Erinnern an Erwin Piscator in der Freien Volksbühne Berlin

Theater gegen das Vergessen und Verdrängen

freie_volksbuhne.jpg

Freie Volksbühne Berlin
Freie Volksbühne Berlin

nollendorfplatz_metropol_min.jpg

Das ehemalige Theater am Nollendorfplatz, Heimat der Piscator-Bühne
Das ehemalige Theater am Nollendorfplatz, Heimat der Piscator-Bühne

BERLIN. (hpd) Über den Regisseur Erwin Piscator sagte Bertolt Brecht einmal, dieser habe das Theater revolutioniert. Mit seinem politischen Theater der 1920er Jahre und mit der Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit Anfang der 1960er Jahre hat Piscator bedeutende politische und theaterhistorische Akzente gesetzt.

Mit einer Ausstellung anlässlich des 50. Todestages erinnert jetzt die Freie Volksbühne Berlin an das engagierte Zeittheater Piscators, das die Utopie von einer neuen Gesellschaft mit dokumentarischen und großen technischen Mitteln auf die Bühne brachte. Sein Inszenierungsstil war für das Theater experimentiell: Filme und Bildprojektionen wurden eingespielt, Spruchbänder aufgehängt und Aufzüge mit mehr als 50 Statisten nachgestellt. Piscator dazu im Rückblick: "Das Neue war es, dass damals in dieser Zeit, die politisch erwachte nach den ungeheuerlichen Katastrophen und Erfahrungen des Weltkrieges Nr. 1, dass dieser Stil als bewusst politisch angewandt wurde und dazu dienen sollte, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, die die Erfahrungen der Vergangenheit benutzten."

Erwin Piscator
Erwin Piscator, um 1927 (Foto: gemeinfrei)

Der 1893 geborene Kaufmannssohn aus Wetzlar war nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges eingezogen worden und erlebte in den Stellungskämpfen in Westflandern, wie Soldaten als Kanonenfutter tausendfach starben. Diese Kriegserfahrungen prägten die pazifistische und sozialistische Überzeugung Piscators. Nach Kriegsende setzte er sein Studium an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin fort und schloss sich der Berliner Dadaisten-Gruppe um die Künstler Georg Grosz und John Heartfield an. 1920 gründete Piscator in Berlin das "Proletarische Theater". Zu dessen Programm schrieb er: "Wir verbannten das Wort 'Kunst' radikal aus unserem Programm, unsere 'Stücke' waren Aufrufe, mit denen wir in das aktuelle Geschehen eingreifen und 'Politik' treiben wollten." Diese Auffassung stand im Widerspruch zur KPD, deren Mitglied Piscator geworden war. In ihrer Zeitung "Rote Fahne" wetterte die Partei: "Kunst ist eine so heilige Sache, als dass sie ihren Namen für Propaganda-machwerk hergeben dürfte! …Was der Arbeiter heute braucht, ist eine starke Kunst … solche Kunst kann auch bürgerlichen Ursprungs sein, nur sei es Kunst …"

1924 wurde Piscator als Oberspielleiter an die Berliner Volksbühne am Bülowplatz berufen. Die Volksbühne war eine vom Freidenker Bruno Wille gegründete mitgliederstarke Besucherorganisation, deren Anspruch unter der Leitidee "Die Kunst dem Volke" darin bestand, der Arbeiterschaft Zugang zu Kultur und Bildung zu verschaffen. Nach acht Inszenierungen kam es 1927 zum Bruch mit der Volksbühne. Deren Vorstand sah nach der Aufführung des Dramas "Gewitter über Gottland", in der der bekannte Schauspieler Heinrich George den Claus Störtebecker spielte, die überparteiliche Ausrichtung der Besucherorganisation gefährdet. Nur die jungen Gruppen unter den Mitgliedern der Volksbühne unterstützten Piscator.

1931 ging Piscator zunächst in die Sowjetunion, wo er den Film "Der Aufstand der Fischer" nach einer Novelle von Anna Seghers drehte. Nach seiner Emigration in die USA gründete er 1940 in New York eine Schauspielschule. Als Leiter der Schule verschaffte er zahlreichen Kriegsflüchtlingen aus Europa eine Beschäftigungsmöglichkeit. Zu Piscators US-Studenten gehörten u.a. Harry Bellafonte, Marlon Brando, Tony Curtis, Walter Matthau sowie der Dramatiker Tennessee Williams. 1951 geriet der Emigrant Piscator ins Visier des FBI. Einer Vorladung durch das Komitee für unamerikanische Aktivitäten entzog er sich durch eine Rückkehr nach Deutschland.

Als Intendant kam Piscator 1962 erneut an die Freie Volksbühne in West-Berlin. Schon seine dritte Regiearbeit von Rolf Hochhuths "christlichem Trauerspiel" "Der Stellvertreter" löste 1963 eine erregte politische Debatte aus. Die Frage nach der Mitschuld der katholischen Kirche und des damaligen Papstes Pius XII. an der millionenfachen Ermordung der europäischen Juden durch den NS-Staat führte zu öffentlichen Demonstrationen, Parlamentsdiskussionen und diplomatischen Auseinandersetzungen. Mit der Uraufführung des "Auschwitz-Oratoriums" "Die Ermittlung" von Peter Weiss im Jahre 1965 befasste sich Piscator mit der moralischen Verantwortung und individuellen Schuld der Deutschen während der Zeit des Hitler-Faschismus. Die Kritiker lobten Piscators Arbeit als eine der bedeutendsten Ereignisse des deutschsprachigen Theaters, das ältere Publikum war gespalten, das jüngere begeistert. Eine ganze Nachkriegsgeneration konnte endlich ihre Eltern zum Vergessen und Verdrängen eines ganzen Volkes an den Verbrechen der Nazis befragen.

Ein Jahr später starb Piscator. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf.

Piscators künstlerisches Verdienst ist die Etablierung eines Gedächtnis- und Dokumentartheaters, das zu notwendigen gesellschaftlichen Debatten, zur politischen Sensibilisierung und Aktivierung der Zuschauer führt. Sein Leitmotiv formulierte er so:

Aus Mangel an Phantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müsste die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen. Es sind also stärkere Mittel nötig. Eins davon ist das Theater.

So aufregend und mutig wie bei Piscator ist politisches Theater in Deutschland nie wieder gewesen. Aufklärung und politisches Engagement aber sind heute wichtiger denn je. Bleibt zu hoffen, dass Theatermacher sich wieder mehr darauf besinnen, dass der gesellschaftliche Stellenwert einer Aufführung Vorrang vor einer reinen Bühnenästhetik haben sollte.