Neue Strömung der Salafismus-Glaubensrichtung
Heute haben wir es aber mit einer dritten Strömung zu tun, die sich nach den Erfahrungen der Afghanistan- und Irak-Kriege vom Jihad-Salafismus abspaltete. Auffällig ist hier der klare Unterschied hinsichtlich der Denkweise. Manche arabische Wissenschaftler neigen dazu, diese Strömung dem Geist des Ägypters Sayyid Qutb bzw. dem Syrer Sheikh Srour Zein Al-Abdeen zuzuordnen, der in den Achtziger Jahren in Saudi-Arabien lebte. Sie trägt die Bezeichnung "Dynamik-Salafismus" (Haraki- Salafismus), da sie den Anspruch erhebt, auf der politischen Bühne mitzumischen. Diese Strömung hat sich von der Hauptströmung, der al-Qaida, abgespalten, weil sie mit den Erfahrungen hier nicht einverstanden waren. Zwar existieren Gemeinsamkeiten mit der Schule des Sheikh Srour, dennoch ist diese neue Bewegung als eigenständig zu betrachten. Einerseits bezieht sich diese junge Strömung, ideologisch betrachtet, auf den Jihadi-Salafismus, andererseits glaubt sie an die Politik als Werkzeug mit dem Ziel, die Macht zu erreichen. Prominente Vertreter dieser Richtung sind die Anführer der syrischen Ahrar-Al-Sham-Bewegung. Sie führten tiefgründige Analysen und Neubewertungen am bestehenden Salafismus durch, was in eine Vermittlerrolle zwischen den salafistischen und anderen militärischen Gruppierungen mündete, die den unterschiedlichen Schulen zuzurechnen sind.
An dieser Stelle muss zwingend unterschieden werden zwischen dem Jihad-Salafismus und anderen islamistischen Gruppierungen, die ebenfalls versuchen, der Gesellschaft den Islam mit Waffengewalt aufzuzwingen, wie etwa "Hizb al-Tahrir". Gemein haben Beide die Idee der Schaffung eines islamischen Staates, um die Islamisierung voranzubringen. Sowohl "Hizb al-Tahrir" als auch andere, ähnliche islamistische Gruppierungen, sind schon immer politische Strömungen gewesen, die sich der Werkzeuge einer politischen Partei bedienen, wobei sie den Islam als geistige Grundlage haben. Beim Dschihad-Salafismus handelt es sich dagegen um eine Strömung und Gruppen, die ein religiöses und kein politisches Selbstverständnis hatten. Ihre Hauptambition war anfangs darauf beschränkt, den Islam zu studieren und zu praktizieren. Durch ihr Studium kamen sie zur Interpretation, einen islamischen Gottesstaat aufbauen zu müssen.
Die Weiterentwicklung des Jihad-Salafismus in Syrien
Seit der Entstehung des Jihad-Salafismus gab es für Usama Bin Laden keine Konkurrenz um die Führungsspitze. Auch gab es nicht die üblichen unterschiedlichen Fatwas oder Diskussionen um Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation. In den Organisationen, die den Jihad-Salafismus vertreten, beobachtet man drei Besonderheiten, mit denen sie sich von anderen salafistischen Strömungen erheblich unterscheiden.
Politischer Nihilismus
Der Jihad-Salafismus kann als Meutereibewegung bezeichnet werden - gegen eine autoritäre Staatsform, die dem Willen von Außenmächten unterworfen ist, jedoch die eigene Bevölkerung unterdrückt. So entstand eine utopische Vorstellung von einem islamischen Staat, der die Muslime während eines goldenen Zeitalters gerecht regierte und behandelte. Aus diesem Utopismus rührt auch die Idee des Jihads als Werkzeug, um die Feinde zu bekämpfen und nicht unbedingt, um ein bestimmtes politisches Ziel zu erreichen. Sein politischer Diskurs kann als nihilistisch beschrieben werden, insbesondere im Kontext vom politischen System der Nationalstaaten.
Überheblichkeit gegenüber bestehenden gesellschaftlicher Strukturen und islamistischen Strömungen
Genau wie andere islamistische Bewegungen verfolgt auch der Jihad-Salafismus das Ziel, Menschen den Islam mit Waffengewalt aufzuzwingen. Im Allgemeinen gilt das Schaffen eines islamischen Staates als obligatorisch, etwa um den muslimischen Glauben zu verbreiten bzw. die Islamisierung der Gesellschaften zu vollenden. Doch der Ursprung dieser Bewegung ist ein politischer. Ein ähnlich denkender Mensch, der dieselben politischen Ziele verfolgt, ist ein "Bruder im Geiste", mit dem eine Kooperation wohl möglich ist. Andere Menschen werden dagegen unterteilt in:
- "A‘wam" (von arabisch U‘mum; Gesamtheit), also die muslimische Allgemeinheit, die der Macht dieses islamischen Staates unterworfen werden sollen, um seine Anweisungen ohne jeglichen Widerspruch zu befolgen.
- "Murtadd" (arabisch), also die Abtrünnigen, Muslime, die sich ihm in den Weg stellen, ihm widersprechen.
- "Kuffar" (arabisch), also die Ungläubigen. Dies ist der Rest der Menschheit, also die Nichtmuslime.
Diese Unterteilung gibt ihnen ein Gefühl der Überlegenheit, sowohl ihren Mitmenschen gegenüber als auch den gesamten Gesellschaften, in denen sie beheimatet sind. So wurden aus politischen Streitereien religiöse Machtkämpfe, bei denen die Beteiligten sich gegenseitig zu "Abtrünnigen" und "Ungläubigen" erklärten und gegenseitig mit Waffengewalt bekriegten, wie wir es zwischen dem IS und der Nusra Front gesehen haben.
Der Verlust von menschlichen (humanitären) Eigenschaften
Das oben beschriebene Überlegenheitsgefühl, gepaart mit der buchstabengetreuen, starren Interpretation von Koran und Hadithen, produzierte eine gnadenlose Gruppierung von Menschen, die jegliche Menschlichkeit vermissen lassen. Aufgrund der erwähnten Kategorisierung der Mitmenschen gelten die "Anderen", die keine "Brüder im Geiste" sind, als Nicht-Menschen. Ihnen wird die Gattungszugehörigkeit abgesprochen, sie sind ungleichwertig, Kreaturen, etwas Böses, das sich den religiösen Regeln und Gesetzen zu unterwerfen hat. Die Beispiele hierzu sind zahlreich und vielfältig: Das Köpfen von Geiseln, Massaker an unterworfenen Stämmen (z. B. al-Sha’itat) oder die Versklavung von jesidischen Frauen. All das sind Verhaltensweisen, die als Folge des Verlusts menschlicher Eigenschaften anzusehen sind. Auch wenn die Al Nusra-Front ihre Gefangenen oft gut behandeln soll, geschieht dies nicht deswegen, weil die Gefangenen Menschen sind. Ausgangspunkt dieses Verhaltens sind eigene Interpretationen über einige Überlieferung zum Thema "Gefangenschaften" zur Zeit des Propheten, auf die sie sich beziehen.
Man kann sagen, dass bis 2012 diese drei Eigenschaften auf alle jihadistischen Salafisten zutraffen. Danach entstand eine neue jihadistische Strömung, die diese Eigenschaften ablehnte. Als Beispiel, wenn nicht als Begründer dieser Strömung, können die Ahrar Al-Sham gelten. Ihre Anführer bewerteten den jihadistischen Salafismus neu und veröffentlichten Stellungnahmen, in denen sie sich vom Geist des Jihads loslösten. Die letzte dieser Stellungnahmen war die aufrichtige Entschuldigung des Chefideologen der Ahrar Al-Sham, Mohamad Abu Yazan Al-Shami. Darin distanzierte er sich von jeglichen Praktiken, die im Namen des Jihads ausgeführt wurden und beteuerte seine Reue und die seiner Bewegung. Wenige Tage vor seinem Tod sagte er:
Ja, ich war ein jihadistischer Salafist. Aus diesem Grunde wurde ich in den Kerkern des Regimes festgehalten. Doch heute bitte ich Gott um Vergebung, wende mich ihm reuevoll zu und entschuldige mich bei meinem Volk, denn wir haben euch einen Don-Quijote-Krieg gebracht, der euch besser erspart geblieben wäre. Ich entschuldige mich bei euch dafür, dass wir uns zu sehr von euch entfernt haben. Als ich mein Gefängnis in meinem Kopf verlassen habe, und euch und euren Herzen beiwohnte, wiederholte ich die Aussage des Propheten, des Ehrlichen, Friede sei mit ihm: "Wenn ihr zulasst, dass die Menschen in Al-Sham Mangel leiden, so ist keine Güte in euch." Ich bitte euch um Verzeihung! Verzeihung! So Gott will, werden die kommenden Tage die besseren für unsere Revolution und den Islam sein.
Die Anführer der Ahrar Al-Sham wurden bei einem mysteriösen Attentat am 9. September 2014 ermordet, wodurch die Organisation erheblich geschwächt wurde. Sie konnte sich jedoch schnell erholen und bestreitet ihren Weg der Reformen, den die ermordeten Anführer begannen hatten, weiter. Bis März 2015 ließ sich diese Gruppierung von einer Mission leiten, die auf die ganze "Umma" (islam. Gemeinschaf aller Gläubigen) bezogen war. Dasselbe Ziel verfolgte auch die Al-Jabha Al-Islamiya (Islamische Front), die im November 2013 gegründet wurde, und in der diverse islamische Brigaden vereint sind, die gegen das Assad-Regime kämpfen. Dieses allgemeingültige Ziel drückt vor allem aus, dass sie den Aufbau eines Staates beabsichtigten, der allen Muslimen offen stehen sollte. Doch seit der Fusion mit Suqour Al-Sham am 22.3.2015, der Bewegung, die ebenfalls als reformfreundlich gilt, änderte man das Hauptziel, das nun "Volksrevolution" lautete. Dieser Slogan wurde fortan auf ihren Flaggen sowie in schriftlichen Stellungnahmen platziert und drückt aus, dass die syrische Revolution eben syrisch ist, also eine Revolution des ganzen Volkes und nicht einer bestimmten Konfession. Diese Veränderung ist eine bedeutungsvolle Entwicklung im Diskurs von Organisationen, die eigentlich ein jihadistisches Selbstverständnis haben. Zur Folge hatte dies, dass die Ahrar Al-Sham nun von diversen Vertretern traditioneller jihadistischer Strömungen, etwa Abu Muhammad Al-Maqdesi oder Abu Qatada Al-Falastini, angeprangert wurde.
2 Kommentare
Kommentare
David am Permanenter Link
Interessante Analyse.
Klemens am Permanenter Link
Kann man den religiösen Kriegstreibern, die den Koran und die Hadithen, buchstabengetreu auslegen, nicht mal sagen, dass sie dann auch die damaligen Waffen verwenden müssen...