"Der Müll, die Stadt und der Tod"

FRANKFURT. (hpd) Anläßlich der Fassbinder-Retrospektive im Frankfurter Filmmuseum lud die KunstGesellschaft Peter Menne ein, die Kontroverse um “Der Müll, die Stadt und der Tod” aufzugreifen. Das Drama löste die wohl tiefgreifendste und spektakulärste Auseinandersetzung aus, die ein Theaterstück bislang in der Bundesrepublik hervorgerufen hat.

Im bestens besuchten Club Voltaire referierte Peter Menne eine neue, textimmanente Interpretation des von weiten Teilen des deutschen Feuilletons als “antisemitisch” verrissenen Stücks. Wie unhaltbar solche Vorwürfe sind, zeigt nicht nur die Aufführungsgeschichte von Los Angeles (unter künstlerischer Leitung von Frédérique Michel, Jüdin und Tochter eines Holocaust-Überlebenden) bis zur Inszenierung in Tel Aviv.

Mit dem spannungsreichen Verhältnis von Kunst und Gesellschaft beschäftigt sich die KunstGesellschaft seit über 30 Jahren. Was läge da näher, als angesichts des bevorstehenden 30-jährigen Jubiläums der Bühnenbesetzung die Debatte um Fassbinders Stück neu aufzurollen? Der Referent hat seine literaturwissenschaftliche Magisterarbeit über Fassbinders Drama und den vorgängigen Roman “Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond” von Gerhard Zwerenz verfaßt – eine Arbeit, die in Fachkreisen Anerkennung gefunden hat.

An der anschließenden Diskussion beteiligten sich Experten und Zeitzeugen, darunter Karlheinz Braun, der Suhrkamp-Lektor, der die Erstausgabe von “Der Müll, die Stadt und der Tod” 1976 herausbrachte und später den Verlag der Autoren gründete, dem auch Fassbinder angehörte. Oder Ellen Schulz, die Frankfurter Schauspielerin, die die Hauptrolle der Roma B. in der Frankfurter Inszenierung 1985 spielte und Mennes These bestätigte, dass die Figur des “Reichen Juden” die einzige war, die zu lieben imstande war. Weiter Heiner Halberstadt, einer der Gründer des Club Voltaire, der sich während Fassbinders kurzen Frankfurter Jahren immer wieder mit ihm über die stadtpolitischen Hintergründe des Stücks: die Gentrifizierung des Westends, ausgestauscht hatte.

Der Vortrag

Peter Menne
Peter Menne

Peter Menne referierte die eigenwillige Rollenverteilung in Fassbinders Stück: Frauen treten nur als Hure auf, als Varieté-Sängerin oder als die Mutter einer Hure. Das Dutzend Männer, das sich da vergnügt, ist ökonomisch differenzierter: die eine Hälfte arbeitet als Immobilien-Developper oder Polizeioffizier. Die andere Hälfte bestreitet ihren eher kargen Lebensunterhalt als Zuhälter, Transvestit oder “türkischer Straßenkehrer” (Szenenanweisung). Fast durchgängig spielt das Stück im Rotlichtmilieu, zeigt die Huren an ihrem Arbeitsplatz - oder den Transvestiten, während er sich zuhause schminkt.

Die Fokussierung auf das Milieu deutete Menne als Kritik an einer Gesellschaft, die alles und jeden zur Ware macht: untermauert mit Zitaten aus Marx’ Kommunistischem Manifest und Niklas Luhmanns systemtheoretischer Beschreibung von Marktwirtschaft zeigte er auf, wie Fassbinder Marx’ Dictum von der “einen gewissenlosen Handelsfreiheit” künstlerisch umsetzt, indem er auch die Liebe zur käuflichen Beziehung macht. Jeder Versuch einer nicht-käuflichen, gefühlsbasierten Liebesbeziehung scheitert im Stück.

Dass selbst die Liebe - praktisch ausschließlich - zur Ware wird, ist Sinnbild für eine kalte, gefühllose Stadt. Doch die Menschen bleiben mehr als bloße Rolle, als Funktion: ihre Gefühle stauen sich, auch der Frust über das Scheitern im Geschäft. Doch kritisiert wird nicht das (schlechte) System. Sondern vorurteilsbesetzt wird ein Sündenbock gesucht - und über das - völlig außerökonomische - Merkmal “Jude” gefunden. Fassbinder führt vor, wie Projektion funktioniert, wie alte und neue Nazis ihre Schuldigen aufgrund ihrer Vorurteile suchen statt nüchtern die Effekte des Konkurrenzmodells “Kapitalismus” zu untersuchen. Dabei griff der Dramatiker ein neues Phänomen auf, dass die Sozialforschung “Schuldabwehrantisemitismus” nennt: Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Der Developper Hans von Gluck bringt es in seinem haßerfüllten Monolog auf den Punkt:

“Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam, oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir.” (Hans von Gluck in “der Müll, die Stadt und der Tod”, 10. Szene)

Genau diese Passage zitierte Henryk M. Broder und kommentierte: “Diese Worte sind einfach genial. Kein Vorurteilsforscher hat das dumpfe Grollen in den Untiefen der antisemitischen Seele besser analysiert, ein Ressentiment zutreffender beschrieben, das den Juden die Schuld am Haß gegen sie gibt, einfach weil sie da sind. Die Wut der Täter auf die überlebenden Opfer, deren Existenz eine schmerzliche Erinnerung und eine unerträgliche Provokation zugleich ist, legt die Grundlage für einen Antisemitismus wegen Auschwitz.” (Henryk M. Broder: Fassbinder war kein Antisemit. Erinnerungen an den Fassbinder-Theaterskandal im Jahre 1985, in: taz, 4. Juni 1992.)

Ausführlich stellte der Referent dar, wie der Autor zu seinen Figuren steht: Ist es möglich, dass Fassbinder dem Nazi Hans von Gluck sympathische Züge verleiht, während der antisemitisch schwadroniert? Tatsächlich zeichnet er ihn als abstoßenden Hypochonder. Über den anderen Nazi macht Fassbinder sich lustig, indem er ihn seine Brötchen ausgerechnet als Transvestit verdienen lässt - was in seiner faschistischen Gedankenwelt nur “Rassenschande” sein kann.

Der Umgangston im Milieu ist rauh - doch genau von solcher Vulgärsprache setzt die Figur “der Reicher Jude” sich ab, zeigt - als einziger! -Empathie. Als Roma B. sterben will, um Sterbehilfe bettelt, wird sie von anderen Passanten verspottet: “Für so einen Luxus ist mir meine Zeit zu schade”. Ganz anders der “Reiche Jude”: “ich habe gespürt, dass Sie mich brauchen. Ich bin da.” Doch er anerkennt, dass Roma B. nicht mehr leben will. Mit den Worten “ich tue es für Sie” leistet er Sterbehilfe. Was den nächsten Stadtbewohner zur treffenden Feststellung veranlasst: “Er hat sie geliebt. Er hat sich selbst disqualifiziert”.

Wie Schauspielerin Ellen Schulz kommt auch Peter Menne zum Schluss: die einzige Figur mit menschlichen Zügen bleibt “der Reiche Jude” - dessen namenlose Etikettierung dazu dient, die Vorurteilsstruktur deutlich zu machen: Für ein Stück über Antisemitismus, für so einen sozialen Zusammenhang, braucht es sowohl einen Antisemiten wie auch einen Juden auf der Bühne. Wem aber die Sympathien des Autors gehören und wen er offensichtlich abstoßend zeichnet, wird beim Blick in den Text klar. Mit einem Zitat aus Fassbinders Offenem Brief beendete Menne seinen Vortrag: “Und natürlich gibt es in diesem Stück auch Antisemiten, leider gibt es sie nicht nur in dem Stück, sondern eben beispielsweise auch in Frankfurt. Ebenso natürlich geben diese Figuren … nicht die Meinung des Verfassers wieder, dessen Haltung zu Minderheiten aus seinen anderen Arbeiten eigentlich bekannt sein sollte. Gerade einige hysterische Töne in der Diskussion um dieses Stück bestärken mich in der Angst vor einem ‘neuen Antisemitismus’, aus der heraus ich dieses Stück geschrieben habe.” (Rainer Werner Fassbinder, Paris, am 28. März 1976)

Beispielbild

Die Diskussion

Prof. Reiner Diederich, Vorsitzender der KunstGesellschaft, moderierte die Diskussion, in der nachgefragt wurde, wie es zu so missverstandener Deutung in Deutschland kommen konnte. Zeitzeuge Karlheinz Braun, damals Chef des Verlags der Autoren, verwies auf den Generationswechsel in der Jüdischen Gemeinde: die Jüngeren warfen den Älteren vor, dass sie vor und im NS-Regime nicht genügend Widerstand geleistet hätten. Das wollten sie nun anders machen und in der Öffentlichkeit ein Zeichen setzen. Offensiv bekannte sich Ignatz Bubis dazu, mit der Bühnenbesetzung einen Hausfriedensbruch zu begehen. Mit der Bühnenbesetzung im Oktober 1985 begann ein neues, selbstbewussteres Auftreten der Jüdischen Gemeinde in Deutschland - womit die Kontroverse um Fassbinders Stück positive Auswirkungen gezeitigt hat.

Moderator Diederich zitierte die wichtige Unterscheidung, die Bubis in der Debatte verankerte, als er festhielt: “Ich habe den Begriff ‘Spekulant’ nie als Schimpfwort empfunden, nur wenn man gesagt hat, dass das ‘jüdische Spekulantentum’ wieder am Werk sei, habe ich mich gewehrt” (taz-Interview mit Bubis vom 21. Sept. 1992). Denn die “Ethnisierung des Kapitals”, so Diederich, lenke immer von den Tatsachen ab und bediene auf ganz emotionalisierende Weise stereotype Wahrnehmungsmuster.

Die Westend-Spekulation wurde aufgegriffen: ein Diskussionsteilnehmer erwähnte die extremen Gewinne, die manche Spekulanten da erzielt haben. Ein anderer gehörte damals zu den Hausbesetztern. Ihnen war es wichtig und richtig erschienen, bestimmte Personen zu benennen und ihr Tun anzuprangern: Personalisierung war gewollt. Peter Menne nannte das in doppelter Hinsicht kritisch: schon Adorno hatte (in seinen “Studien zum autoritären Charakter”) festgehalten, dass Personalisierung ein beliebtes Mittel ist, um Vorurteile zu pflegen - während es intellektuelle Arbeit abfordert, ein kaltes System zu durchschauen. Im konkreten Fall des Westends wichtiger: so sehr einzelne Immobilienkaufleute da auch ein gutes Geschäft gemacht haben mögen (nicht jede Spekulation brachte Gewinn), waren es für die gesamte Umstrukturierung zum Geschäftsgebiet doch nur Randfiguren. Denn die A-Lagen, also die “Filetstücke” hatten Banken und Versicherungen schon aufgekauft, noch bevor sich die AGW - Arbeitsgemeinschaft Westend gegründet hatte. Das ganz große Geschäft machten keine Einzelpersonen, sondern juristische Personen, insbesondere solche Banken, die zuvor schon an der “Arisierung” gut verdient hatten.

Wo sich die Bühnenbesetzung im Frankfurter Schauspiel nächstes Jahr zum dreißigsten Male jährt, könnte man die Kontroverse von damals jetzt zum Gegenstand einer kulturellen Debatte machen? Und eine Aufführung von “Der Müll, die Stadt und der Tod” in aufklärerischer Absicht auch in Frankfurt ermöglichen - nachdem das Stück inzwischen auch in Tel Aviv gespielt wurde? Diese Fragen, solche Wünsche standen am Ende der lebendigen Diskussion. Nicht nur der (inzwischen pensionierte) Chef des Verlags der Autoren bleibt gespannt auf die nächste Folge in der Aufführungsgeschichte…