Unglaubliches aus Ungarn

Die Nähe von Viktor Orbáns autokratischer Fidesz-Regierung zu den Religionsgemeinschaften trägt erstaunliche Blüten. Obwohl immer mehr Menschen in Ungarn konfessionsfrei sind, finanziert die Regierung ihr genehme Religionsgemeinschaften großzügig, ermöglicht diesen die kostenlose Übernahme von Immobilien aus öffentlichem Besitz und fördert die Zunahme konfessioneller Schulen. Auch der Umgang mit dem Thema "kirchlicher Kindesmissbrauch" ist in Ungarn speziell.

Berichte über Angelegenheiten mit Religionsbezug sind in ungarischen Medien eher selten zu lesen. In den letzten Wochen findet man sie jedoch häufiger als sonst – vor allem in den freien, kritischen Medien. Denn noch gibt es Pressefreiheit und einige unabhängige Online-Redaktionen und Zeitschriften in Ungarn, die jedoch außerhalb von Budapest und größeren Städten kaum erhältlich sind und die allesamt mehr schlecht als recht mit Abonnements und auf einem für sie sehr engen Werbemarkt überleben müssen. Rundfunk und die regionalen, aber auch die überregionalen Tageszeitungen sind längst in ein Medienimperium unter der Kontrolle von Viktor Orbáns Freunden eingegliedert. Staatsunternehmen und jene, die mit ihnen Geschäfte machen wollen, wissen genau, wo sie noch werben dürfen und wo es keine gute Idee ist.

Geschenke an Religionsgemeinschaften

In Ungarn gibt es 32 anerkannte Religionsgemeinschaften, 21 davon sind christlich. Die seit 2010 zunehmend ohne Kontrolle agierende Orbán-Regierung hofiert einige dieser Religionsgemeinschaften, in erster Linie jene, von denen sie Unterstützung ihrer politischen Interessen erwartet und bekommt. Für alle möglichen Zwecke wird diesen Religionsgemeinschaften außerhalb des Budgets Finanzierung gewährt. Gleichzeitig hat das Bildungssystem Probleme: Die finanziell ausgehungerten Gemeinden sind gezwungen, ihre Schulen an religiöse Träger zu übergeben. So sind immer mehr SchülerInnen in konfessionellen Schulen, in ländlichen Regionen häufig ohne Alternative. Der Anteil der in konfessionellen Schulen Lernenden ist in zwanzig Jahren von 3 Prozent auf 15 Prozent gestiegen. Dabei sinkt auch in Ungarn der Anteil der religiösen Bevölkerung. Es wird erwartet, dass der Anteil der Christen in der jüngsten Volkszählung unter 50 Prozent fällt.

Nach dem Ende des sozialistischen Systems wurde 1990 damit begonnen, Immobilien, die den Religionsgemeinschaften nach 1948 weggenommen wurden, zu restituieren. Diese konnten statt der Immobilie aber auch eine Ablöse in Geld wählen. Dieser Entschädigungsprozess wurde 2012 in gegenseitigem Einverständnis zwischen Kirchen und Regierung abgeschlossen. Verkündet hat das Zsolt Semjén, damals wie heute die Verbindung zwischen der Fidesz-Regierung und den Kirchen.

Ebendieser Semjén brachte kurz vor der Wintersonnenwende 2022 im ungarischen Parlament eine Gesetzesänderung ein, die dieses eigentlich abgeschlossene Thema wieder auf die Agenda setzte. Das Gesetz wurde mit der großen Regierungsmehrheit, aber auch den Stimmen der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik beschlossen. Die Änderung hat es in sich.

Das neue Gesetz 2022/LXXVIII fügt ins alte Gesetz über die Rückgabe beschlagnahmter Immobilien einen neuen Punkt 14 ein. Religionsgemeinschaften können jetzt Immobilien, die ihnen nie gehört haben (!), wenn sie für sakrale Zwecke oder jene des "Glaubenslebens" gebaut wurden und aktuell von ihnen genutzt werden, kostenlos übernehmen, soweit diese im Besitz des Staates oder von Gemeinden sind. Es ist unklar, wie viele Gebäude das betrifft, und wie eng das Kriterium des "Glaubenslebens" interpretiert wird, aber Kirchen, die den Betrieb einer Schule, eines Krankenhauses oder einer Armenspeisung als Teil ihrer Mission sehen, können auf diese Weise wertvolle Gebäude erhalten. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass solche Gesetzesänderungen der Regierung spontan ohne Lobbying einfallen. Welche Religionsgemeinschaft auf welche Gebäude Anspruch erhebt, ist noch nicht bekannt, aber es wäre sehr überraschend, wenn das Gesetz komplett ohne Folgen bliebe und die Kirchen dieses Geschenk nicht dankend annähmen.

Eine staatliche Kompensation an die Gemeinden, die die Immobilien übergeben müssen, ist nicht vorgesehen, ein Beschwerdeverfahren genauso wenig. Dieses Gesetz hat weniger mit Rückgabe zu tun als mit staatlich legalisiertem Landraub. Dass ein EU-Land so etwas im Jahr 2022 einführt, ist sonst nicht bekannt. (Ein ähnliches Angebot an die katholische Kirche in Spanien vor 25 Jahren endete im Chaos.)

Vermutlich wissen die Akteure, dass die Erzählung vom "christlichen Ungarn" nach der Publikation der Volkszählungsergebnisse nicht mehr glaubwürdig ist, und versuchen vorher noch schnell, Fakten zu schaffen.

Kindesmissbrauch

Wie überall auf der Welt gab es auch in der ungarischen römisch-katholischen Kirche sexuellen Missbrauch an Minderjährigen. Die Diskussion darüber, die im "Westen" spätestens seit den 1990er-Jahren stattfindet und seit 2010 unüberhörbar ist, fand jedoch in Ungarn lange Zeit nicht öffentlich statt. Das Problem wurde ignoriert. Meldungen wurden auch in den 2010er-Jahren so wenig ernst genommen, dass namentlich bekannte Priester jahrelang immer neue Kinder missbrauchen konnten.

Ein Opfer dieses Missbrauchs, Attila Pető, wurde nach seiner Aufdeckungsarbeit erneut Opfer kirchlicher Machenschaften. Nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte, zur Kirchenleitung Kontakt aufzunehmen, und seine Versuche immer verzweifelter wurden (viele Anrufe, SMS-Nachrichten, persönliche Vorsprachen), kündigte er vage an, den zuständigen Bischof nach einer Messe in der Kirche anzusprechen, wenn es nicht anders gehe. Dies führte dazu, dass er am ungarischen Nationalfeiertag, dem 20. August 2019, von der Polizei ohne Tatverdacht, ohne richterliche Genehmigung "für ein Verhör" festgenommen wurde, um an diesem Tag ja keine Gelegenheit zu haben, einen Gottesdienst zu stören – was er gar nicht vorhatte. Dies geschah in Verbindung mit einer Anzeige der römisch-katholischen Kirche gegen ihn wegen behaupteter Belästigung (im Prinzip die vielen Anruf- und Kontaktversuche). In diesem Verfahren wurde das Opfer des sexuellen Missbrauchs bereits in der zweiten Instanz für seine Versuche, einen Entscheider der Kirche zu kontaktieren und eine offizielle Entschuldigung gegenüber den Opfern zu erreichen, verurteilt. Seine Strafe ist zwar die geringstmögliche, eine Ermahnung – aber der Vergewaltiger, der Verursacher seines Verhaltens und des Leides vieler anderer Menschen, stand noch nie vor Gericht.

Doch es tut sich etwas: Als ein bekannter römisch-katholischer Priester vor einigen Tagen öffentlich von seinen Missbrauchserfahrungen als Teenager sprach, geschah etwas Außergewöhnliches: Selbst die regierungsnahen Medien brachen ihr Schweigen und bekamen eine Stellungnahme vom Erzbistum. Die war zwar eher nichtssagend, aber immerhin eine erste Aussage im Schweigekartell zwischen Kirche und Fidesz-Medienimperium. Kurze Zeit später gab das Erzbistum bekannt, dass der Priester auf eigenen Wunsch seinen Dienst beendet habe, was dieser bestätigte. Er sei psychisch nicht mehr in der Lage gewesen, den Beruf auszuüben, auch wegen der verfälschten Wiedergabe seiner Aussagen für Regierungspropaganda gegen homosexuelle Menschen.

Instrumentalisierte Religion

Ungarn zeigt auf eindrückliche Weise, wie eine autokratische Herrschaft versucht, Gruppen, von denen der Staat sich eigentlich fernhalten sollte, mit finanzieller Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik für die eigenen Zwecke einzuspannen. Dass dadurch Dinge passieren, die die Gesellschaft nicht wünscht und die ihr schaden, wie das Einengen der Schulbildung auf zerklüftete konfessionelle Angebote, nimmt diese Regierung in Kauf. Dabei ist die weitaus größte Gruppe jene der Konfessionsfreien – aber selbst für Jugendliche, die zur einen oder anderen Konfession gehören, ist es nicht hilfreich, wenn in ihrer Nähe nur die Schule einer anderen Kirche existiert. So wird die Religionsfreiheit nicht gefördert.

Gleichzeitig ist absehbar, dass die fragmentierten Religionsgemeinschaften (21 christlich, drei jüdisch, zwei muslimisch, eine hinduistisch und fünf buddhistisch) auch zusammen irgendwann nicht mehr genug Stimmen bringen werden. Da ihre Finanzierung aber von ihrer Nützlichkeit für Viktor Orbán und seine nationalistisch-konservative Agenda abhängt, können sie sich schnell in einer aussichtslosen finanziellen Lage wiederfinden. Ihr Versuch, das Geld von den Gläubigen einzusammeln, wird ihnen wiederum schnell zeigen, wie viele echte AnhängerInnen sie wirklich haben. Für die auf diese Weise erpressbar gewordenen Religionsgesellschaften sicherlich auch keine beneidenswerte Situation.

Hintergrund: Kirchenfinanzierung in Ungarn

Eine vom Gehalt einbehaltene Kirchensteuer wie in Deutschland kennt Ungarn nicht. Stattdessen können jene, die Steuern zahlen, ein Prozent ihrer Einkommenssteuer einer Kirche, aber auch einem anderen begünstigten Verein zukommen lassen, ähnlich wie in Italien. Das bedeutet natürlich einmal im Jahr eine große Werbeschlacht um jene, die die meisten Steuern zahlen – aber das sind tendenziell die gebildeten urbanen Schichten, die nur zu einem kleinen Teil aus religiösen Menschen bestehen. So ist die Finanzierung der Kirchen durch die "Mitglieder" deutlich weniger ergiebig, als es etwa in Deutschland und Österreich der Fall ist.

Ein Mehrfaches dieser Einnahmen wird daher vom Staat zusätzlich gezahlt. In den letzten zehn Jahren stieg die Summe stark an, neben den gesetzlich festgelegten, regelmäßigen Zahlungen wurden auch einmalige Unterstützungen in zweistelliger Euro-Millionenhöhe zum Beispiel für den eucharistischen Kongress in Budapest oder das Reformations-Gedenkjahr gewährt. Staatliche Immobilien wurden in dieser Zeit auch bereits kostenlos übergeben, Renovierungen und Neubauten bezahlt. Und "natürlich" zahlt der Staat auch den konfessionellen Religionsunterricht.

Weitere Einnahmequellen sind Aktivitäten, die Kirchen gerne als ihre eigene Wohltätigkeit ausgeben. Kontrolle steht hier nicht im Fokus, was Betrügereien erleichtert. Die ungarische Pfingstkirche hat mit fiktiven Armenspeisungen eine zweistellige Euro-Millionensumme aus Staatsgeldern veruntreut, die Ermittlungen zum gesamten Ausmaß laufen noch.

Auch religiöser Tourismus steht oben auf der Förderliste der Regierung. Da säkulare Anbieter auf diesem Markt gar nicht vorkommen, können die Staatsgelder ganz beliebig verteilt werden. Die diesbezüglich geplante Förderung in Höhe von 75 Millionen Euro bis 2030 löst endlich ein Problem, von dem die ungarische Gesellschaft bisher gar nicht wusste.

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