Tipping Points der Klimakrise:

Der Südosten des Amazonas hat eine negative CO2-Bilanz

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Regenwaldabholzung in Brasilien

Neun Jahre lang hat ein Team von Klimaforscher:innen die atmosphärische Konzentration von Treibhausgasen über dem Amazonas gemessen. Das Ergebnis: Teile des Regenwalds geben aufgrund von Erderwärmung und Abholzung nun mehr CO2 frei, als durch Photosynthese gebunden wird. Der Amazonas wird somit zu einem weiteren Treiber der Klimakrise.

Tropische Regenwälder sind eine der größten Kohlenstoffsenken der Welt. So bezeichnet man Gebiete, die mehr Kohlenstoff aufnehmen und speichern als durch Dekompostierung in die Atmosphäre freigesetzt wird.

Die Tropenwälder allein haben 25 Prozent allen CO2s, das seit 1960 durch Nutzung fossiler Brennstoffe freigesetzt wurde, absorbiert. Doch der Amazonas, der größte intakte Tropenwald der Erde, steht im Verdacht, von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlenstoffquelle zu werden.

Luciana Gatti von Brasiliens nationalem Weltraumforschungsinstitut und ihr Team nahmen neun Jahre lang per Flugzeug Proben aus der Atmosphäre des Amazonas und unterteilten den Regenwald dabei in vier Gebiete: Nordwest, Nordost, Südwest und Südost. Mit diesen Daten erstellten die Forschenden mehrere hundert vertikale Emissionsprofile und berechneten den "Net Biome Exchange (NBE)" der vier Regionen. Ist dieser negativ, fungiert der Wald als Kohlenstoffsenke.

Nach Auswertung der Emissionsprofile kamen Gatti et al. zu dem Ergebnis, dass die südöstliche Region des Amazonas einen positiven NBE aufweist. Emissionen durch Brände sind hierbei noch nicht mitgerechnet. Es sei ein Alarmsignal, dass der Amazonas beginnt, mehr Kohlenstoff abzugeben als zu binden, schreiben die Forscher:innen.

Abholzung bedeutet Öl ins Feuer

Eine große Rolle bei der Klimabilanz von Regenwäldern spielen die Dürreperioden und die mit ihnen einhergehenden Waldbrände. Zwar brennen Regenwälder naturgemäß eine gewisse Zeit im Jahr, doch Gatti und ihr Team konnten nachweisen, dass es auch bei den Abholzungsquoten Tipping Points gibt.

Werden diese überschritten, tritt ein Dominoeffekt ein: Weniger Bäume bedeutet weniger Regen, weniger Regen bedeutet längere und intensivere Dürreperioden und extremere Dürren bedeuten, dass Brände leichter auf anliegende Gebiete überspringen können. Die jährlich stattfindenden Junibrände erreichten dieses Jahr die höchste Intensität seit 2007, berichtete Reuters.

"Die erste schlechte Nachricht ist, dass die Brände etwa dreimal so viel CO2 freisetzen, wie der Wald absorbieren kann. Die zweite schlechte Nachricht ist, dass die Regionen, in denen die Abholzungsquote über 30 Prozent liegt, zehnmal so viel Kohlenstoff emittieren wie die Regionen mit einer Abholzungsquote unter 20 Prozent", schreibt Gatti.

Und die Abholzung nimmt kein Ende. Zwischen August 2019 und Juli 2020 wurden mehr als 11.000 Quadratkilometer Regenwald gerodet – so viel wie seit 2008 nicht mehr. Der Löwenanteil dieser Flächen fällt der Rindfleischproduktion anheim, tropische Regenwälder werden durch monokulturell angebaute Futtermittel ersetzt.

Das Produktivitätsparadoxon

Auch das Coronavirus konnte die rapide Abholzung des Amazonas nicht bremsen. Stattdessen gesellt sich ein zweites Problem hinzu: Landraub. Inmitten des covidbedingten Chaos' öffneten brasilianische Behörden hunderttausende Quadratkilometer vormals indigenen Lands für die kommerzielle Nutzung. Weite Teile des Amazonas und seiner indigenen Bevölkerung, so auch das Volk der Yanomami, sind außerdem Angriffen von illegal operierenden Minenunternehmen ausgesetzt.

Gatti schreibt: "Das Schlimmste ist, dass wir unsere Entscheidungen nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen. Menschen denken, dass mehr agrikulturelle Flächen mehr Produktivität bedeuten, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Produktivität des Bodens sinkt, weil der Regen ausbleibt."

Ursachen für Landverbrauch im Amazonas
Soziale und wirtschaftliche Triebfedern des Landverbrauchs im Amazonas: A – Waldverlust 2001–2019 (Hansen et al., 2013), B – Feuer 2001–2019 (RAISG, 2020), C – Landwirtschafts- und Nutztierflächen (MAPBIOMAS Version 2.0, 2020), D – Wasserspeicher und Wasserkraftwerke (RAISG, 2020), E – Erdölförderungs- und Bergbaugebiete (RAISG, 2020), F – Fischerei- und Jagdgründe (RAISG, 2020). (Abbildung: Kristofer Covey et al. via Wikimedia Commons, CC BY 4.0)

Eine aktuelle Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Abholzung und die damit einhergehende Erwärmung der Region die brasilianische Sojaindustrie allein bereits 3,5 Milliarden US-Dollar jährlich kostet. Der Schaden, der für die gesamte brasilianische Bevölkerung wie auch für die Weltgemeinschaft entsteht, wenn wir der Abholzung weiterhin gleichgültig gegenüberstehen, ist demzufolge gigantisch. Und er steht in keinem Verhältnis zu den vergleichsweise mickrigen Umsätzen, die wir erwirtschaften, indem wir noch ein paar Quadratkilometer Regenwald zur Sojaplantage umfunktionieren und noch ein paar Tonnen Rindfleisch damit produzieren.

Wir können uns nicht mehr auf den Amazonas verlassen

Die Tatsache, dass der Amazonas zu einer Kohlenstoffquelle wird, bedeutet auch, dass wir noch schneller den Punkt des emissionsfreien Wirtschaftens erreichen müssen. Eine andere Studie aus dem Jahr 2020, die 300.000 Bäume über einen Zeitraum von 30 Jahren beobachtet hat, kommt zu dem Ergebnis, dass der Regenwald sukzessive weniger CO2 zu binden vermag. Bedeutet: Einer unserer größten Klimapuffer ist so gut wie vernichtet.

"Das Schlimmste ist, dass wir unsere Entscheidungen nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauen."
Luciana Gatti

Zwar führt eine steigende Konzentration von CO2 auch zu einer Steigerung der Photosyntheseleistung, doch diese reicht bei weitem nicht aus, um die Funktion als Kohlenstoffsenke langfristig zu erhalten. Scott Denning, Atmosphärenwissenschaftler an der Colorado State University, schreibt in einem Kommentar zu Gattis Untersuchung: "Es ist unklar, wie die auf CO2 angewiesenen tropischen Regenwälder auf eine Welt reagieren werden, die sich bei stagnierenden CO2-Niveaus dennoch weiter erwärmt. […] Die atmosphärischen Profile von Gatti und ihren Kolleg:innen zeigen, dass die 'unsichere Zukunft', von der die Rede ist, hier und jetzt stattfindet."

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