Am 24.8.2015 veröffentlichten die Ahrar Al-Sham mehrere Beschlüsse und Dokumente, in denen sie ihren syrischen Charakter unterstrich, sowohl hinsichtlich der Nationalität ihrer Mitglieder als auch ihres Leitbilds. Des Weiteren verneinten sie jegliche Bindung zur Nusra-Front. Inhalt dieser Beschlüsse war u.a. die Suspendierung mehrerer Anführer, die dem radikalen Flügel zugerechnet wurden, etwa des Richters Abu Shu’aib Al-Masri, der die Publikationen von Labib Al-Nahhas kritisierte. Labib Al-Nahhas machte 2015 auf sich aufmerksam. Er war Mitglied des Politbüros und Leiter des Büros für auswärtige Beziehungen der Ahrar Al-Sham. Er wandte sich in Englisch an die westliche Öffentlichkeit und wichtige Entscheidungsträger dort, beispielsweise in der New York Times und im Daily Telegraph. Darin sehen viele Beobachter einen pragmatischen Wandel dieser Gruppierung: Statt die Moderne zu verteufeln und den Westen pauschal für ungläubig zu erklären, beginnt sie, die Grundlagen der politischen Arbeit zu erlernen und deren Methoden anzuwenden. So hat man am 9. und 10. Dezember 2015 einen Abgeordneten zu den in Riad abgehaltenen Gesprächen geschickt und die Verhandlungen von Genf nicht kategorisch abgelehnt. Zwar handelt es sich immer noch um eine jihadistische Bewegung, die Bashar Assad mit Waffengewalt stürzen will, doch sie scheint auch daran zu glauben, dass man Lösungen durch politische Verhandlungen und einen politischen Konsens erzielen kann – auch, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.
Innenpolitisch haben die Ahrar al-Sham die regionale Verwaltung Zivilisten anvertraut, die ihr Vertrauen genießen. Im Gegensatz zur Nusra-Front oder zum IS haben sie hier nicht die Macht an sich gerissen. Dieser geistige und ideologische Wandel befindet sich noch am Anfang, auch wenn die Unterschiede zum Mainstream des Jihad-Salafismus evident sind. Daher ist es an dieser Stelle überflüssig zu betonen, dass nicht alle Anführer und Mitglieder diesen Wandel als positive Entwicklung sehen. Innerhalb der Organisation gibt es Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Lager, gerade wenn es um Grundsätzliches geht, wie die Konferenzen in Riad bzw. Genf, die Beziehung zum IS oder aber um Verhandlungen mit dem Assad-Regime.
Manche Beobachter halten diese widersprüchlichen Haltungen für inszeniert. Jedoch kann der Verfasser dieses Artikels nach diversen Interviews mit einigen Anführern bestätigen, dass es weder Inszenierungen gibt, noch dass sich Verantwortliche der Ahrar al-Sham gegenseitig Rollen zuschieben, wie ihnen teilweise vorgeworfen wird. Im Gegenteil: Vielmehr existieren Streitereien, die ein Höchstmaß an Spannung erzeugen. Dabei geht es um zwei Lager: Das erste ist offen und bereit, sich an die Welt und die Moderne anzupassen und lehnt es ab, sich aufgrund von Glaubensfragen den Rest der Welt zum Feind zu machen. Beim zweiten Lager handelt es sich um eine Strömung, die sich bemüht, sogenannte Konstanten des Jihad zu erhalten. So erklären etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder Abu Qatada Al-Falastini, beide palästinensischen Ursprungs und wohnhaft in Jordanien, die Reformwilligen für Ungläubige. Beide sind wichtige Quellen für al-Qaida Anhänger bzw. die Anhänger der al-Nusra-Front, auf ihre Kommentare und Tweets berufen sie sich und teilen diese.
Trotz aller Rückschläge verfügt die Organisation über einen bestimmten Professionalisierungsgrad, die ihr die Fortführung ihrer Arbeit erlaubt – auch nach der Ermordung all ihrer Anführer des ersten und zweiten Grades am 9. September 2014. Ihre Auflösung, etwa wie bei der Tawhid-Brigade nach dem Tod ihres Anführers Abdel-Kader Saleh, stand nie zur Debatte. So werden bis dato die Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, ohne große Abspaltungen innerhalb der eigenen Reihen zu befürchten. Es scheint, dass der Wandel auf die ideologischer Ebene dazu geführt hat, den Raum der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe zu vergrößern.
Es kann resümiert werden, dass die Erfahrungen mit dem Jihad-Salafismus seine syrischen Anführer dazu gebracht haben, den bestehenden Salafismus tiefgründig zu analysieren und ihn neu zu bewerten. Das Ergebnis ist hier eine neue salafistische Richtung, die nicht dem Nihilismus verfallen ist und die das Ziel hat, sich mit der Gesellschaft zu versöhnen und nationale Konzepte zu verfolgen. Noch erscheint es zu früh, über die Perspektiven dieser neuen Strömung zu sprechen. Mit Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass sie den jihadistischen Organisationen wie IS oder Nusra-Front in erbitterter Feindschaft gegenübersteht. Denn sie konkurriert nicht nur mit ihnen um dieselben Ressourcen und denselben personellen Zulauf, sondern sie führt grundsätzliche Debatten, die die Legitimität der Nusra-Front und des ISin Frage stellen. Die Narrative der Ahrar Al-Sham unterscheiden sich von denen der al-Qaida oder des IS. Außerdem vertreten sie eine klare Botschaft: In ihren Augen haben die al-Qaida und der IS der Region nur Ruin und Zerstörung gebracht. Man scheint aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu wollen.
Bei aller Skepsis im Umgang mit den Ahrar Al-Sham ist es wichtig, zu verstehen, dass die Ahrar Al-Sham eine Art Sicherheitsventil darstellen, denn sie können vielen, die sich vom Salafismus angezogen fühlen, ein Zuhause bieten und dadurch verhindern, dass sie sich der Nusra-Front oder dem IS anschließen. Sie stellen für viele Salafisten eine passende oder akzeptable Alternative dar.
Der "Islamische Staat" und die Nusra-Front
Die Nusra-Front ging aus dem Krieg zwischen Februar und Juni 2014 gegen den IS als Verlierer hervor. Der IS schaffte es, sie aus Deir Al-Zor zu vertreiben, einem Gebiet, das für ihn hinsichtlich natürlicher Ressourcen und personellen Zulaufs am wichtigsten war. Daraufhin folgten große Liquidierungsaktionen gegenüber Stämmen, die mit der Nusra-Front verbündet waren. Diese Niederlage hatte ebenfalls zur Folge, dass Al-Nusra Führer Abu Maria Al-Qahtani (ein Iraker), der als weniger radikal gilt, abgezogen und nach Dar’a abgeordnet wurde. Er wurde seines Amtes als oberster Scharia-Richter enthoben und vom Jordanier Sami Al-Aridi beerbt. Letzterer gilt als Hardliner gegenüber Allen, die dem Jihad-Salafismus widersprechen, wodurch die Nusra-Front dem IS ein Stück ähnlicher wurde. Seine Mentoren und Lehrer, Abu Muhammad Al-Maqdesi und Abu Qatada Al-Falastini, spielten eine bedeutende Rolle bei der Abspaltung der Nusra-Front von anderen syrischen Jihad-Gruppierungen. Denn ihre Fatwas erklärten jeden, der ihren Aussagen widersprach, zum Ungläubigen.
Somit lässt sich sagen, dass die Niederlage der Nusra-Front gegen den IS gleichzeitig auch ein Sieg des radikaleren Zweigs innerhalb der Nusra-Front darstellte, der dem IS in Ideologie und Handlungen sehr ähnelt. Diese Konflikte spiegelten sich in den Reden und Interviews des Nusra-Front-Anführers, Al-Julani, zwischen Mai und Dezember 2015 wieder. Des Weiteren kann festgehalten werden, dass die US-geführten Luftangriffe die Nusra-Front zusätzlich radikalisierten, vor allem, was ihren Umgang mit anderen Rebellengruppen betraf, insbesondere denjenigen, die von den USA unterstützt wurden. So wurden sämtliche Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) im nördlichen Syrien von der Nusra-Front angegriffen, etwa die "Front Syrischer Revolutionäre" mit ihrem Anführer Jamal Maarouf oder die "Hazem-Bewegung". Der IS und die Nusra-Front teilen dasselbe Narrativ. Sie gehören dem jihadistischen Salafismus an und glauben an den Jihad als einzigen Weg, um einen islamischen Staat zu errichten, in dem ihre Vorstellung von Gottes Gesetzen gelten soll. Sie unterscheiden sich hierbei nur durch Details, etwa die Festlegung von Prioritäten hinsichtlich zu erreichender Ziele. Während der Islamische Staat seine buchstabengetreue Interpretation der Religion öffentlich zur Schau stellt und seine Strategien hastig umsetzt, verhält sich die Nusra Front eher abwartend. Sie hat sich andere Prioritäten gesetzt, legt Wert darauf, sich wenn möglich mit anderen zu verständigen, und betreibt, wenn nötig, sogar politische Arbeit. So haben sich die beiden Gruppen zu zwei völlig verschiedenen Organisationen entwickelt, die sich sogar bekriegen, obwohl sie vom Selbstverständnis her identisch sind. Sie konkurrieren um dieselben Gelder, Anhänger und Geistlichen, die den Jihad-Salafismus anpreisen. Diese Konkurrenzbeinhaltet auch bewaffnete Auseinandersetzungen um die Ölfelder oder wichtige strategische Gebiete in Deir Al-Zor bzw. im Norden Syriens. (Bilal, 2014B) In Gebieten, in denen sie sich eher unsicher fühlen und jeweils eine Minderheit darstellen, wo sie nicht in Konkurrenz zueinander leben, kooperieren sie aber miteinander, so z.B. im Umland von Damaskus.
Die Gründe ihrer Spaltung sollen hier nicht näher betrachtet werden, etwas verkürzt lässt sich aber sagen: Die Mitglieder der Nusra-Front sind mehrheitlich syrisch und waren vor 2011 friedliche Bürger, die auf Feldern arbeiteten oder anderen einfachen Berufen nachgingen. Die geistlichen Führer sind größtenteils jordanischer Abstammung. Beim IS ist die Nationalität der Anführer mehrheitlich irakisch und viele davon waren Offiziere in der irakischen Armee oder in dem irakischen Geheimdienst-Apparat. Die Geistlichen stammen überwiegend vom arabischen Golf und sind durch Stammeszugehörigkeit tief mit den irakischen Führern von IS verwurzelt sind. Das hat zu einem Interessenkonflikt geführt, weil die irakischen Anführer andere politische Ziele verfolgten als die Syrer. Es kommt noch dazu, dass sich Al-Baghdadi als Kalif versteht und von al-Qaida bzw. Al Zawahri verlangt sich ihm unterzuordnen. Das hat dazu geführt, dass die Zawahri treuen Jihadisten übergewechselt sind zur al-Nusra-Front.
Das übereinstimmende Selbstverständnis beider Organisationen führt dazu, dass ihre Mitglieder trotz Spannungen bzw. Kämpfen problemlos die Seiten wechseln können, während ein Beitritt zu einer anderen Gruppierung mit einem völlig anderen Narrativ schwieriger ist. Mitglieder dagegen, die als "aufgeschlossen" und lernfähig gelten und die eine Neuinterpretation des jihadistischen Weges für wichtig erachten, sind zu Ahrar Al-Sham übergelaufen. Selbstverständlich sind der IS und die Nusra-Front Organisationen, die weltweit als terroristisch eingestuft werden, da sie ihre Ideologie auf dem globalen Level unter Gewaltanwendung durchsetzen. Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass beide nicht mehr dieselbe al-Qaida sind, die die Anschläge vom 11. September durchgeführt hat. Denn nach den Attentaten auf US-Boden wurde die al-Qaida-Zentrale durch das Erscheinen einer neuen Generation von Führungskräften erheblich geschwächt. Als ein Grund sei hier ebenfalls die fortgeschrittene Globalisierung zu nennen, die die Verbreitung von Nachrichten in Windeseile ermöglicht.
Al-Qaida ist heute mehr eine Idee als eine Institution. Ihr Geist vom Jihad-Salafismus wurde zudem mehreren Veränderungen unterzogen, die sich teilweise widersprechen. Während Jihad-Salafismus des IS sich radikalisierte und zum Synonym der Barbarei wurde, so dass selbst al-Qaida-Chef Zawahiri ihn als extrem beschrieb, erschien eine neue Strömung, die das Verständnis vom Jihad kritisch betrachtete und sich anderen politischen islamischen Bewegungen stark annäherte. Dennoch gibt es immer noch einige weitere Gruppierungen – z.B.: Al Nusra –, die der al-Qaida-Führung folgen.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/, Autor: Ghiath Bilal für bpb.de
2 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
Interessante Analyse.
Klemens am Permanenter Link
Kann man den religiösen Kriegstreibern, die den Koran und die Hadithen, buchstabengetreu auslegen, nicht mal sagen, dass sie dann auch die damaligen Waffen verwenden müssen...