Skeptiker 3/2020 erschienen

Sexueller Missbrauch: Falsche Erinnerung durch Psychotherapie

Zu Unrecht beschuldigt: Wenn Erwachsene ihren Familienmitgliedern plötzlich sexuellen Missbrauch in der Kindheit vorwerfen, kann dies im Zuge einer bestimmten Form von Psychotherapie geschehen. Die Klienten glauben dann, sich an Vorfälle zu erinnern, die nie stattgefunden haben. Bestärkt werden sie von Therapeuten, die an der Entstehung solcher Falscherinnerungen unbeabsichtigt mitgewirkt haben: durch suggestive Gespräche, Erwartungsdruck und Vieles mehr.

Die Folgen sind fatal: Viele Klienten brechen den Kontakt zur Familie ab, einige erstatten Anzeige bei der Polizei. Vermeintlichen Rückhalt finden sie in Internetgruppen mit anderen Betroffenen. Doch ihre eigentlichen Probleme, bei denen sie sich therapeutische Unterstützung erhofften, bleiben ungelöst.

Wie kann es sein, dass Menschen derart überzeugende Falscherinnerungen ausbilden? Unser Gedächtnis ist kein Archiv, aus dem wir Erinnerungen wie alte Dokumente hervorholen und anschließend unverändert wieder zurücklegen. Das Erinnerte wird vielmehr jedes Mal ein wenig verändert. Durch suggestive Gesprächsführung kann man sogar künstliche "Erinnerungen" an Ereignisse erzeugen, die nie stattfanden. Das gilt selbst für so traumatische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Mit diesem erschreckenden Phänomen und den Folgen setzt sich Buchautor Hans Delfs in der aktuellen Ausgabe des Skeptiker auseinander.

Sein Beitrag erläutert die gedächtnispsychologische Grundlage, um den Verschwörungsmythos vom "satanistisch-rituellen Missbrauch" zu verstehen, über den die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) bereits seit einigen Jahren informiert. Demnach sollen satanistische Missbrauchsnetzwerke im großen Stil monströse Verbrechen an Kindern verüben, doch dafür fehlt jeder Beleg – anders als bei wirklichen Missbrauchsfällen. Das Thema stand in den letzten Jahren bereits mehrfach im Zentrum viel beachteter Veranstaltungen und Veröffentlichungen der GWUP.

Dort engagiert sich beispielsweise die Kriminalpsychologin Lydia Benecke als fachlich kompetente Aufklärerin, etwa auf der SkepKon 2018. Interventionen seitens der Gläubigen waren bisher eher von Stimmungsmache als von sachlicher Argumentation dominiert. So lancierte die esoterikgläubige Psychotherapeutin Michaela Huber 2019 eine Protest-Mailkampagne gegen einen geplanten Vortrag von Lydia Benecke im Frankfurter "Club Voltaire", woraufhin der Club einknickte und die Veranstaltung absagte.

Trotz des immensen Gruppendrucks gelingt es einigen Betroffenen dennoch, aus dem Teufelskreis zu entkommen. Unterstützung finden sie bei der Institution False Memory Deutschland (FMD), zu deren Gründungsmitgliedern Skeptiker-Autor Hans Delfs gehört.

Noch findet das Problem der therapeutisch erzeugten Falscherinnerung – ein Qualitätsproblem in der Psychotherapie – zu wenig Gehör in der Öffentlichkeit, beklagen Marie Cammans und Federico Avellán Borgmeyer vom FMD-Vorstand. Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder hat mit den beiden ein Interview fürs Heft geführt, in dem sie von ihrer Arbeit berichten.

Eine auf den ersten Blick erstaunliche Frage wirft Amardeo Sarma in einem weiteren Beitrag auf. Anlass ist die Debatte um Dieter Nuhrs Imagevideo für die Deutsche Forschungsgesellschaft. Der Kabarettist hatte mit seiner Kritik am Slogan "Follow the science" ein vielschichtiges Thema angeschnitten – zu komplex für einen 50-Sekunden-Clip.

Weshalb hier eine differenzierte Betrachtung not tut, legt Sarma anhand von zwei aktuellen Beispielen dar, der Klima-Krise und der Corona-Krise. Nach seiner Ansicht sind bei der Entscheidungsfindung nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern beispielsweise auch politische und ethische Überlegungen zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Für Deutschland sei der zeitlich begrenzte Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie die richtige Entscheidung gewesen. In Indien jedoch hatte eine ähnliche Maßnahme verheerende Folgen für die ärmere Bevölkerung. Sie verloren ihre Arbeit in den Städten und mussten zurück in ihre Dörfer, meist zu Fuß, oft mehrere hundert Kilometer. "Das kann man sehr wohl kritisieren", schreibt Sarma, "auch wenn die Entscheider, allein auf die Eindämmung der Pandemie bezogen, völlig richtig lagen." Er wünscht sich eine Wissenschaft, die klarmacht, dass es unterschiedliche Wege geben kann, je nach gesellschaftlichen Prioritäten.

Das lässt sich auch auf die Klima-Krise übertragen, wie Sarma darlegt: "Wollen wir einem armen Land im Süden den Bau von Kohlekraftwerken verdenken, mit denen es einen Mindestwohlstand erreichen möchte? Vielleicht will ein Land an der Küste mehrere Kernkraftwerke bauen, um sowohl Strom zu erzeugen als auch Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben." Zwei Beispiele, die illustieren, wie stark auch scheinbar theoretische Fragen mit konkreten Entscheidungen verknüpft sind. Es wäre wünschenswert, dass Sarmas Beitrag eine breite, substanzielle Debatte anstößt.

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