HVD Niedersachsen forderte Einhaltung von vertraglichen Vereinbarungen

Religionsunterricht oder Religionskunde?

Der Offene Brief des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) – Niedersachsen an den niedersächsischen Kultusminister Grant Hendrik Tonne im November 2020 hat zu Kommentaren und Stellungnahmen auf der Website des Humanistischen Pressedienstes (hpd) geführt. Auf die Fragen, Einwände und auch Angriffe, die aus der säkularen Szene formuliert wurden, reagiert der HVD Niedersachsen mit einer Klarstellung.

Der Religionsunterricht ist ein Bekenntnisunterricht, der den Schülerinnen und Schülern aus theologischer Perspektive die eigene Religion (und auch andere) näher bringen soll. Der Religionskundeunterricht ist demgegenüber kein Bekenntnisunterricht. Er informiert aus einer neutralen Perspektive heraus über Religionen und Weltanschauungen, die einen wichtigen Teil der Alltagskultur darstellen. Dabei nimmt er eine Außensicht ein und vermittelt säkulares Wissen.

Ein Ziel des Religionsunterrichts ist es, die Schülerinnen und Schüler zu einem interreligiösen Dialog zu befähigen, bei dem religiöse Individuen mit anderen religiösen Individuen auf religiöser Ebene ins verstehende Gespräch miteinander kommen. Demgegenüber verfolgt ein Religionskundeunterricht das Ziel des kulturellen (Fremd-)Verstehens. Das heißt, dass Individuen dazu befähigt werden sollen, das Denken und Handeln religiöser Menschen, Gruppen oder politischer Bewegungen auf der Grundlage von säkularem Wissen über Religionen und Weltanschauungen zu verstehen.

Ganz konkret geht es im Rahmen des Religionskundeunterrichts beispielsweise darum, religiöse Motive und Symbole in politischen Statements (zum Beispiel die Aussage von George Bush Junior zur "Achse des Bösen") oder deren Wirkung in der Alltagskultur zu identifizieren, zu dekonstruieren, in einen Kontext zu bringen und kritisch zu beurteilen. Hier werden auch Phänomene wie kulturelle Adaption (zum Beispiel: Warum ist die Handlung in dem Coldplay-Video zum Musiktitel "Hymn For The Weekend" an religiösen Praktiken wie Holi ausgerichtet?) und die eurozentristische Sichtweise auf Kultur(en) kritisch beleuchtet (zum Beispiel: Gab es den Hinduismus schon, bevor die Europäer Indien kolonialisierten?). Auch Fragen nach dem konkreten persönlichen Umfeld werden behandelt (zum Beispiel: Warum trägt ein Mädchen ein Kopftuch, ein anderes nicht – obwohl doch beide Musliminnen sind?).

Wie bereits im vorausgehenden Punkt verdeutlicht, sind Religionen und Weltanschauungen sowie religiös und weltanschaulich gebundene Menschen und Gruppen ein grundlegender Bestandteil unserer Gesellschaft, unserer Kultur und Politik. Diese Tatsache aus dem Schulalltag auszuklammern, würde bedeuten, diesen wesentlichen Teil des Alltagslebens und der Alltagserfahrung von Schülerinnen und Schülern aus dem neutralen Bildungsangebot der Schulen herauszuhalten.

Ohne religionskundlichen Unterricht wird den Schülerinnen und Schülern – wenn überhaupt – alleine ein theologisch fundiertes Angebot und damit eine theologische Sichtweise von Religionen und Weltanschauungen vermittelt, denn anders als in Frankreich gibt es in Deutschland den Religionsunterricht auch weiterhin. Den Schülerinnen und Schülern fehlt dann der Zugang zu säkularem Wissen in diesem Bereich.

Auch ein Fach wie Humanistische Lebenskunde ist ein Bekenntnisfach und kein Ethik-Fach. Der HVD Niedersachsen setzt sich für die Vermittlung von säkularem Wissen über Religionen und Weltanschauungen ein – dazu sind wir durch unseren Staatsvertrag mit dem Land Niedersachsen verpflichtet. Ein Fach wie Humanistische Lebenskunde könnte allerdings durchaus ein sinnvolles Zusatzangebot darstellen.

Der HVD Niedersachsen ist der Überzeugung, dass die Kombination von Ethik und Religionskunde eine große Chance darstellt, diese beiden Bereiche des Alltagslebens auch kritisch miteinander in Beziehung zu setzen.

Wer sich mit der Konzeption des Religionskundeunterrichts und dem Konzept des säkularen Wissens über Religion vertraut machen möchte, dem sei dieser Artikel von Katharina Frank von der Universität Zürich (Forschungsbereich "Religion und Kultur") empfohlen.

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