Room 28 – eine Keimzelle der Menschlichkeit

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Hannelore Brenner, Autorin, Herausgeberin, Vorstandsmitglied des Vereins "Room 28 e. V.", der 2007 in Berlin gegründet wurde
Hannelore Brenner, Autorin, Herausgeberin, Vorstandsmitglied des Vereins "Room 28 e. V.", der 2007 in Berlin gegründet wurde

Im März 2017 erschien bei Edition Room 28 ein Kompendium zum Room 28 Bildungsprojekt. Es beruht auf dem Schicksal jüdischer Mädchen, deren Wege einst im Ghetto Theresienstadt zusammentrafen. Für den hpd sprach Evelin Frerk mit der Autorin Hannelore Brenner.

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hpd: Am 6. Mai wird in Brüssel das "Haus der Europäischen Geschichte" eröffnet. Ich kenne die Ausstellung "Die Mädchen von Zimmer 28" seit 2008, als sie im Deutschen Bundestag gezeigt wurde und habe sie auch bei der Europäischen Kommission in Brüssel erlebt. Ihr Projekt ist ein europäisches, internationales, die Ausstellung gibt es inzwischen in mehreren Sprachen. Wäre dies nicht auch ein Ort für eine ständige Ausstellung?

Hannelore Brenner: Das ist interessant, dass Sie das Haus der Europäischen Geschichte erwähnen. Ich bin zufällig Leihgeberin geworden, und eigentlich sollte ich jetzt zur Eröffnung in Brüssel sein. Ich habe Objekte überlassen, die sich eklatant widerstreiten. Einerseits einen originalen Judenstern, andererseits BDM-Abzeichen, die ich nach dem Tod meiner Mutter fand. Sie war im Bund Deutscher Mädchen und hatte diese Abzeichen und Fotos aus der Zeit – auch ein minikleines Heftchen mit Naziliedern – bis an ihre Lebensende aufbewahrt.

Hat Ihre Kindheit, Ihre persönliche Geschichte mit dem Interesse am Holocaust zu tun?

Gewiss. Es hat mit der ganzen Heuchelei und Verlogenheit der Nachkriegsära zu tun, mit der menschlich vergifteten Atmosphäre, dem Nazigeist, der immer noch vorherrschte, auch wenn er sich verdrücken musste und sich in seltsamen Äußerungen und Verhaltensweisen manifestierte. Ich habe als Kind sehr darunter gelitten. Aber ich hab natürlich erst später verstanden, woher das kam.

Und woher die starke Affinität zur jüdischen Seite? Sie waren viele Jahre Mitarbeiterin des amerikanischen Autors Peter Wyden, der in Berlin geboren wurde und 1938 mit seiner Familie nach Amerika emigrierte? Auch Mitarbeiterin des deutschen Exil-Schriftstellers und Shakespeare-Übersetzers Hans Rothe.

Hans Rothe war nicht jüdisch, aber auch er ein Vertriebener der Nazis. Woher die Affinität kommt, weiß ich nicht. Aber sie ist da. Auch bei meinen Vorfahren, ich habe einen Cousin, dessen Mutter, die Schwester meines Vaters, wegen Rassenschande nach Ravensbrück kam, und dessen Vater – wie ich erst viele Jahre später erfuhr - in Sobibor umkam. Ich kann nur sagen: In der Gruppe der Frauen vom Zimmer 28 habe ich vielleicht genau das gefunden, was ich in meiner Kindheit vermisste: ein offenes, herzliches, tolerantes Miteinander.

Sie wurden zur Vermittlerin der Geschichte dieser "Mädchen von Zimmer 28". 2004 veröffentlichten Sie das Buch und zeigten erstmals die Ausstellung. Ihr Logo heißt: Room 28 Projects. Was ist unter diesen ‘Room 28 Projects‘ zu verstehen?

Der Name steht für die Gesamtheit der Werke, Projekte und Aktivitäten, die aus diesem jüdisch-deutschen Bündnis resultierten, und die ich über die Jahre organisierte und realisierte. Die Ausstellung war inzwischen an über siebzig Orten in Deutschland. Es entstand eine tschechische, französische und englische Variante und 2014 eine Ausstellung in neuem Design in Brasilien. Im Rahmen der Ausstellung oder aus anderem Anlass wurden die Frauen als Zeitzeuginnen häufig eingeladen, es gab in all den Jahren viele Begegnungen und Gespräche mit jungen Menschen oder Lesungen – vor allem mit Helga Pollak-Kinsky. Sie ist die Autorin eines Tagebuchs, das es überhaupt erst möglich machte, die Geschichte dieser Mädchen zu erzählen. Unsere letzte Veranstaltung fand im Stadtsaal in Wien statt – eine Lesung im Rahmen des Holocaust-Gedenktages. Bundespräsident Van der Bellen sprach das Grußwort, Helga las aus ihrem Tagebuch und das Berliner Ensemble Zwockhaus sang Lieder des Theresienstädter Kabaretts und von Ilse Weber. Es war eine herausragende Veranstaltung und ich freue mich, dass der ORF in Wien sie aufzeichnete und bald eine CD herausbringen wird.

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Was ist denn konkret dieses Zimmer 28?

Es war ein Zimmer im sogenannten Mädchenheim L 410 im Ghetto Theresienstadt, in dem jüdische Mädchen des Jahrgangs 1930 in den Jahren 1942 und 1944 zusammen lebten. Sie wurden von Pädagogen betreut, die alles daran setzen, die Kinder vor dem Elend abzuschirmen und ihnen ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen. Natürlich war trotzdem die Angst immer da, die Angst vor den Transporten nach Osten. Immer wieder mussten einige von ihnen antreten zu einem Transport nach Auschwitz. Von etwa 60 Kindern, die vorübergehend im Zimmer 28 lebten, haben 15 überlebt.

Aktuell haben Sie ein Kompendium zum 'Room 28 Bildungsprojekt' veröffentlicht. Was ist der Inhalt?

Das Kompendium ist eine Einführung in das Bildungsprojekt, das auf der Geschichte dieser Mädchen beruht. Es vermittelt die Anfänge, Motive und Ziele der Room 28 Projects, enthält Beiträge zum pädagogischen Wert des Projektes verfasst von Peter Gstettner, Detlef Pech, Bertram Noback – sie sind Beiratsmitglieder des Bildungsprojektes - , Auszüge von Lehrmaterialien, die im Rahmen eines geförderten deutsch-tschechischen Projektes entstanden sind, sowie Informationen zum Stand des Gesamtprojektes mit allen seinen verschiedenen Elementen und Facetten. Auch eine CD mit dem 2003 vom Südwestrundfunk produzierten Hörfunkfeature über diese Mädchen ist in dem Kompendium enthalten.

"Die Entwicklung von Persönlichkeit, von Humanisierung des Menschen braucht ein Gegenüber. Und welche Kraft dies haben kann, dafür steht die Geschichte der Mädchen von Zimmer 28"

An wen richtet sich das Kompendium? Worin besteht der eigentlich pädagogische Wert?

Es richtet sich an Schulen, Hochschulen, Bildungsinstitutionen, PädagogInnen, LehrerInnen, Kulturakteure aus allen Bereichen und an interessierte LeserInnen. Der pädagogische Wert? Ich möchte es in aller Kürze mit einem Zitat auf den Punkt bringen. Professor Detlef Pech, Professor für Grundschulpädagogik an der Humboldt Universität zu Berlin, formulierte es so: "Die Entwicklung von Persönlichkeit, von Humanisierung des Menschen braucht ein Gegenüber. Und welche Kraft dies haben kann, dafür steht die Geschichte der Mädchen von Zimmer 28".

Eine Geschichte des Holocaust mit starker menschlicher Ausstrahlungskraft…

Ja, ich denke schon, so ist es. Das Room 28 Bildungsprojekt ist mehr als nur ein Holocaust-Erinnerungsprojekt oder ein Geschichtsprojekt. Es ist vor allem ein Kulturprojekt, eines, von dem überraschende Impulse ausgehen. Um nur ein Beispiel zu nennen: das Holocaust Kunstprojekt der Fotografin Keron Psillas in Amerika "Loss and Beauty". Es wurde inspiriert von dem Buch "The Girls of Room 28" – die amerikanische Ausgabe des Buches gibt es seit 2009. Der Ausstellungskatalog ist den Überlebenden vom Zimmer 28 gewidmet, und wann immer Keron ihre Ausstellung vorstellt und davon erzählt, wie schwierig es war, das in Auschwitz, Theresienstadt und an anderen Orten des Holocaust Gesehene, Erlebte und Fotografierte künstlerisch umzusetzen, fällt der Satz: "I was searching for a way to respond, artistically and authentically. Then I read the story of the Girls of Room 28. They showed me the way". Diese Mädchen machten es ihr möglich, sagt sie, Bilder zu schaffen und in einen Dialog zu treten über die erhebende, heilende und unterstützende Kraft des kreativen Aktes.

Zur Ausstellung – aus gehört alles dazu?

Die deutsche Version der Ausstellung besteht aus 25 A0 Tafeln, etwa 30 A3 Tafeln mit Kinderzeichnungen aus Theresienstadt, die im Malunterricht mit Friedl Dicker-Brandeis entstanden sind, und dem Nachbau des Zimmers 28, mit Stockbetten, Tisch und zwei Bänken. Der Deutsche Bundestag hatte diesen Nachbau der Ausstellung im Januar 2008 hinzugefügt und dann dem Verein Room 28 überlassen - dieser Verein entstand 2007, um das Projekt zu unterstützen. Nur dank der Firma Zapf umzuege, die die Lagerung sponsert, gibt es den Nachbau heute noch. Aber das Interieur, vor allem die Stockbetten, müssen erneuert werden. Die gesamte Ausstellung bedarf der Erneuerung und Erweiterung und das Bildungsprojekt muss auf eine solide Basis gestellt werden. Dies ist ein wesentliches Anliegen des Kompendiums: Inhalte, Angebote, Chancen und Ziele des Projektes zu vermitteln, nicht zuletzt auch, um diejenigen zu erreichen, die es unterstützen würden, wenn sie davon wüssten. Hinter dem Projekt steht eine Vision, wir verfolgen ein Ziel.

Stockbetten im "Room 28", Foto: @ Evelin Frerk
Stockbetten im "Room 28", Foto: @ Evelin Frerk

Welches Ziel? Welche Vision? Wer ist wir?

Wir – das sind die Frauen, mit denen ich mich verbündete, um ein bleibendes Gedenken zu schaffen. Das sind Freunde und Verbündete der Room 28 Projects, Beiratsmitglieder des Bildungsprojektes und Mitglieder von Room 28 e.V. Der Verein wird dieses Jahr zehn Jahre alt. Er ist klein, wir haben 25 Mitglieder. Aber nun heißt es, diesen Verein stark zu machen, ihm mehr Leben zu geben, um das Ziel zu erreichen.

Ich habe die "wandernde" Ausstellung im Januar 2008 im Deutschen Bundestag erlebt, im Januar 2009 im Jüdischen Museum in Rendsburg und 2013 bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Was ist das Besondere der Ausstellung und des Projektes mit den "Mädchen von Zimmer 28"? Anders gefragt: Gibt es ein Alleinstellungsmerkmal?

Die Europäische Kommission hat dies in der Einladung zur Ausstellung treffend formuliert: "This is a unique project focusing on the solidarity, compassion and resilience which developed as a reaction to the abnormal situation of living in a ghetto with the constant threat of transportation to the East." Übersetzt also: Dies ist ein einzigartiges Projekt. Es geht darin um Solidarität, Mitgefühl und Resilienz – Widerstandskraft –, und darum, wie sich diese Eigenschaften entwickelten als Reaktion auf die anormale Situation, in einem Ghetto leben zu müssen, in ständiger Angst vor dem Transport nach Osten.

Resilienz – ein Wort, eine Fähigkeit, die heute immer mehr an Bedeutung gewinnt –

Ja. Im Kompendium gibt es dazu einen Beitrag von Lisbeth Wutte: "Resilienz. Wozu uns Widerstände herausfordern". Lisbeth ist Theaterpädagogin und Mitarbeiterin bei StArt – eine Organisation, die pädagogisch-therapeutische Nothilfe im Ausland leistet. Dieser Beitrag führt direkt ins Heute. Und das war von Anfang an die Absicht: zukunftsorientiertes Erinnern; eine Botschaft in die Zukunft zu tragen. Das Projekt wurzelt in dem Wunsch der Überlebenden, dass mit der Erinnerung an das Zimmer 28 auch jene Werte weiter leben, die für die Frauen wichtig wurden: Mitgefühl, Respekt, Solidarität, Freundschaft, Kultur. Es wurzelt auch in der Hoffnung, dass die Geschichte dieser Mädchen als Mahnung und als Beispiel dafür dienen möge, "wie leicht ein neuer Holocaust geschehen kann, wenn gutwillige Menschen gleichgültig sind und es hasserfüllten Fanatikern erlauben, an die Macht zu kommen." -So hat es Handa Drori, eine der Überlebenden von Zimmer 28, formuliert.

Keimzelle der Menschlichkeit

Was bedeutet "Zimmer 28/Room 28" für Sie–- im übertragenen Sinne? Es ist ja direkt programmatisch geworden: Room 28.

Das stimmt. Es ist Symbol – und dafür steht der Ma’agal - und Programm zugleich. Für mich ist dieses Zimmer 28/Room 28 so etwas wie eine Keimzelle der Menschlichkeit. Was da im Mikrokosmos Zimmer 28 dank engagierter Erwachsener – Pädagogen, Lehrer, Künstler – geschah und sich durch die Überlebenden und durch die überlieferten Dokumente und Zeugnisse manifestiert, lässt erahnen, welche elementare Bedeutung kulturellem Schaffen, künstlerischen Leistungen und ethischen Werten zukommt, welche Kraft Kunst und Kultur zu entfalten vermögen im Ringen um Selbstbehauptung, um die Behauptung der eigenen Identität und Würde.

Flagge der Mädchen von Zimmer 28
Flagge der Mädchen von Zimmer 28 mit ihrem Symbol, dem Ma’agal – Hebräisch für Kreis, im übertragenen Sinne Vollkommenheit. Danach wollten sie streben.

Wie kam die Ausstellung nach Brasilien?

Auf höchst wundersame Weise. Auch darüber informiert das Kompendium. Die Ausstellung in Brasilien, die sehr viel aufwändiger und künstlerischer gestaltet findet eine erstaunlich große Resonanz. In Deutschland wird das Projekt sehr schnell in eine Schublade getan unter die Kategorie: Holocaustprojekt, Zeitzeugenprojekt, NS-Geschichte. Und diese Schublade ist ja übervoll. Anders natürlich in Brasilien. Aber es kommt hinzu, dass die brasilianische Ausstellungsmacherin Karen Zolko intuitiv verstand, um was es bei dem Projekt eigentlich geht.

Im Kompendium las ich in einem Kapitel zur Jüdischen Kultur, wie wenig die Mädchen in ihrer Kindheit von ihren jüdischen Wurzeln wussten. Die meisten kamen aus assimilierten Familien.

Ja. In seinem Beitrag zur Jüdischen Kultur beleuchtet Christian Walda einen Aspekt, den wir heute viel mehr ins öffentliche Bewusstsein rücken müssten. "Die Mädchen von Zimmer 28", schreibt er, "sind um 1930 geboren und gehörten damit einer Generation an, die verhältnismäßig weltlich orientiert (säkularisiert) heranwuchs. Die jungen Leute wurden von einer Atmosphäre geprägt, in der allgemein Kultur wie Musik und Literatur einen höheren Stellenwert hatte als Religion. Nicht wenige von den Mädchen haben vor ihrer Verfolgung nicht einmal gewusst, dass ihre Familie jüdischer Herkunft waren." – Genau so war es. Wie weit sind wir doch hinter diese Zeit zurückgefallen – fast 90 Jahre später! Es wäre doch viel besser für unsere Welt, wenn Kultur, Kunst, Literatur einen höheren Stellenwert hätte als Religion.

Es gibt vier verschiedene Room 28 Websites. Ein bisschen irritierend. Wie kommt das?

Ich weiß, das ist ein Problem. Es begann mit den Room 28 Projects im Jahre 2005 und mit der Website www.room28projects.com. Sie informiert über das Gesamtprojekt, inzwischen hauptsächlich über die Ausstellung, auch die in Brasilien. Dann kam 2007 der Verein, also gibt es eine Vereinswebsite: www.verein-room28.de. Mit der Herausgabe des Buches "Mein Theresienstädter Tagebuch" entstand die Edition Room 28 und damit www.edition-room28.de Und im Rahmen des geförderten deutsch-tschechischen Projektes zur Erstellung von Lehrmaterialien entstand www.room28education.net. Leider mache ich ja heute noch alles allein, auch diese Websites, und da ist es kein Wunder, dass all das nicht so ist wie es idealerweise sein sollte. Ich arbeite aber darauf hin. Ein Medium hierzu ist übrigens auch das Kompendium. Es richtet sich auch an potentielle Förderer und Kooperationspartner.

Wie kann der hpd-Leser das Kompendium bekommen ?

Ganz einfach. Es ist gegen eine Schutzgebühr von 25 €uro an den Verein Room 28 erhältlich. Dieses Geld und Spenden an den Verein dienen der Weiterentwicklung des Bildungsprojekts.

Frau Brenner, Ihnen vielen Dank und den Lesern Freude, das Projekt zu entdecken.