Eine Diskussion zwischen Humanisten und Christen

"Unsicher sein und trotzdem handeln"

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Dr. Frank Vogelsang, Reinhard Wiesemann, Helmut Fink, Hella Blum (v. l.)
Dr. Frank Vogelsang, Reinhard Wiesemann, Helmut Fink, Hella Blum (v. l.)

Bei einer Podiumsdiskussion in der Essener Kreuzkirche trafen Humanisten und Christen aufeinander, um über Unsicherheiten im Leben zu diskutieren. Das Konzept, Vertreter einer christlichen und einer humanistischen Weltanschauung zum Dialog an einen Tisch zu bringen, ist so einfach wie innovativ.

Beim Einkaufen im Supermarkt fängt es schon an: Welchen von den vielen Artikeln nehme ich bloß? Entscheidungen können zur Qual werden, wenn wir nicht absolut sicher sind. Zum Glück gehen wir nur ein geringes Risiko ein, wenn wir die Getränke für unsere Silvesterparty auswählen – schlimmstenfalls verspielen wir unser Image als Sektkenner. Andere Entscheidungen reichen in ihren Konsequenzen weit über den Neujahrsmorgen hinaus. Denken wir nur an Berufs- und Partnerwahl, mit denen wir die Weichen für unsere Biografie stellen. Oder, auf gesellschaftlicher Ebene, das Für und Wider zum Einsatz von Kernkraft oder Grüner Gentechnik. Angesichts der Tragweite solcher Fragen ist die Sehnsucht nach einem verlässlichen Fundament für unsere Entscheidungen nur zu verständlich. Doch gibt es überhaupt so etwas wie fundamentale Sicherheit? Und wie gehen Individuen und Gesellschaften, religiöse und säkulare, mit existenzieller Unsicherheit um? Solche Fragen standen im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion in der Essener Kreuzkirche, den die Akademie für säkularen Humanismus gemeinsam mit der Evangelischen Akademie im Rheinland im Dezember veranstaltete.

Das Konzept, Vertreter einer christlichen und einer humanistischen Weltanschauung zum Dialog an einen Tisch zu bringen, ist so einfach wie innovativ. Zudem wurde die öffentliche Veranstaltung per Livestream auf Facebook übertragen, sodass sich im Anschluss an die Impulsvorträge der drei Teilnehmer auch Interessierte online per Kommentar an der Debatte beteiligen konnten. Optimale Voraussetzungen, um sowohl Differenzen als auch Anknüpfungspunkte der offensichtlich konträren Positionen zu formulieren und im offenen Gespräch zu benennen. Moderatorin war Hella Blum, Öffentlichkeitsbeauftragte der Evangelischen Akademie im Rheinland.

Christliche und humanistische Standpunkte

Die ganze Bandbreite der vertretenen Positionen wurde bereits bei den einführenden Impulsreferaten deutlich. Eine säkular-humanistische Auffassung vertrat der Physiker und Naturalist Helmut Fink von der Akademie für säkularen Humanismus (Nürnberg), dessen Kernthese zusammengefasst lautet: "Totale Sicherheit gibt es nicht" – weder in der Wissenschaft noch im Alltagsleben. Trotzdem sind wir den Unwägbarkeiten unserer Existenz nicht hilflos ausgeliefert, denn wir verfügen um kognitive Ressourcen, um Hypothesen aufzustellen und zu testen. Durch diesen – im Laufe der Evolution bewährten – Prozess verbessert sich unser Wissensstand immer weiter, sodass wir zunehmend verlässliche Aussagen treffen können.

Einen anderen Standpunkt vertritt der Unternehmer Reinhard Wiesemann, der unter anderem den Begegnungsort "Unperfekthaus" in Essen begründet hat. Zwar pflichtet er Fink insofern bei, als auch er die Vorstellung völliger Sicherheit als illusionär ablehnt und das immer neue Prüfen als elementar für den stetigen wissenschaftlichen Erkenntnisprozess betrachtet. Dennoch werde "unser Handeln ... von einer Rest-Unsicherheit bestimmt", ist Wiesemann überzeugt. Demnach wird selbst nach intensivster Prüfung stets eine kleinere oder größere Rest-Unsicherheit bleiben.

Dass totale Sicherheit nur in der Illusion existiere, sei klugen Köpfen in Wissenschaft und Theologie bewusst. Andererseits gebe es auf beiden Gebieten Fundamentalisten, die Scheinsicherheit predigen und daraus rigorose Maßnahmen ableiteten. Vor diesem Hintergrund warnt Wiesemann vor einer Wissenschaft, die sich als "alternativlos" versteht, und plädiert stattdessen angesichts der vielfältigen Probleme in Wissenschaft und Gesellschaft für eine Pluralität der Denkmodelle auf allen Gebieten. Der Zweifel sei auch für Religion elementar.

Kritik kam von Helmut Fink. So wies er zum einen darauf hin, dass die Ergebnisse von Messungen und Experimenten im Gegensatz zu religiösen Erfahrungen kulturübergreifende Gültigkeit besitzen. Weiter erinnerte er daran, dass die Abkehr von religiösem Dogmatismus erst in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat. Zuvor galten über Jahrhunderte in der Religion völlig andere Spielregeln als in der Forschung. Jeglicher Zweifel an religiösen Dogmen wurde als böse gebrandmarkt, während der "feste Glaube" als Tugend höchstes Ansehen genoss.

"Wirf dein Anliegen auf den Herrn"

Im Gegensatz zu seinen beiden Vorrednern betrachtet Dr. Frank Vogelsang, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, ein festes Vertrauen als unabdingbar für jegliches Handeln. Dass er damit nicht ein beliebiges Vertrauen meint, versteht sich von selbst. Es geht ihm vielmehr um das Vertrauen in den christlichen Gott, welches die Basis für alle anderen Vertrauensformen bildet. Nicht einmal im Umgang mit Technik kommt man ohne Vertrauen aus, so der Ingenieur und Theologe Vogelsang. Welcher Fluggast prüft schon vor Start alle Treibstofftanks und Messgeräte? Vertrauen sei in zwei Szenarien wichtig: bei Handlungen, die man, anders als einen Versuch im Labor, nicht unter gleichen Bedingungen wiederholen kann, etwa die Berufsentscheidung. Und im sozialen Umgang – wer möchte schon vom potenziellen Ehepartner vorm Ja-Wort auf Herz und Nieren getestet werden? Über diese alltäglichen Erfahrungen gehe das Grundvertrauen in Gott freilich hinaus, ist Vogelsang überzeugt.

Spätestens an diesem Punkt mag man aus säkular-humanistischer Sicht einiges entgegnen, wie Helmut Fink es auch tat. So wies er darauf hin, dass es – auch bei der Partnerwahl – letztlich um eine Abwägung auf Grundlage von Erfahrungen geht. Demnach wird das soziale Miteinander von Verhaltensweisen geprägt, die sich im Laufe der Evolution bewährt haben und auch bei Menschen ohne religiösen Glauben prima funktionieren. "Da muss man nicht von Gott reden, da muss man auch nicht gläubig sein." Und wenn unser entgegengebrachtes Vertrauen enttäuscht wird, können wir daraus für die Zukunft lernen, ähnlich wie aus empirischen Tests in der Wissenschaft.

Wenn gläubige Christen in der Bibel eine Sammlung solcher Erfahrungen entdecken, liegt die Vermutung nahe, dass evolutionär bewährtes Handeln und pures Gottvertrauen letztlich dasselbe seien, wie Reinhard Wiesemann bemerkte.

Aber meinen Gläubige und Säkulare überhaupt dasselbe, wenn sie von Vertrauen sprechen? Zu Recht rief Helmut Fink zu einer klaren Begriffsbestimmung auf, um Missverständnisse zu vermeiden. So bedeutet der Begriff Vertrauen im Alltag häufig nichts anderes "als für zutreffend halten", ganz ohne emotionale Aufladung. Fraglich ist nur, ob die zeitgenössische Theologie da mitgeht. Frank Vogelsang zumindest räumt zwar diese verschiedenen Bedeutungsnuancen ein, hält aber dennoch an einer besonderen, religiösen Bedeutung des Begriffs fest, die sich gegenüber alltäglichen Vertrauensakten durch stärkere Passivität auszeichnet: "Man ist nicht aktiv, sondern wird von Gott angesprochen." Gleichwohl räumt er ein, dass die Parallelen und Differenzen zwischen Christen und Säkularen hier auch für die Zukunft noch viel Diskussionsstoff bereithalten.

Scheinsicherheit in der Echokammer

Der aktuelle Bezug der Debatte wurde gegen Ende der Diskussion deutlich, als Frank Vogelsang eine massive Zunahme der gefühlten Unsicherheit in der Bevölkerung diagnostizierte. Nach seiner Beobachtung führe sie zu einer Abschottung gegenüber Andersdenkenden als gleichberechtigte Gesprächspartner.

Nicht nur Vogelsang sieht darin einen Nährboden für künftige Problemfelder. Auch Helmut Fink warnt davor, dass die unübersehbare Menge von Informationen in der Wissensgesellschaft Menschen überfordert und in die Scheinsicherheit von Echokammern treibt.

Dagegen komme es im Leben immer auch darauf an, kompetent mit Unsicherheit umzugehen und sich der Unsicherheit zu stellen, anstatt Freund-Feind-Schemata aufzubauen, so Vogelsang: "Wenn man zu schnell dogmatisch wird, verliert man die Fähigkeit, klüger mit der eigenen Unsicherheit umzugehen." Oder führt die Erkenntnis der eigenen Unsicherheit im Gegenteil zu mehr Toleranz, weil sie uns vor Augen führt, dass unser eigenes Wissen und unsere Kompetenzen begrenzt sind, wie Reinhard Wiesemann hofft?

Dass die Tiefe und Relevanz der Thematik im Rahmen der Diskussionsrunde nur angeschnitten werden konnte, liegt auf der Hand. Festzuhalten bleibt, dass die angerissenen Fragen auch in Zukunft nichts an Aktualität einbüßen werden. Die Diskussionsreihe "Lasst und reden!" wird 2019 fortgesetzt. (Hashtag bei Twitter: #lasstunsreden)