Der Tod ist eine Gemeinheit

Die Endlichkeit des Lebens macht das Dasein auf Erden oft zur Hölle. Denn alles, was mit dem Ableben zusammenhängt, macht Angst. Potenziert wird diese Angst durch den Umstand, dass der Tod ein ständiger Begleiter ist – auch wenn wir dies nicht immer wahrnehmen.

Jede Überquerung der Strasse, jede Fahrt mit dem Auto und jede Bergwanderung kann die letzte Stunde einläuten. Oder wir entdecken beim Duschen einen Knoten, der das Leben von einer Sekunde zur anderen auf den Kopf stellt.

So gesehen ist das Leben an sich eine Zumutung. Und eine Gemeinheit. Wir wissen nicht einmal, ob ein Baby mit einem Herzfehler auf die Welt kommt und nach wenigen Monaten stirbt. Solche Existenzängste führen zur Religiosität. Glaubensgemeinschaften versprechen denn auch, den Tod zu überwinden. Zwar nicht im Jammertal – genannt Erde –, sondern nach dem Tod im Paradies.

Diese Vorstellung soll der Angst vor dem Tod den Stachel nehmen. Oder zumindest Trost spenden. Das ist ein Erfolgsmodell. Oder war es zumindest früher. Entsprechend befassen sich alle Glaubensgemeinschaften mit der Frage der Transzendenz. Die Modelle sind unterschiedlich und vielfältig.

In den fernöstlichen Gesellschaften geht es primär um die Idee der Wiedergeburt, bei den Buchreligionen und monotheistischen Heilsvorstellungen wird ein Leben nach dem Tod in einer paradiesischen Umgebung gepredigt. Kleinere Glaubensgemeinschaften und Sekten verkünden eigene Theorien oder modifizierte Ideen.

Die Zeugen Jehovas zum Beispiel glauben zwar auch an die Bibel, interpretieren sie aber nach ihren Vorstellungen. Sie sind überzeugt, dass laut Johannes-Offenbarung je 12.000 Gläubige der 12 Stämme in den Himmel eingehen werden. Da sie vor über 100 Jahren glaubten, die Endzeit breche bald an, hätte das Kontingent locker gereicht.

Nun hat sich aber die Wiederkunft Christi verzögert, und die Zahl der Gläubigen ist in die Millionen gestiegen. Deshalb mussten sie zur Paradiesvorstellung greifen: Nachdem das Kontingent der 144.000 Privilegierten ausgeschöpft war, die nach der Endzeitschlacht im Himmel Platz finden sollen, bleiben die Überzähligen auf der Erde, die sich in ein Paradies verwandelt.

Wer hat recht, welche Jenseitsvorstellung ist die richtige? Es ist wie bei den 100.000 verschiedenen Glaubensgemeinschaften und Sekten: 99.999 liegen falsch. Und nur eine trifft ins Schwarze: die eigene.

Mit zunehmender Säkularisierung drängt ein neues Modell auf den Religionsmarkt: Anti-Aging. Ganze Industrien und die Alternativmedizin suchen nach dem Jungbrunnen oder dem ewigen Leben. Oder anders herum: der Vermeidung des Todes. Schließlich stirbt niemand gern.

Viele Menschen vertrauen heute eher der Wissenschaft als Gott. Dieser ist vielleicht als Rückversicherer noch in der Hinterhand, unsere Hoffnung ruht aber primär auf der von uns Menschen gemachten Lebensverlängerung.

Doch zu welchem Preis? Der Überbevölkerung. Der Überalterung. Der Explosion der Gesundheitskosten. Der Zweiklassengesellschaft. (Nur Reiche können sich den Jungbrunnen leisten.)

Was machbar ist, wird gemacht. Reiche werden älter, Arme sterben wie eh und je. Die Wissenschaft wird es richten. Der religiöse Glaube hat das Nachsehen. Das Paradies ist aber keine Alternative, weil es keine Garantie dafür gibt.

Leben bedeutet Werden, Wachsen, Sterben. Und sterben heißt Platzmachen für neues Leben. Von Wiedergeburt, Paradies oder Hölle weiß die Natur nichts.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.