyre: Blut tut gut

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Lydia Benecke
Lydia Benecke

Sie nennen sich "Real-Life-Vampyre", haben manchmal lange Eckzähne und trinken echtes Menschenblut. Klingt erst mal ganz schön psycho. Aber halt! Nach Ansicht von Kriminalpsychologin Lydia Benecke spricht einiges dafür, dass das Bluttrinken manchen Menschen hilft, emotional belastende Zustände zu bewältigen.

Dark Morcar, Special Guest beim Kölner Skeptics in the Pub, bezeichnet sich selbst als "Vampyr". Er trägt schwarze Kleidung und verlängerte Eckzähne, sogenannte Fangs. Trotzdem konnten sich die Besucher beruhigt zurücklehnen, auch wenn sie nicht gerade eine Knoblauchpizza verspeist hatten. Denn das Beißen in den Hals, so morbid-erotisch es auch aussehen mag, überlässt der moderne Vampyr gern den fiktiven Gestalten wie Dracula und Co. Es wäre schmerzhaft und unhygienisch, und es würde bleibende Spuren hinterlassen – all dies bedeutende Punkte in einer Szene mit hohen ethischen und gesundheitlichen Grundsätzen.

Vampyre wie Morcar betrachten sich ganz realistisch als gewöhnliche Menschen, die halt gern Blut trinken. Sie nehmen im Dunkeln Bahn und Auto, statt durch die Luft zu fliegen, und setzen sich auch gern mal in die Sonne. Um Verwechslungen mit den Fantasygestalten zu vermeiden, bevorzugen sie die Schreibweise mit y, die auch in diesem Artikel verwendet wird.

Mit Sicherheit gibt es mehrere Hundert Vampyre in Deutschland, schätzt Morcar, gewiss auch mehr. Das Blut trinken sie – nach medizinischen Tests – von einem Schnitt oder einer Nadel. Allerdings kommt längst nicht jeder als Spender, auch Donor genannt, in Frage. Oft sind es bestimmte gute Freunde, mit denen man sich besonders verbunden fühlt. Auf diese Weise werde das Bluttrinken zu einer besonders engen Freundschaftserfahrung, erklärt Morcar. Es sei im wahrsten Sinn des Wortes "ein Geben und Nehmen", Quelle eines ganz besonderen Gefühls, das Morcar wie eine Art Rausch schildert. Und nein, mit Sex hat das nichts zu tun.

All dies erfuhren die Besucher beim Skeptics in the Pub am 22. Oktober im Kölner "Herbrand’s", wo Dark Morcar sich dem Publikum für ein "Interview mit dem Vampyr" zur Verfügung stellte. Morcar war Special Guest bei Lydia Beneckes Vortrag über eine ungewöhnliche und vielfach missverstandene Szene. So fremdartig vielen das Bluttrinken erscheinen mag, so deutlich liegt auf der Hand, was die Attraktivität der erdachten Vampire ausmacht, die seit 200 Jahren durch Romane, später auch Filme und Games flattern. Den Anfang machten im 19. Jahrhundert Erzählungen und Romane wie "Der Vampir" von John Polidori (1819) oder Bram Stokers "Dracula" (1897), der die Vorlage für Coppolas 1992er-Film lieferte. Gemeinsam ist den erfundenen Blutsaugern ihre faszinierende Ausstrahlung. Mit ihrer Intelligenz und raschen Auffassungsgabe fällt es ihnen leicht, andere zu manipulieren und einzuschüchtern.

Eine prägende Gestalt der modernen Vampyrszene heißt Father Sebastiaan. Sein Name ist eng mit dem New Yorker Club "Limelight", verbunden, in dem er in den 199ern als Fangsmith (Anfertiger von Vampirzähnen für die Subkultur) auftrat. Mitte der 1990er kamen mit Verbreitung des Internets Chatrooms und Mailinglisten als virtuelle Treffpunkte hinzu. Es formierten sich Communities wie die 2005 gegründete Atlanta Vampire Alliance (AVA) in den USA und die 2002 gegründete deutschsprachige Gruppe "Conventum Tenebrarum", welche sich 2010 in "Nexus Noctis" umbenannte. Und dort wollte man irgendwann wissen, was Menschen zu Vampyren macht. Für die Psychologin wird es an dieser Stelle spannend.

Bereits 2006 legte die AVA eine entsprechende Untersuchung vor, 2014 folgte "Nexus Noctis" mit einer eigenen Befragung, der bislang einzigen im deutschsprachigen Raum.

Doch dieser Teil 3 der Buchreihe "Vampire unter uns", laut Amazon von Mark Benecke und Ines Fischer, ist – im Gegensatz zu dem vorangegangenen Teilen – laut Lydia Benecke pseudowissenschaftlich, also ohne Aussagekraft, und entstand ohne fachlich psychologisches Hintergrundwissen. Noch in Teil 2 hatte die Kriminalpsychologin das auch im Vortrag vorgestellte Erklärungsmodell dargelegt. Der Band ist jedoch nur noch antiquarisch erhältlich.

Zum pseudowissenschaftlichen Charakter der "Nexus-Noctis"-Befragung verweist sie auf Screenshots aus einer Facebook-Gruppe, in denen die Untersuchungsleiterin Teilnehmer vor der Befragung hinsichtlich des gewünschten Ergebnisses beeinflusst habe. Nämlich, dass die Antworten der Befragten belegen sollten, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Vampyr-Subkultur und psychischen Störungen gebe. Nicht der einzige Mangel der Untersuchung, kritisiert die Kriminalpsychologin. Es gebe "keine Literaturliste, keine Quellennachweise, keine Einordnung in irgendeinen Forschungszusammenhang".

Vor allem Letzteres sei aus wissenschaftlicher Sicht zu bedauern, denn trotz Beeinflussung lieferten die Daten spannendes Material, so Benecke. Nicht weniger als 82 Prozent der Befragten gaben an, dass ihr Blutdurst manchmal unerträglich sei. Begleitet werde dieser quälende Zustand häufig von Nervosität, Unruhe, Schlafstörungen, Aggressivität, Anspannung, Konzentrationsschwäche und Kraftlosigkeit. Lauter Symptome, die Fachleute wie Benecke von Menschen mit Traumafolgestörungen kennen, wie Borderline-Persönlichkeitsstörung oder komplexer posttraumatischer Belastungsstörung. (Einen Überblick über Ähnlichkeiten und Unterschiede findet sich hier).

Das passt zur AVA-Untersuchung, in der viele Befragte Diagnosen wie Depression (die bei vielen psychischen Störungen festgestellt wird), Panikattacken, ADS /ADHS (Zusammenhänge zwischen diesen Diagnosen und Traumafolgestörungen sind im wissenschaftlichen Diskurs bekannt), die Bipolare Störung (wird als häufigste Fehldiagnose bei einer eigentlich vorliegenden Borderline Persönlichkeitsstörung genannt) sowie die Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) angaben. Fast die Hälfte von ihnen berichteten außerdem von körperlichen bzw. sexuellen Misshandlungen in der Kindheit. Ein deutlicher Befund, so Benecke, zumal emotionale Misshandlungen nicht berücksichtigt wurden. Sie können zu komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen führen, sind jedoch deutlich schwerer festzustellen. Der Anteil der Personen mit Traumatisierung in der untersuchten Gruppe dürfte also eher noch höher liegen, als die Zahlen suggerieren.

Inwieweit tragen diese Befunde zum psychologischen Verständnis des Vampyrtums bei? Lydia Benecke stellte dazu eine Arbeitshypothese vor. Wir wissen heute, dass im Gehirn von Menschen mit bestimmten Traumafolgestörungen negative Sinnesreize rascher verarbeitet werden und dass solche Wahrnehmungen zu einer Verbesserung der Stimmung führen können. Das klingt seltsam, wurde jedoch durch MRT-Untersuchungen belegt.

Zu den evolutionär sehr stark verankerten negativen Sinnesreizen gehören Kot und Erbrochenes, aber auch – genau, Blut. Real-Life-Vampyre sind demnach Menschen, die festgestellt haben, dass ihnen Blut guttut.

So gesehen, ist das Dasein als Vampyr alles andere als "verrückt", zumal es eine Reihe von weiteren Vorteilen mit sich bringt: Die Betroffenen finden eine Erklärung für ihr Gefühl des Andersseins, erleben in der Gruppe von Gleichgesinnten Gemeinschaft, Intimität und Vertrauen. Und das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein steigert das Selbstvertrauen.

Nach Beneckes Beobachtungen gibt es in der Szene sowohl Borderliner als auch Personen mit einer anderen psychischen Auffälligkeit, der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung, und solche, die keines dieser Merkmale aufweisen. "Vampyrsein als positive Coping-Strategie – das passt zumindest zu den rund 30 Lebensgeschichten von Vampyren, die ich genauer untersucht habe", resümiert Lydia Benecke.

Ihre These sei unter Real-Life-Vampyren allerdings umstritten, räumt sie ein. Für eine aussagekräftige Untersuchung müsste eine größere Stichprobe ausgewertet werden. Zugegeben eine zeitaufwändige Aufgabe. Aber es lohnt sich, ist die Kriminalpsychologin überzeugt: "Wenn jemand das macht, ich würd's feiern!"