Der Drang nach gesetzlicher Begrenzung der Freiheit

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Das Bundesverfassungsgericht hat im Bereich der Suizidhilfe mit einem bahnbrechenden Urteil den Zustand der Freiheit, wie er vor 2015 bestanden hat, wiederhergestellt. Doch bereits suchen einige Deutsche nach einer erneuten, einschränkenden gesetzlichen Regelung. Sie können offensichtlich echte Freiheit nicht zulassen; es drängt sie nach deren gesetzlicher Beschränkung. Wann überwinden sie ihre Autoritätsaffinität?

Der 26. Februar 2020 ist ein für die Menschenrechte bedeutender Tag: Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat nicht nur den am 10. Dezember 2015 in Kraft getretenen Paragraf 217 des deutschen Strafgesetzbuches (StGB) – "Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" – für nichtig erklärt und damit jene schwache Mehrheit1 im Deutschen Bundestag der Menschenrechts- und Verfassungsignoranz überführt, die am 6. November 2015 dem Gesetzesantrag Brand/Griese zugestimmt hatte. Das höchste deutsche Gericht ging weiter: Es erklärte den bisher in der deutschen Strafrechtsdoktrin zwar nicht als Delikt, aber dennoch als Unrecht geltenden Suizid zum Menschenrecht und hielt gleichzeitig fest, wer sich zum Suizid entschlossen habe, dürfe auch Hilfe dazu annehmen, insoweit diese angeboten wird.

Damit war der Rechtszustand wiederhergestellt, wie er in Deutschland bis zum 9. Dezember 2015 gegolten hatte: Suizid ist kein Delikt; demzufolge kann auch Hilfe zum Suizid kein Delikt darstellen, solange diese Hilfe einer Person geleistet wird, deren Entschluss, ihr eigenes Leben selbst zu beenden, freiverantwortlich erfolgte und entsprechend umgesetzt wird. Mit seinem Entscheid hat das Bundesverfassungsgericht die vor Inkrafttreten von § 217 StGB während gut 150 Jahren bestehende Freiheit in diesem Bereich wiederhergestellt. Gleichzeitig merkte das Bundesverfassungsgericht an, dass die Verbote in Bezug auf Suizidhilfe im ärztlichen Standesrecht einer Reihe von Landesärztekammern wohl hinfällig sind, und dass es einer Anpassung des Betäubungsmittelgesetzes bedarf, damit das für einen Suizid bestgeeignete Medikament auch in Deutschland verschreibungsfähig wird.2

Gesetzliche Regulierung?

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seinem Urteil auch mit der Frage befasst, ob der Staat den Bereich der Suizidhilfe gesetzlich regulieren darf. Es hat die von den Gegnern der Suizidhilfe lautstark beklagten theoretischen Gefahren aufgezählt und entschieden, der Gesetzgeber dürfe solchen Gefahren3 durch eine spezielle Gesetzgebung entgegenwirken, obwohl in der Verhandlung vor dem Gericht deutlich wurde, dass keinerlei verwertbare4 Forschungsergebnisse vorliegen, durch die die behaupteten Gefahren auch nur glaubhaft gemacht würden.

Das Fehlen solcher Forschungsdaten ist deshalb erstaunlich, weil sich in Deutschland nach Gründung des Vereins "DIGNITAS – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben (Sektion Deutschland) e. V." in Hannover am 26. September 2005 während mehr als zehn Jahren eine Suizidhilfepraxis entwickelt hat, in deren Verlauf Hunderten von Personen in Deutschland Suizidhilfe geleistet worden ist. Maßgebend tätig waren in diesem Bereich einerseits einige Einzelpersonen – so der 2019 kurz vor der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe verstorbene Berliner Urologe Uwe-Christian Arnold, Mitglied des Vorstands von DIGNITAS-Deutschland, oder auch der Buchautor Peter Puppe – sowie anderseits der 2009 durch den ehemaligen Hamburgischen Justizsenator Roger Kusch gegründete Verein "Sterbehilfe Deutschland e. V.". Jener Verein veröffentlichte in der Folge regelmäßig Weißbücher mit Berichten über die durch ihn durchgeführten Freitodbegleitungen. Zudem besteht seit 1985 in der Schweiz eine in Recht und Praxis verankerte und allseits respektierte Form der Suizidhilfe, die vielen schwer leidenden Menschen die selbstbestimmte, professionell begleitete Beendigung des eigenen Lebens ermöglicht hat.

Die Ursache fehlender Forschungsdaten

In Ländern, in welchen die selbstbestimmte Leidensbeendigung innerhalb des Parlaments5 derart umstritten ist wie in Deutschland, muss das Fehlen entsprechender Forschungsdaten, welche das Bestehen echter Gefahren bei Freitodbegleitungen nachweisen würden, einiges Erstaunen wecken.

Der Grund, weshalb Forschung sich mit "umstrittener" Suizidhilfe und deren "Gefahren" nicht näher befasst hat, liegt darin, dass Gefahren dieser Art seit Jahren lediglich in der Fantasie von Gegnern der selbstbestimmten Leidensbeendigung bestehen. In Wirklichkeit gibt es sie nicht. Sie sind reine Gedankenprodukte von Personen, die sich anmaßen, andere darin zu bevormunden, wie diese sich in einer der persönlichsten Lebensfragen zu verhalten hätten, und die demzufolge die Würde jener beeinträchtigen, denen sie Vorschriften zu machen versuchen. Sie wären gut beraten, sich folgenden Satz aus dem vorgenannten Entscheid des Bundesverfassungsgerichts zu verinnerlichen:

"Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren."

Wettrennen um ein Gesetz

Dennoch hat gewissermaßen ein Wettrennen um eine gesetzliche Regelung der Suizidhilfe in Deutschland eingesetzt. Der Bundesgesundheitsminister ist zwar durch die dringlichere Aufgabe der Bewältigung der Covid-19-Situation absorbiert, doch im Bundestag haben sich wieder überparteiliche Gruppen gebildet, die an Gesetzesvorschlägen werkeln. Doch auch außerhalb des Parlaments gibt es vielfältige Bemühungen, der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Freiheit auf dem Wege eines Bundesgesetzes unterschiedlich enge Grenzen zu setzen. Einen Zustand der Freiheit als solcher halten obrigkeitsgläubige Deutsche offensichtlich nicht aus; Liebhaber von Autorität, wie sie es sind, wünschen sich auch am Lebensende gesetzliche Normen, dabei erweisen sich sogar langjährige scheinbare Verfechter der Selbstbestimmung nicht ausreichend immun gegen Autoritätsgläubigkeit.

Mag sein, dass diese damit versuchen möchten, noch einengenderen Vorschlägen, auch aus konservativ-religiösen Kreisen, zuvorzukommen. Sie befürchten wohl, dass deren Herold Steffen Augsberg6, dem das Grundgesetz völlig fremd zu sein scheint, mit einem wiederum einengenden Gesetzesentwurf als Erster die Ziellinie übertreten könnte.

Zwiespältige Haltung der FDP gefährdet deren erneute Wahl

Besonders fällt dabei die FDP auf, welche angeblich den Liberalismus verteidigt: Anstelle die nun wiedergewonnene Freiheit als solche zu sichern und ihrem Wahlversprechen, sich für die Freiheit der Selbstbestimmung bezüglich des eigenen Lebensendes einzusetzen, bemüht man sich in der Fraktion der Freien Demokraten zurzeit, gemeinsam mit vereinzelten Abgeordneten anderer Fraktionen, ebenfalls an einem Gesetzesvorschlag zu basteln. Dabei wäre es viel wichtiger, auf dem politischen Parkett endlich unmissverständlich die Frage zu stellen, ob die Voraussetzungen für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung überhaupt vorhanden sind. Es scheint, dass das Fehlen einer klaren diesbezüglichen Aussage des Parteivorsitzenden zu einem der Elemente werden könnte, welche die mittlerweile auf nur vier Prozent Zustimmung zurückgestufte Partei – die schon einmal zufolge widersprüchlichen Verhaltens in dieser Frage während vier Jahren ihre Sitze im Bundestag eingebüßt hatte – bei nächster Gelegenheit wieder zwingen wird, die bequemen Sitze im Reichstag zu verlassen.

Es war der französische Staatsphilosoph Montesquieu, welcher den Satz geprägt hat: "Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, ist es notwendig, kein Gesetz zu machen."

Speziell forsch ins Zeug gelegt hat sich im Wettrennen um ein Gesetz der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) mit einem umfangreichen Vorschlag, aus dem ersichtlich wird, dass den Verfassern kein Jurist mit ausreichender Gesetzgebungserfahrung angehörte. Ausgehend von der Überlegung, Hilfe zum Suizid weise gewisse Parallelen mit dem Schwangerschaftsabbruch auf, wurde ein Text zu einem "Suizidhilfekonfliktgesetz" (sic!) vorgelegt, welchem als Vorbild das Schwangerschaftskonfliktgesetz gedient haben dürfte. Dabei wurde der größte rechtliche Unterschied zwischen den beiden Lebensvorgängen nicht erkannt: Ein Schwangerschaftsabbruch, auch wenn er straflos bleibt, wird nach deutschem Recht mit Rücksicht auf die Lehre der katholischen Kirche nach wie vor als Unrecht und damit als Delikt erachtet; der Suizid dagegen wurde dank des Karlsruher Richterspruches vom Tabu und der Rechtswidrigkeit zum Menschenrecht erhoben. Dies erfordert unterschiedliche Ansätze.

Wie sehr der HVD-Entwurf verunglückt ist, kommt bereits anhand eines einzigen der dort vorgeschlagenen Paragrafen zum Ausdruck:

"Die Beratung ist von den Hilfesuchenden freiwillig in Anspruch zu nehmen."

Schöner lässt sich eine contradictio in adjecto kaum illustrieren.

Wie weiter?

Will der Gesetzgeber lege artis vorgehen, muss er sich zuallererst darum bemühen, festzustellen, ob es eine Notwendigkeit gibt, gesetzgeberisch tätig zu werden. Da Forschungsunterlagen fehlen, stellt sich die Frage, auf welchem Wege dies zu geschehen hat. Das dafür geeignetste Instrument dürfte wohl eine Enquetekommission des Deutschen Bundestags sein. Diese hätte sich darum zu bemühen, in Deutschland und in einigen anderen Ländern mit langjähriger Erfahrung in Freiheit und Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern in Lebensende-Entscheidungen zu ermitteln, ob und inwieweit sich die von Gegnern solcher Selbstbestimmung gebetsmühlenartig betonten Gefahren in der Wirklichkeit manifestieren. Zeichnen sich keine ab, kann auf ein Gesetz und das damit einhergehende Risiko einer neuerlichen Blamage für eine Mehrheit des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht verzichtet werden. Schon 2011 hat die Schweizer Regierung erklärt, es brauche zur Regulierung kein besonderes Gesetz; die allgemeinen Gesetze seien dazu ausreichend.

Eines steht jetzt schon fest: Die wahren Verteidiger des "letzten Menschenrechts" werden sich, wenn nötig, mit einem Antrag auf vorläufige Anordnung an das Bundesverfassungsgericht wenden, falls der Gesetzgeber dieser nun nach langen Jahren erkämpften Freiheit zu enge Grenzen zu ziehen gedenkt.

Hinweis: Gesundheitsminister Spahn hat bereite im April einseitig zu Vorstellungen eingeladen; die Organisationen, welche Suizidhilfe leisten oder demnächst leisten wollen, sind jedoch nicht eingeladen worden. (Siehe Anlage)

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  1. 360 Ja gegen 233 Nein bei 9 Enthaltungen ↩︎
  2. Urteil vom 26.2.2020, Rz 341; abrufbar über den Link

    https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html

  3. A. a. O., Rz 235 ff. ↩︎
  4. A. a. O., Rz. 238; es darf angenommen werden, dass diese Abschnitte des Urteils gewissermassen Wechselgeld für die Erlangung der Zustimmung der der CDU/CSU nahestehenden Mitglieder des Gerichts zum Tenor des Urteils darstellen. ↩︎
  5. Hilfe zum Suizid ist in den Gesellschaften der Staaten Europas kaum mehr umstritten, zeigen doch repräsentative Umfragen immer wieder, dass klare Mehrheiten, oft bis in die Gegend von 80 Prozent der Bevölkerung, die Selbstbestimmung am Lebensende befürworten; vgl. dazu beispielsweise http://www.medizinalrecht.org/wp- content/uploads/2013/03/MeinungsumfrageergebnisseSelbstbestimmungamLebensende.pdf ↩︎
  6. Inhaber einer Professur für öffentliches Recht an der Justus-Liebig-Universität in Gießen; gemeinsam mit dem Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz (einem "Werk" des Malteserordens), Eugen Brysch, in Karlsruhe gescheiterter Entwerfer der Vorlage für den als nichtig erklärten § 217 StGB ↩︎