Notizen aus Polen

Die "Smoleńsk-Religion"

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Proteste in Warschau
Proteste in Warschau

Am 10. April vor sieben Jahren stürzte ein polnisches Regierungsflugzeug mit dem Präsidenten Lech Kaczynski und 95 weiteren prominenten Politikern, Generälen, hohen Beamten, Bischöfen und Besatzungsmitgliedern an Bord in der Nähe des russischen Smoleńsk in den Tod. Seit damals veranstaltet Jarosław Kaczyński, der Zwillingsbruder des verunglücken Präsidenten, am 10. jeden Monats eine Gedenkfeier. Nach der Machübernahme im Herbst 2015 nutzt die regierende PiS-Partei den Absturz für den politischen Kampf mit der Opposition und für die Konsolidierung ihrer Anhänger. Kurz vor dem Jahrestag 2017 verschärfte die Regierenden ihre Vorwürfe gegenüber den russischen Lotsen in Smolensk. Es hieß, die Katastrophe könne mit Absicht herbeigeführt worden sein.

Die monatlichen Feierlichkeiten könnte man als eine polnische Sehenswürdigkeit betrachten, aber das Problem ist wesentlich tiefer. Der bekannte Philosoph Professor Zbigniew Mikołejko hat das Phänomen als "säkulare Smoleńsk Religion" bezeichnet. Mit der Zustimmung der Katholischen Kirche werden bei diesen Feierlichkeiten religiöse Rituale verwendet. Die "Gläubigen" gehen in einer Prozession mit den Priestern an der Spitze, singen die religiösen Liedern, trugen Bannern, Kreuze, Heiligenbilder und Kerzen. Am Ziel, vor dem Präsidentenpalast, wird eine "heilige Messe" zelebriert und der Rede von Jarosław Kaczyński zugehört. Während dieser Reden entstanden auch seine bekanntesten Schimpfworte gegen die Opposition.

Jede Religion braucht Märtyrer – diese Rolle wurde dem "gefallenen" (es war doch Attentat!) Präsidenten, Lech Kaczyński, zugeteilt. Der Kult um ihn wird konsequent ausgebaut. Sein Sarkophag steht im Wawel-Schloss in Krakau neben denen der polnischen Könige. Seinen Namen tragen zahlreiche Straßen, Schulen und öffentliche Institutionen. Seine Denkmale sind in immer mehr polnischen Städten zu sehen.

Doch wer sind die Anhänger der neuer Religion? Nach Professor Mikołejko sind das die Verlierer der neoliberalen politischen Wende 1989. Die liberalen Reformatoren behaupteten, dass diese Leute an ihrem Elend selber schuld sind; weil sie unfähig oder unwillig sind, die unbegrenzten Chancen der freien Wirtschaft zu nutzen. Die andere Gruppe der Anhänger sind die, die ganz gut leben, aber nicht dulden, dass den anderen besser geht. Der deutsche Kanzler, Ludwig Erhard, sagte einmal über solche Typen, dass sie mit der Hand in der Tasche des Nachbarn leben. Zu dieser Art Anhänger gehören auch die jungen Nationalisten, die neue Symbole, Mythen und Rituale brauchen.

Eine Gruppe der Aktivisten, Obywatele RP (Bürger der Republik) haben vor einem Jahr zu den Ritualen der "Smoleńsk Religion" entscheidenden NEIN! gesagt. Jeden 10. des Monats protestieren sie still und mit großer Bannern vor dem Präsidentenpalast – gegenüber den "Gläubigen" und dem Rednerpodest von Jarosław Kaczyński. Auf den Bannern sind Zitate von Lech Kaczyński zu lesen, in denen er die Wichtigkeit der Verfassung, des Verfassungsgerichts, der Meinungsfreiheit etc. betonte. All das, was sein Zwillingsbruder jetzt vernichtet. Im Laufe der Zeit haben sich immer mehr Bürger den Protestierenden der Obywatele RP angeschlossen. Es sind schon nicht mehr nur stille Proteste. Die Demonstranten störten bereits lautstark die Reden von Kaczyński. Das machte diesen nervös und er verschärfte seine Beleidigungen gegen die Protestierenden.

Foto: © Elżbieta Rucińska
Polizeiabsperrungen am 10.04.2017, Foto: © Elżbieta Rucińska

Das neue Gesetz über öffentliche Versammlungen hat eine neue Kategorie der sogenannten "zyklischen öffentlichen Versammlungen" eingeführt. Solche Veranstaltungen dürfen nicht gestört werden. Am 10. April 2017 durften die Obywatele RP vor dem Präsidentenpalast nicht mehr erscheinen. Die gesamte Strecke der Smoleńsk-Prozesions – von der Kathedrale in der Altstadt bis zum Präsidentenpalast – wurde mit einem Polizeikordon, mit Polizeifahrzeugen und mit eisernen Leitplanken abgesperrt. Einige Tausend Menschen haben sich am danebengelegenen Piłsudski-Platz versammelt. Viele trugen weiße Rosen, das Symbol der Proteste gegen die "Smoleńsk-Religion"-Rituale. Sie versuchten vergeblich, sich der Prozession der Kaczyński Anhänger anzuschließen. Ihr Argument: Wenn das jetzt eine offizielle staatliche Veranstaltung ist, dann darf doch jeder Bürger teilnehmen, die Protestierenden auch.

Das sah die Staatsmacht jedoch anders: Es kam zu den Auseinandersetzungen mit der Polizei. Ist das der Anfang der gewalttätigen Konfrontationen der PiS-Regierung mit den Bürgern?