Die Mythen und Verschwörungserzählungen, die sich rund um das Coronavirus ranken, sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Dem widmet der Skeptiker, die Zeitschrift der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP), eine Sonderausgabe.
"Die Corona-Einschränkungen sind doch nur ein Vorwand, um uns die Grundrechte zu nehmen!", "Bald kommt die Zwangsimpfung!", "Und ausgelöst wurde das Ganze durch den neuen Mobilfunkstandard 5G!": Wer noch immer meint, dass Verschwörungsmythen lediglich von einer Handvoll randständiger Existenzen geglaubt werden, wird in diesen Wochen eines Besseren belehrt. Corona-Mythen kursieren beim Verwandtenbesuch, beim Klönen mit den Nachbarn oder den leidigen Diskussionen mit Maskenverweigerern im Supermarkt, die ihre Unvorsichtigkeit als Akt des Widerstands feiern wollen. Der gefährliche Unsinn ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und gerade im Freundes- und Familienkreis gestaltet sich die Debatte mit Kreuz- und Querdenkenden mühsam. Es macht definitiv keinen Spaß mitzuerleben, wie liebe Menschen in den Verschwörungssumpf abgleiten.
Was tun? Darüber sprach Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder mit Expertinnen und Experten. Für das aktuelle Skeptiker-Sonderheft hat er wertvolle Tipps zusammengestellt.
Eines ist dabei ganz deutlich: Das sofortige Erfolgserlebnis wird es nicht geben, wie Dr. Holm Hümmler aus Erfahrung sagt. Trotz allem lohne es sich, dranzubleiben. Das betonen auch die Psychologen Alexander Waschkau ("Hoaxilla") und Dr. Sebastian Bartoschek sowie Saba-nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank. Nicht nur, weil der Widerspruch gegenüber Verschwörungsmythen ein wichtiges Signal darstellt. Sondern auch, um den Draht zu den Menschen hinter dem Quatsch nicht zu verlieren. Kontraproduktiv wäre es allerdings, gleich den vollen Konfrontationskurs einzuschlagen. Sozialpsychologe Roland Imhoff von der Uni Mainz bringt es auf den Punkt: die Sorgen des Gegenübers ernst nehmen, ohne den Theorien zuzustimmen. Was noch? Emotionale Anekdoten aus dem eigenen Alltag können beispielsweise zu einer gelungenen Kommunikation beitragen, so Sabine Riede von der Sekteninfo NRW.
Doch was wird da eigentlich genau geglaubt? Wie hängen die einzelnen Erzählstränge zusammen und welche Bezüge zu älteren Verschwörungserzählungen gibt es? Und warum ist all das für einige Menschen so attraktiv? Diesen Fragen ist der größte Teil des Skeptiker-Sonderheftes gewidmet.
Bernd Harder, der auch das A–Z der Corona-Mythen bei der GWUP betreut, beginnt die Betrachtung mit dem wohl grundlegenden Narrativ, dem vom "Deep State". Dieser "Tiefe Staat", eine mächtige Schattenregierung, soll hinter den Corona-Einschränkungen stecken, einen monströsen Kinderschänderring betreiben, und nur Donald Tramp stellt sich ihnen entgegen. Behauptet jedenfalls eine ominöse Quelle namens "QAnon" – und findet Gehör beim Kochbuchautor, dem Schnulzensänger und erschreckend vielen anderen, auch in Deutschland. In das Feindbild von der skrupellosen Elite passt auch der verbreitete Hass auf Bill Gates, in dem sich Kapitalismuskritik und Impfgegnerschaft mischen. Im April weltweit die meistverbreitete Corona-Verschwörungstheorie.
An diesem Beispiel zeigt das Sonderheft einen bedeutenden Aspekt dessen, was die Faszination von Verschwörungserzählungen ausmacht: Sie schaffen scheinbare Orientierung in einer unübersichtlichen Situation. Objektiv betrachtet, ist das Virus unser Feind. Für die menschliche Psyche bietet der Microsoft-Gründer ein viel besseres Hassobjekt als ein unsichtbarer Krankheitserreger, wie Kriminalpsychologin Lydia Benecke erklärt. Fachleute sprechen von einer Komplexitätsreduktion. Nicht weniger wirksam sind weitere subjektive Nutzeffekte des Verschwörungsglaubens. Die Gläubigen erleben sich als aufgewertet, fühlen sich in ihrer Einzigartigkeit bestätigt. Darüber hinaus mindert der Verschwörungsglaube das Gefühl von Hilflosigkeit und wirkt damit entlastend.
Doch wie lassen sich Verschwörungstheorien von legitimer Kritik unterscheiden? Die bedeutenden Merkmale des Verschwörungsdenkens sind im Sonderheft zusammengefasst. Der Glaube an widersprüchliche Sachverhalte gehört dazu. So ging etwa in einer Befragung der Uni Erfurt jeder Zehnte davon aus, dass das Coronavirus überhaupt nicht existiert, hielt es jedoch gleichzeitig für eine Biowaffe aus dem Labor. Typisch sind ferner ein Generalverdacht gegenüber jeglichen offiziellen Erklärungen und die feste Überzeugung, dass die Verschwörer aus üblen Motiven heraus handeln und "die da oben" Böses im Schilde führen. Ebenso häufig zeigt sich auch der Glaube an die eigene Opferrolle und die Immunität gegen jede Widerlegung. Scheinbare Beweise lassen sich überall finden – selbst nebensächliche Ereignisse werden so gedeutet, dass sie zum eigenen Weltbild passen.
Zugegeben: Für die Unverdrossenen, die das Gespräch mit Gläubigen suchen, ist diese Liste wenig ermutigend. Einen Hoffnungsschimmer gibt es dennoch: Denn mit ihrem eigenen Zweifel können sie den Glaubenden noch am ehesten aus der Welt der Scheinerklärungen helfen, wie das Heft im Schlusswort den Experten Michael Butter zitiert: "Geduldige Menschen haben das bei Betroffenen schon erreicht."
Sie können das Skeptiker-Sonderheft hier bestellen: als Print-Ausgabe oder als ePaper.
1 Kommentar
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A.S. am Permanenter Link
Wenn Verschwörungstheorien nicht mit Gewalt als "wahres" Narrativ durchgesetzt werden, gehen sie an der Realität und der Erfahrung zu Grunde.