BERLIN. (hpd) Wie hat sich der jihadistische Salafismus in Syrien in den vergangenen zwei Jahren entwickelt? Welche Hauptströmungen gibt es und wie stehen sie zueinander? Ghiath Bilal mit einer Einschätzung der Situation in Syrien.
Dieser Artikel befasst sich mit dem Jihad-Salafismus während der letzten beiden Jahre in Syrien. Vor knapp zwei Jahren ging es bei einem Artikel von mir darum, wie die al-Qaida sich in Syrien spaltete, und aus ihr direkt die beiden Organisationen IS (Islamischer Staat) und die Nusra Front geboren wurden. Ich habe aufgezeigt, wo es um Konkurrenz um Ressourcen und personellen Zulauf ging, und den ideologischen Wandel beleuchtet, den al-Qaida-Führer der ersten Generation durchliefen, etwa Abu-Khaled al-Suri, Zawahiris Delegierter in Syrien. Er war damit beauftragt worden, die Streitigkeiten zwischen Abu Bakr al-Baghdadis Islamischem Staat (IS) und Abu Mohammed al-Julanis Nusra-Front zu beenden. Als er beschloss, der IS solle entweder Syrien verlassen oder sich den Nusra-Brigaden unterordnen, wies Baghdadi dies zurück. Die Folge waren Liquidierungskriege zwischen den islamischen Fraktionen wie al-Nusra auf der einen und dem IS auf der anderen Seite.
Meine Analyse endete damals mit der Schlussfolgerung, dass der globale jihadistische Salafismus eine strukturelle Krise durchlebt – und das, obwohl es in Syrien wohl die Gelegenheit für seine Expansion gegeben hätte. Interne, radikale und blutige Differenzen haben diese jedoch verhindert. Die Überheblichkeit der jihadistischen Salafisten, das islamische Wissen für sich gepachtet zu haben, gepaart mit der Neigung, jede politische Auseinandersetzung zu einer religiösen zu machen, hat dazu geführt, dass aus den Freunden von gestern die Feinde von heute wurden. Der vorliegende Artikel beleuchtet den Wandel des Jihad-Salafismus während der letzten beiden Jahre in Syrien. Dazu werden wir uns die unterschiedlichen Strömungen und Gruppierungen innerhalb seines Einflussbereiches und ihre verschiedenen ideologischen Ausprägungen ansehen. Aber zunächst zu ihrem gemeinsamen historischen Hintergrund.
Die Hauptströmungen der Salafistischen Glaubensrichtung
Muhammad ibn Abd al-Wahhab gilt als Begründer der religiösen Lehre des Salafismus, die als geistige Quelle für sämtliche salafistische Strömungen in der islamischen und arabischen Welt dient. Politische Unterstützung erhielt er im Jahre 1744 von Muhammad ibn Saud, dem Emir von Diriyya in Nadschd (Landschaft im Inneren der arabischen Halbinsel im heutigen Saudi-Arabien). Bei sämtlichen Gebieten, die heute zum saudischen Königreich zählen, handelte es sich damals entweder um lose Orte, in denen Nomadenstämme lebten und Stammesführer das Sagen hatten oder um autonome Städte, die von Emiren beherrscht wurden. Ein gegenseitiges Bekriegen sämtlicher Machthaber stand auf der Tagesordnung. Ein gegenseitiger Treueeid versetzte Muhammad ibn Abd al-Wahhab und Muhammad ibn Saud in die Lage, sich eine starke Basis in Nadschd aufzubauen, von der aus sie die salafistische Lehre mit Waffengewalt auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabien verbreiteten. Die Anhänger dieser Lehre wurden fortan in- und außerhalb der islamischen Welt als "Wahhabiten" bezeichnet.
Die salafistische Lehre lehnt es ab, die Aussagen des islamischen Rechts, die sich aus Koran und Hadith ableiten, fortzuentwickeln und veränderten Zeiten und Umständen anzupassen. Die möglichst wortgetreue Umsetzung islamischer Quellen aus der Zeit des Propheten Muhammad steht im Mittelpunkt. Alles, was keine Wurzeln im "goldenen Zeitalter" des Islam hat, wird abgelehnt. Demnach wird jegliche "Neuerung" nicht gestattet. Diese Lehre kann mit den zahlreichen christlich-fundamentalistischen Strömungen in Europa und Amerika verglichen werden, die an die ursprüngliche heilige Schrift in ihrer Reinform glauben und deren Glaubensgrundsätze starr und unverändert bleiben. Die salafistische Lehre lässt sich in zwei Hauptströmungen unterteilen:
Der traditionelle Salafismus
Dieser gilt als Fortführung der Lehre des Muhammad ibn Abd al-Wahhab. Einige Wissenschaftler nennen sie auch "Nadschader Salafismus". Die Folgen des hier zugrundeliegenden buchstabengetreuen Koranverständnisses ohne jegliche Anpassungen sind u.a. befremdliche Fatwas (Rechtsprechungen), etwa vom saudischen Großmufti Abdulaziz Al al-Sheikh, der Anfang dieses Jahres (2016) das Schachspielen als unislamisch und verboten erklärte, oder diverse andere Fatwas, die den Frauen das Autofahren untersagen. So werden etliche Moden und Entwicklungen bekämpft, indem man sie einfach für "Neuerungen" erklärt, mit der Begründung, sie hätten während des goldenen Zeitalters des Islams nicht existiert oder stünden im Gegensatz zu den Wertvorstellungen des goldenen Zeitalters des Islams.
Auf politischer Ebene nutzen Herrscher diese Ideologie, um ihre Macht zu legitimieren und zu festigen, etwa in Saudi-Arabien, wo dieses Phänomen evident ist. Dort gilt jeglicher Einspruch nicht als Opposition, sondern als religiöser Fehltritt, der im Dies- sowie im Jenseits zu bestrafen ist. In Syrien nahm der Salafismus dagegen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Weg der politischen Opposition und der religiösen Reform ein. Angeführt wurde diese Opposition von der intellektuellen Elite in Syrien wie Abd al-Rahman AL Kawakbi, Jamal al-Dien al-Qasmi und Mohamad Rida. Aus deren Bestrebungen und Aktivitäten, bildeten sich mit der Zeit mehrere Organisationen wie der "Al Ghara’a Verein" im Jahr 1924 und im Jahr 1930 "Al Tamdn Verein", die bestrebt waren ihre Reformen umzusetzen. Hauptanliegen ihrer Reformbewegung war eine Aufklärung und Bekämpfung der religiösen Missstände, die sich zum Ende des Osmanischen Reiches in der Gesellschaft festgesetzt hatten. Mitte des letzten Jahrhunderts erschien in Syrien eine neue Salafistische Schule, die von dem traditionellen Salafsismus in Saudie Arabien sehr beeinflusst war. Die Quellen für diese neue Schule basierten auf die Aussagen und Fatawas von Abn Taymiyeh und Mohamad bin abd Al Wahab.
Die berühmtesten Wissenschaftler und geistliche Führer hier waren Sheikh Abdel-Al Qader Arna’ut, der im Jahre 2004 in Damaskus verstarb und von Dr. Ma’amun Hamash beerbt wurde. Sheikh Nasser Al-Albani galt dagegen als geistlicher Vater dieser Lehre und ihr Reformator. Seine Berühmtheit ging über die syrischen Grenzen hinaus und erreichte die gesamte arabische Welt. Man verwehrte ihm jedoch im Jahre 1980 den Besuch Syriens. Er verstarb 1999 in Jordanien. Die Vertreter der salafistischen Lehre waren bis zum Beginn der syrischen Revolution Repressionen und Inhaftierungen ausgesetzt. Ideologisch bekämpfte das Regime sie durch den Sufismus systematisch. Der regimenahe sufistische Geistliche, Dr. Said Ramadan Al-Buti, publizierte etwa zahlreiche Bücher, deren Inhalt das Ziel hatte, die salafistische Lehre zu zerlegen. Dies hatte zur Folge, dass die Anhänger des Salafismus in den Untergrund abtauchten. Ihre Treffen wurde geheim gehalten, die dort herrschende Atmosphäre hatte einen familiären Charakter. Der Zusammenhalt war dadurch groß. Heute gilt Saudi-Arabien als "Hirte" der traditionellen Salafisten. Das Königreich sieht Gehorsam gegenüber dem Machthaber vor. Dadurch wird ersichtlich, warum ihre Anhänger sich zu Beginn der syrischen Revolution weigerten, diese zu unterstützen. Man erfährt mehr über die Besonderheiten dieser Bewegung durch ihre verschiedenen Positionen, etwa in Ägypten. Dort ist die Al Nour-Partei die treibende salafistische Kraft. Sie unterstützte den Putsch des Abdel-Fattah Sissi gegen den gewählten Muslimbruder-Präsidenten Muhammad Mursi. Da Sissi der "Mächtigere" der Beiden war, haben die Muslime nach dem Verständnis des traditionellen Salafismus diesem zu folgen bzw. ihm zu gehorchen.
Wenn wir uns die Rebellengruppen in Syrien ansehen, so haben viele Brigaden einen salafistischen Hintergrund. Als Beispiel kann die von Zahran Allusch gegründete Jeish al-Islam (Die Armee des Islam) gelten. Es ist bekannt, dass Jeish Al-Islam mit den Salafistin in Saudi Arabien sehr gut vernetzt ist. Weiterhin ist er von Saudi-Arabien politisch unterstützt worden. Er wurde zum Beispiel als Vertreter vom Jeish Al-Islam zu den Riad-Gesprächen im Dezember 2015 eingeladen. Allusch kam Ende 2015 bei einem Luftangriff ums Leben. Die traditionelle salafistische Schule durchlief in den letzten fünf Jahren einen tiefgreifenden Wandel. Aus losen politischen Formationen wurden politische Parteien, wie die bereits erwähnte Nour-Partei in Ägypten und wie ähnliche unangekündigte Gruppierungen in Syrien. Dieser Artikel beleuchtet in erster Linie den Wandel der jihadistischen salafistischen Schule in den letzten Jahren.
Der dschihadistische Salafismus
Diese Lehre glaubt an den Dschihad im Sinne einer kriegerischen Auseinandersetzung, an den Krieg gegen den Westen sowie gegen Ungläubige. Dadurch soll der Weg zum Aufbau eines islamischen Staates geebnet werden. Die jihadistische Ideologie war das Resultat der Kombination aus drei unterschiedlichen Komponenten:
- Der Wahhabi-Salafismus Saudi-Arabiens (Osama bin Laden), gekoppelt an
- die Übernahme dynamischer Strukturen der Muslimbruderschaft (Abdullah Azam) und an die
- Neo-jihadistische Bewegung aus Ägypten (Aiman az-Zawahiri).
Basierend auf dieser neuen Ideologie entstand al-Qaida als erste jihadistische Organisation mit überregionaler Ausprägung. Die al-Qaida gilt als politische Plattform dieser Schule. Eine Besonderheit dieser Lehre ist die simple und klare Botschaft, ein Schwarz-Weiß-Denken auch bezüglich der Definition von "Islam" und "Unglaube". Dadurch werden relevante Ideen und Gedanken leichter aufgenommen, vor allem von Menschen, die neu zur Religion gefunden haben. Während die al-Qaida hier als spiritueller Vater angesehen wird, gilt der IS als berühmtes Exempel im syrischen Fall. Diese Strömung wurde seinerzeit vom syrischen Regime gefördert. So wurden im Jahre 2004 manche IS-Anführer offiziell angestellt, etwa Sheikh Abu Al-Qaa’Qaa‘, der Imam der Iman-Moschee in Aleppo. Auffällig war, dass Abu Al-Qaa’Qaa‘ viele junge Männer erfolgreich rekrutierte, um sie in den Irak zu schicken, wo sie am Kampf gegen die Amerikaner teilnahmen. Das Assad Regime hatte die Befürchtung, dass die Amerikaner in Syrien einmarschieren könnten, wenn die Lage im Irak sich stabilisiert hat. Daher versuchte es auf diesem Weg, al-Qaida im Irak zu stärken. Die regionale Zweigstelle al-Qaidas im Irak entwickelte sich indessen in mehreren aufeinanderfolgenden Stadien, bis daraus die Organisation "Islamischer Staat im Irak und in Syrien" (ISIS) entstand. Im Sommer 2014 (29.06.2014) rief sie die Wiederbelebung des "islamischen Kalifats" in den Regionen aus, die unter ihrer Kontrolle standen. Seither stellt der "Islamische Staat" (IS) die letzte organisatorische Entwicklung dar, der die Ideologie des jihadistischen-Salafismus zu Grunde liegt.
Neue Strömung der Salafismus-Glaubensrichtung
Heute haben wir es aber mit einer dritten Strömung zu tun, die sich nach den Erfahrungen der Afghanistan- und Irak-Kriege vom Jihad-Salafismus abspaltete. Auffällig ist hier der klare Unterschied hinsichtlich der Denkweise. Manche arabische Wissenschaftler neigen dazu, diese Strömung dem Geist des Ägypters Sayyid Qutb bzw. dem Syrer Sheikh Srour Zein Al-Abdeen zuzuordnen, der in den Achtziger Jahren in Saudi-Arabien lebte. Sie trägt die Bezeichnung "Dynamik-Salafismus" (Haraki- Salafismus), da sie den Anspruch erhebt, auf der politischen Bühne mitzumischen. Diese Strömung hat sich von der Hauptströmung, der al-Qaida, abgespalten, weil sie mit den Erfahrungen hier nicht einverstanden waren. Zwar existieren Gemeinsamkeiten mit der Schule des Sheikh Srour, dennoch ist diese neue Bewegung als eigenständig zu betrachten. Einerseits bezieht sich diese junge Strömung, ideologisch betrachtet, auf den Jihadi-Salafismus, andererseits glaubt sie an die Politik als Werkzeug mit dem Ziel, die Macht zu erreichen. Prominente Vertreter dieser Richtung sind die Anführer der syrischen Ahrar-Al-Sham-Bewegung. Sie führten tiefgründige Analysen und Neubewertungen am bestehenden Salafismus durch, was in eine Vermittlerrolle zwischen den salafistischen und anderen militärischen Gruppierungen mündete, die den unterschiedlichen Schulen zuzurechnen sind.
An dieser Stelle muss zwingend unterschieden werden zwischen dem Jihad-Salafismus und anderen islamistischen Gruppierungen, die ebenfalls versuchen, der Gesellschaft den Islam mit Waffengewalt aufzuzwingen, wie etwa "Hizb al-Tahrir". Gemein haben Beide die Idee der Schaffung eines islamischen Staates, um die Islamisierung voranzubringen. Sowohl "Hizb al-Tahrir" als auch andere, ähnliche islamistische Gruppierungen, sind schon immer politische Strömungen gewesen, die sich der Werkzeuge einer politischen Partei bedienen, wobei sie den Islam als geistige Grundlage haben. Beim Dschihad-Salafismus handelt es sich dagegen um eine Strömung und Gruppen, die ein religiöses und kein politisches Selbstverständnis hatten. Ihre Hauptambition war anfangs darauf beschränkt, den Islam zu studieren und zu praktizieren. Durch ihr Studium kamen sie zur Interpretation, einen islamischen Gottesstaat aufbauen zu müssen.
Die Weiterentwicklung des Jihad-Salafismus in Syrien
Seit der Entstehung des Jihad-Salafismus gab es für Usama Bin Laden keine Konkurrenz um die Führungsspitze. Auch gab es nicht die üblichen unterschiedlichen Fatwas oder Diskussionen um Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation. In den Organisationen, die den Jihad-Salafismus vertreten, beobachtet man drei Besonderheiten, mit denen sie sich von anderen salafistischen Strömungen erheblich unterscheiden.
Politischer Nihilismus
Der Jihad-Salafismus kann als Meutereibewegung bezeichnet werden - gegen eine autoritäre Staatsform, die dem Willen von Außenmächten unterworfen ist, jedoch die eigene Bevölkerung unterdrückt. So entstand eine utopische Vorstellung von einem islamischen Staat, der die Muslime während eines goldenen Zeitalters gerecht regierte und behandelte. Aus diesem Utopismus rührt auch die Idee des Jihads als Werkzeug, um die Feinde zu bekämpfen und nicht unbedingt, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen. Sein politischer Diskurs kann als nihilistisch beschrieben werden, insbesondere im Kontext vom politischen System der Nationalstaaten.
Überheblichkeit gegenüber bestehenden gesellschaftlicher Strukturen und islamistischen Strömungen
Genau wie andere islamistische Bewegungen verfolgt auch der Jihad-Salafismus das Ziel, Menschen den Islam mit Waffengewalt aufzuzwingen. Im Allgemeinen gilt das Schaffen eines islamischen Staates als obligatorisch, etwa um den muslimischen Glauben zu verbreiten bzw. die Islamisierung der Gesellschaften zu vollenden. Doch der Ursprung dieser Bewegung ist ein politischer. Ein ähnlich denkender Mensch, der dieselben politischen Ziele verfolgt, ist ein "Bruder im Geiste", mit dem eine Kooperation wohl möglich ist. Andere Menschen werden dagegen unterteilt in:
- "A‘wam" (von arabisch U‘mum; Gesamtheit), also die muslimische Allgemeinheit, die der Macht dieses islamischen Staates unterworfen werden sollen, um seine Anweisungen ohne jeglichen Widerspruch zu befolgen.
- "Murtadd" (arabisch), also die Abtrünnigen, Muslime, die sich ihm in den Weg stellen, ihm widersprechen.
- "Kuffar" (arabisch), also die Ungläubigen. Dies ist der Rest der Menschheit, also die Nichtmuslime.
Diese Unterteilung gibt ihnen ein Gefühl der Überlegenheit, sowohl ihren Mitmenschen gegenüber als auch den gesamten Gesellschaften, in denen sie beheimatet sind. So wurden aus politischen Streitereien religiöse Machtkämpfe, bei denen die Beteiligten sich gegenseitig zu "Abtrünnigen" und "Ungläubigen" erklärten und gegenseitig mit Waffengewalt bekriegten, wie wir es zwischen dem IS und der Nusra Front gesehen haben.
Der Verlust von menschlichen (humanitären) Eigenschaften
Das oben beschriebene Überlegenheitsgefühl, gepaart mit der buchstabengetreuen, starren Interpretation von Koran und Hadithen, produzierte eine gnadenlose Gruppierung von Menschen, die jegliche Menschlichkeit vermissen lassen. Aufgrund der erwähnten Kategorisierung der Mitmenschen gelten die "Anderen", die keine "Brüder im Geiste" sind, als Nicht-Menschen. Ihnen wird die Gattungszugehörigkeit abgesprochen, sie sind ungleichwertig, Kreaturen, etwas Böses, das sich den religiösen Regeln und Gesetzen zu unterwerfen hat. Die Beispiele hierzu sind zahlreich und vielfältig: Das Köpfen von Geiseln, Massaker an unterworfenen Stämmen (z. B. al-Sha’itat) oder die Versklavung von jesidischen Frauen. All das sind Verhaltensweisen, die als Folge des Verlusts menschlicher Eigenschaften anzusehen sind. Auch wenn die Al Nusra-Front ihre Gefangenen oft gut behandeln soll, geschieht dies nicht deswegen, weil die Gefangenen Menschen sind. Ausgangspunkt dieses Verhaltens sind eigene Interpretationen über einige Überlieferung zum Thema "Gefangenschaften" zur Zeit des Propheten, auf die sie sich beziehen.
Man kann sagen, dass bis 2012 diese drei Eigenschaften auf alle jihadistischen Salafisten zutraffen. Danach entstand eine neue jihadistische Strömung, die diese Eigenschaften ablehnte. Als Beispiel, wenn nicht als Begründer dieser Strömung, können die Ahrar Al-Sham gelten. Ihre Anführer bewerteten den jihadistischen Salafismus neu und veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie sich vom Geist des Jihads loslösten. Die letzte dieser Stellungnahmen war die aufrichtige Entschuldigung des Chefideologen der Ahrar Al-Sham, Mohamad Abu Yazan Al-Shami. Darin distanzierte er sich von jeglichen Praktiken, die im Namen des Jihads ausgeführt wurden und beteuerte seine Reue und die seiner Bewegung. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er:
Ja, ich war ein jihadistischer Salafist. Aus diesem Grunde wurde ich in den Kerkern des Regimes festgehalten. Doch heute bitte ich Gott um Vergebung, wende mich ihm reuevoll zu und entschuldige mich bei meinem Volk, denn wir haben euch einen Don-Quijote-Krieg gebracht, der euch besser erspart geblieben wäre. Ich entschuldige mich bei euch dafür, dass wir uns zu sehr von euch entfernt haben. Als ich mein Gefängnis in meinem Kopf verlassen habe, und euch und euren Herzen beiwohnte, wiederholte ich die Aussage des Propheten, des Ehrlichen, Friede sei mit ihm: "Wenn ihr zulasst, dass die Menschen in Al-Sham Mangel leiden, so ist keine Güte in euch." Ich bitte euch um Verzeihung! Verzeihung! So Gott will, werden die kommenden Tage die besseren für unsere Revolution und den Islam sein.
Die Anführer der Ahrar Al-Sham wurden bei einem mysteriösen Attentat am 9. September 2014 ermordet, wodurch die Organisation erheblich geschwächt wurde. Sie konnte sich jedoch schnell erholen und bestreitet ihren Weg der Reformen, den die ermordeten Anführer begannen hatten, weiter. Bis März 2015 ließ sich diese Gruppierung von einer Mission leiten, die auf die ganze "Umma" (islam. Gemeinschaf aller Gläubigen) bezogen war. Dasselbe Ziel verfolgte auch die Al-Jabha Al-Islamiya (Islamische Front), die im November 2013 gegründet wurde, und in der diverse islamische Brigaden vereint sind, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Dieses allgemeingültige Ziel drückt vor allem aus, dass sie den Aufbau eines Staates beabsichtigten, der allen Muslimen offen stehen sollte. Doch seit der Fusion mit Suqour Al-Sham am 22.3.2015, der Bewegung, die ebenfalls als reformfreundlich gilt, änderte man das Hauptziel, das nun "Volksrevolution" lautete. Dieser Slogan wurde fortan auf ihren Flaggen sowie in schriftlichen Stellungnahmen platziert und drückt aus, dass die syrische Revolution eben syrisch ist, also eine Revolution des ganzen Volkes und nicht einer bestimmten Konfession. Diese Veränderung ist eine bedeutungsvolle Entwicklung im Diskurs von Organisationen, die eigentlich ein jihadistisches Selbstverständnis haben. Zur Folge hatte dies, dass die Ahrar Al-Sham nun von diversen Vertretern traditioneller jihadistischer Strömungen, etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder Abu Qatada Al-Falastini, angeprangert wurde.
Am 24.8.2015 veröffentlichten die Ahrar Al-Sham mehrere Beschlüsse und Dokumente, in denen sie ihren syrischen Charakter unterstrich, sowohl hinsichtlich der Nationalität ihrer Mitglieder als auch ihres Leitbilds. Des Weiteren verneinten sie jegliche Bindung zur Nusra-Front. Inhalt dieser Beschlüsse war u.a. die Suspendierung mehrerer Anführer, die dem radikalen Flügel zugerechnet wurden, etwa des Richters Abu Shu’aib Al-Masri, der die Publikationen von Labib Al-Nahhas kritisierte. Labib Al-Nahhas machte 2015 auf sich aufmerksam. Er war Mitglied des Politbüros und Leiter des Büros für auswärtige Beziehungen der Ahrar Al-Sham. Er wandte sich in Englisch an die westliche Öffentlichkeit und wichtige Entscheidungsträger dort, beispielsweise in der New York Times und im Daily Telegraph. Darin sehen viele Beobachter einen pragmatischen Wandel dieser Gruppierung: Statt die Moderne zu verteufeln und den Westen pauschal für ungläubig zu erklären, beginnt sie, die Grundlagen der politischen Arbeit zu erlernen und deren Methoden anzuwenden. So hat man am 9. und 10. Dezember 2015 einen Abgeordneten zu den in Riad abgehaltenen Gesprächen geschickt und die Verhandlungen von Genf nicht kategorisch abgelehnt. Zwar handelt es sich immer noch um eine jihadistische Bewegung, die Bashar Assad mit Waffengewalt stürzen will, doch sie scheint auch daran zu glauben, dass man Lösungen durch politische Verhandlungen und einen politischen Konsens erzielen kann – auch, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden.
Innenpolitisch haben die Ahrar al-Sham die regionale Verwaltung Zivilisten anvertraut, die ihr Vertrauen genießen. Im Gegensatz zur Nusra-Front oder zum IS haben sie hier nicht die Macht an sich gerissen. Dieser geistige und ideologische Wandel befindet sich noch am Anfang, auch wenn die Unterschiede zum Mainstream des Jihad-Salafismus evident sind. Daher ist es an dieser Stelle überflüssig zu betonen, dass nicht alle Anführer und Mitglieder diesen Wandel als positive Entwicklung sehen. Innerhalb der Organisation gibt es Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Lager, gerade wenn es um Grundsätzliches geht, wie die Konferenzen in Riad bzw. Genf, die Beziehung zum IS oder aber um Verhandlungen mit dem Assad-Regime.
Manche Beobachter halten diese widersprüchlichen Haltungen für inszeniert. Jedoch kann der Verfasser dieses Artikels nach diversen Interviews mit einigen Anführern bestätigen, dass es weder Inszenierungen gibt, noch dass sich Verantwortliche der Ahrar al-Sham gegenseitig Rollen zuschieben, wie ihnen teilweise vorgeworfen wird. Im Gegenteil: Vielmehr existieren Streitereien, die ein Höchstmaß an Spannung erzeugen. Dabei geht es um zwei Lager: Das erste ist offen und bereit, sich an die Welt und die Moderne anzupassen und lehnt es ab, sich aufgrund von Glaubensfragen den Rest der Welt zum Feind zu machen. Beim zweiten Lager handelt es sich um eine Strömung, die sich bemüht, sogenannte Konstanten des Jihad zu erhalten. So erklären etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder Abu Qatada Al-Falastini, beide palästinensischen Ursprungs und wohnhaft in Jordanien, die Reformwilligen für Ungläubige. Beide sind wichtige Quellen für al-Qaida Anhänger bzw. die Anhänger der al-Nusra-Front, auf ihre Kommentare und Tweets berufen sie sich und teilen diese.
Trotz aller Rückschläge verfügt die Organisation über einen bestimmten Professionalisierungsgrad, die ihr die Fortführung ihrer Arbeit erlaubt – auch nach der Ermordung all ihrer Anführer des ersten und zweiten Grades am 9. September 2014. Ihre Auflösung, etwa wie bei der Tawhid-Brigade nach dem Tod ihres Anführers Abdel-Kader Saleh, stand nie zur Debatte. So werden bis dato die Meinungsverschiedenheiten ausgetragen, ohne große Abspaltungen innerhalb der eigenen Reihen zu befürchten. Es scheint, dass der Wandel auf die ideologischer Ebene dazu geführt hat, den Raum der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe zu vergrößern.
Es kann resümiert werden, dass die Erfahrungen mit dem Jihad-Salafismus seine syrischen Anführer dazu gebracht haben, den bestehenden Salafismus tiefgründig zu analysieren und ihn neu zu bewerten. Das Ergebnis ist hier eine neue salafistische Richtung, die nicht dem Nihilismus verfallen ist und die das Ziel hat, sich mit der Gesellschaft zu versöhnen und nationale Konzepte zu verfolgen. Noch erscheint es zu früh, über die Perspektiven dieser neuen Strömung zu sprechen. Mit Sicherheit lässt sich jedoch sagen, dass sie den jihadistischen Organisationen wie IS oder Nusra-Front in erbitterter Feindschaft gegenübersteht. Denn sie konkurriert nicht nur mit ihnen um dieselben Ressourcen und denselben personellen Zulauf, sondern sie führt grundsätzliche Debatten, die die Legitimität der Nusra-Front und des ISin Frage stellen. Die Narrative der Ahrar Al-Sham unterscheiden sich von denen der al-Qaida oder des IS. Außerdem vertreten sie eine klare Botschaft: In ihren Augen haben die al-Qaida und der IS der Region nur Ruin und Zerstörung gebracht. Man scheint aus den Fehlern der Vergangenheit lernen zu wollen.
Bei aller Skepsis im Umgang mit den Ahrar Al-Sham ist es wichtig, zu verstehen, dass die Ahrar Al-Sham eine Art Sicherheitsventil darstellen, denn sie können vielen, die sich vom Salafismus angezogen fühlen, ein Zuhause bieten und dadurch verhindern, dass sie sich der Nusra-Front oder dem IS anschließen. Sie stellen für viele Salafisten eine passende oder akzeptable Alternative dar.
Der "Islamische Staat" und die Nusra-Front
Die Nusra-Front ging aus dem Krieg zwischen Februar und Juni 2014 gegen den IS als Verlierer hervor. Der IS schaffte es, sie aus Deir Al-Zor zu vertreiben, einem Gebiet, das für ihn hinsichtlich natürlicher Ressourcen und personellen Zulaufs am wichtigsten war. Daraufhin folgten große Liquidierungsaktionen gegenüber Stämmen, die mit der Nusra-Front verbündet waren. Diese Niederlage hatte ebenfalls zur Folge, dass Al-Nusra Führer Abu Maria Al-Qahtani (ein Iraker), der als weniger radikal gilt, abgezogen und nach Dar’a abgeordnet wurde. Er wurde seines Amtes als oberster Scharia-Richter enthoben und vom Jordanier Sami Al-Aridi beerbt. Letzterer gilt als Hardliner gegenüber Allen, die dem Jihad-Salafismus widersprechen, wodurch die Nusra-Front dem IS ein Stück ähnlicher wurde. Seine Mentoren und Lehrer, Abu Muhammad Al-Maqdesi und Abu Qatada Al-Falastini, spielten eine bedeutende Rolle bei der Abspaltung der Nusra-Front von anderen syrischen Jihad-Gruppierungen. Denn ihre Fatwas erklärten jeden, der ihren Aussagen widersprach, zum Ungläubigen.
Somit lässt sich sagen, dass die Niederlage der Nusra-Front gegen den IS gleichzeitig auch ein Sieg des radikaleren Zweigs innerhalb der Nusra-Front darstellte, der dem IS in Ideologie und Handlungen sehr ähnelt. Diese Konflikte spiegelten sich in den Reden und Interviews des Nusra-Front-Anführers, Al-Julani, zwischen Mai und Dezember 2015 wieder. Des Weiteren kann festgehalten werden, dass die US-geführten Luftangriffe die Nusra-Front zusätzlich radikalisierten, vor allem, was ihren Umgang mit anderen Rebellengruppen betraf, insbesondere denjenigen, die von den USA unterstützt wurden. So wurden sämtliche Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) im nördlichen Syrien von der Nusra-Front angegriffen, etwa die "Front Syrischer Revolutionäre" mit ihrem Anführer Jamal Maarouf oder die "Hazem-Bewegung". Der IS und die Nusra-Front teilen dasselbe Narrativ. Sie gehören dem jihadistischen Salafismus an und glauben an den Jihad als einzigen Weg, um einen islamischen Staat zu errichten, in dem ihre Vorstellung von Gottes Gesetzen gelten soll. Sie unterscheiden sich hierbei nur durch Details, etwa die Festlegung von Prioritäten hinsichtlich zu erreichender Ziele. Während der Islamische Staat seine buchstabengetreue Interpretation der Religion öffentlich zur Schau stellt und seine Strategien hastig umsetzt, verhält sich die Nusra Front eher abwartend. Sie hat sich andere Prioritäten gesetzt, legt Wert darauf, sich wenn möglich mit anderen zu verständigen, und betreibt, wenn nötig, sogar politische Arbeit. So haben sich die beiden Gruppen zu zwei völlig verschiedenen Organisationen entwickelt, die sich sogar bekriegen, obwohl sie vom Selbstverständnis her identisch sind. Sie konkurrieren um dieselben Gelder, Anhänger und Geistlichen, die den Jihad-Salafismus anpreisen. Diese Konkurrenzbeinhaltet auch bewaffnete Auseinandersetzungen um die Ölfelder oder wichtige strategische Gebiete in Deir Al-Zor bzw. im Norden Syriens. (Bilal, 2014B) In Gebieten, in denen sie sich eher unsicher fühlen und jeweils eine Minderheit darstellen, wo sie nicht in Konkurrenz zueinander leben, kooperieren sie aber miteinander, so z.B. im Umland von Damaskus.
Die Gründe ihrer Spaltung sollen hier nicht näher betrachtet werden, etwas verkürzt lässt sich aber sagen: Die Mitglieder der Nusra-Front sind mehrheitlich syrisch und waren vor 2011 friedliche Bürger, die auf Feldern arbeiteten oder anderen einfachen Berufen nachgingen. Die geistlichen Führer sind größtenteils jordanischer Abstammung. Beim IS ist die Nationalität der Anführer mehrheitlich irakisch und viele davon waren Offiziere in der irakischen Armee oder in dem irakischen Geheimdienst-Apparat. Die Geistlichen stammen überwiegend vom arabischen Golf und sind durch Stammeszugehörigkeit tief mit den irakischen Führern von IS verwurzelt sind. Das hat zu einem Interessenkonflikt geführt, weil die irakischen Anführer andere politische Ziele verfolgten als die Syrer. Es kommt noch dazu, dass sich Al-Baghdadi als Kalif versteht und von al-Qaida bzw. Al Zawahri verlangt sich ihm unterzuordnen. Das hat dazu geführt, dass die Zawahri treuen Jihadisten übergewechselt sind zur al-Nusra-Front.
Das übereinstimmende Selbstverständnis beider Organisationen führt dazu, dass ihre Mitglieder trotz Spannungen bzw. Kämpfen problemlos die Seiten wechseln können, während ein Beitritt zu einer anderen Gruppierung mit einem völlig anderen Narrativ schwieriger ist. Mitglieder dagegen, die als "aufgeschlossen" und lernfähig gelten und die eine Neuinterpretation des jihadistischen Weges für wichtig erachten, sind zu Ahrar Al-Sham übergelaufen. Selbstverständlich sind der IS und die Nusra-Front Organisationen, die weltweit als terroristisch eingestuft werden, da sie ihre Ideologie auf dem globalen Level unter Gewaltanwendung durchsetzen. Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass beide nicht mehr dieselbe al-Qaida sind, die die Anschläge vom 11. September durchgeführt hat. Denn nach den Attentaten auf US-Boden wurde die al-Qaida-Zentrale durch das Erscheinen einer neuen Generation von Führungskräften erheblich geschwächt. Als ein Grund sei hier ebenfalls die fortgeschrittene Globalisierung zu nennen, die die Verbreitung von Nachrichten in Windeseile ermöglicht.
Al-Qaida ist heute mehr eine Idee als eine Institution. Ihr Geist vom Jihad-Salafismus wurde zudem mehreren Veränderungen unterzogen, die sich teilweise widersprechen. Während Jihad-Salafismus des IS sich radikalisierte und zum Synonym der Barbarei wurde, so dass selbst al-Qaida-Chef Zawahiri ihn als extrem beschrieb, erschien eine neue Strömung, die das Verständnis vom Jihad kritisch betrachtete und sich anderen politischen islamischen Bewegungen stark annäherte. Dennoch gibt es immer noch einige weitere Gruppierungen – z.B.: Al Nusra –, die der al-Qaida-Führung folgen.
Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht. by-nc-nd/3.0/de/, Autor: Ghiath Bilal für bpb.de
2 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
Interessante Analyse.
Klemens am Permanenter Link
Kann man den religiösen Kriegstreibern, die den Koran und die Hadithen, buchstabengetreu auslegen, nicht mal sagen, dass sie dann auch die damaligen Waffen verwenden müssen...