Zur hysterisierenden Macht von Märchen

"Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot"

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Kaum eine Debatte polarisiert derzeit mehr und wird erbitterter geführt, als die um die Rückkehr des Wolfes. Umwelt-, Natur- und Tierschützer verweisen auf die wichtige Bedeutung der Tiere für das Ökosystem und freuen sich, dass der Wolf, der seit 150 Jahren als "ausgerottet" galt, mittlerweile wieder in durchaus beträchtlicher Zahl hiesige Wälder durchstreift. Andere, Weidetierhalter vor allem, aber auch Jäger und besorgte Spaziergänger, fordern gezielte "Eingriffe in die Natur", sprich: die Tötung von "überzähligen" oder "auffällig" gewordenen Wölfen, sogenannten "Schadwölfen" also, die sich an einem Schaf oder einer Kuh vergriffen haben; beziehungsweise an einem Reh oder Wildschwein. Sofortiger Abschuss wird mit Nachdruck auch gefordert, wenn ein Wolf sich in die Nähe einer menschlichen Ansiedlung verirrt hat; beziehungsweise jemand behauptet, einen gesehen zu haben.

Wölfe stehen gleichwohl unter strengstem Schutz, sie einfach abzuknallen ist selbst für Jäger nicht statthaft. Ein vorsätzlicher Abschuss kann mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Und passive Schutzvorkehrungen – elektrifizierte Wolfszäune und/oder Herdenschutzhunde – sind teuer (auch wenn sie staatlich gefördert werden) und geben keine hundertprozentige Gewähr. Die Fronten zwischen Naturschützern und Wolfsgegnern sind verhärtet, zumal bei Letzteren, bei denen immer auch – oder in erster Linie – wirtschaftliche Interessen eine Rolle spielen. Hinzu kommt die künstlich geschürte Angst vor dem "großen bösen Wolf" und damit die Macht der Hysterie.

Meister Isegrim

Wesentlich geprägt, zumindest im kollektiven Unterbewusstsein, ist das Bild des Wolfes durch das von einer Generation zur nächsten tradierte Geschichten-, Sagen- und Märchengut, in dem er, der "Meister Isegrim" (mittelhochdeutsch aus îsen "Eisen" und grînen "knurren") seit je alles andere als gut wegkommt.

Foto: © GAP/Colin Goldner
Dornröschen, Foto: © GAP/Colin Goldner

Schon im Alten Testament gilt der Wolf als Sinnbild für das Böse schlechthin, als Satan und damit "Gegenspieler Gottes", der, habgierig und unersättlich, dessen Schafe und Lämmer angreift, um sie zu töten und zu verschlingen. Auch im Neuen Testament ist viel von "reißenden Wölfen" die Rede – gemeint sind falsche Propheten und Irrlehrer –, die sich, verkleidet in Schafspelz, in die Herde Gottes einschleichen, um dort furchtbaren Schaden anzurichten (Matthäus 7,15): Der Wolf als Inbegriff von Heimtücke, Bosheit und Arglist.

Urdeutsches Kulturgut

Die Inzidenzwerte fallen. Seit Ende Mai 2021 dürfen Kultureinrichtungen jeder Art wieder Besucherinnen und Besucher empfangen. Auch die sogenannten Märchenwälder und Märchenzoos dürfen wieder öffnen, in denen kleine Kinder lernen, was es mit dem Wolf auf sich hat.

Ab Ende der 1920er waren, ganz dem Geist der Zeit entsprechend, quer durch Deutschland sogenannte "Märchenwälder" eingerichtet worden, in denen Kindern und Erwachsenen die Märchen der Gebrüder Grimm vermittelt wurden. Diese galten als "urdeutsche Volksliteratur" und daher als unabdingbar in der Erziehung zu rechtem Deutschtum. Der 1931 begründete (und bis heute bestehende) Märchenwald Altenberg etwa (gelegen zwischen Solingen und Bergisch Gladbach) bestand, wie all die anderen Märchenwälder auch, aus einem umzäunten bewaldeten Areal mit um einen Rundweg herum angelegten kleinen Häuschen, in denen mittels lebensgroßer bemalter Gipsfiguren Schlüsselszenen aus den populärsten (der insgesamt rund 200) Märchen der Grimms dargestellt wurden (Aschenputtel, Frau Holle, Schneewittchen usw.). An den Häuschen waren Schrifttafeln angebracht, auf denen das jeweilige Märchen in Kurzform nachzulesen stand.

Während des "Dritten Reiches" wurden die gesammelten Werke der Grimms vom NS-Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vereinnahmt, die Märchen wurden integraler Teil des Schulunterrichts. Viele der Märchen wurden auch hochkarätig verfilmt: "Der Froschkönig" beispielsweise von einem Kamerateam, das den Riefenstahl-Reichsparteitagsfilm "Triumph des Willens" von 1934/35 gedreht hatte.

Die von den Nazis gezielt geschürte Begeisterung für die Grimmschen Märchen überdauerte die NS-Zeit, so dass in den 1950ern und 60ern zahlreiche weitere Märchenwälder begründet wurden. Ein gutes Dutzend davon, im Laufe der Jahre mehr oder minder modernisiert (zum Beispiel Märchentext vom Tonband) und um allerlei Freizeitparkelemente erweitert (Minigolf, Autoscooter, Parkeisenbahn, Sommerrodeln usw.), existiert bis heute. Einige dieser Einrichtungen verstehen sich ausdrücklich als "Märchenzoos", in denen als zusätzliche Attraktion lebende "Haus- und Wildtiere" vorgehalten werden.

"Hu! Da fing sie an zu heulen …"

Foto: © GAP/Colin Goldner
Hänsel und Gretel, Foto: © GAP/Colin Goldner

Unweit eines aufgelassenen Steinbruches bei Ratingen (NRW) findet sich der 1952 begründete "Märchenzoo am Blauen See". Auf einer Fläche von knapp drei Hektar führt ein Rundweg an einer Handvoll Grimmscher Märchenstationen vorbei: Dornröschen, Hänsel und Gretel, Schneewittchen, Froschkönig, Aschenputtel, Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, Tischlein deck dich; dazu Ali Baba und die 40 Räuber. An den Häuschen samt lebensgroßen Figuren – wetterfest aus Beton gefertigt – scheint seit den Gründertagen des Zoos nichts instandgesetzt oder wenigstens neu angestrichen worden zu sein: der "Märchenzoo am Blauen See" stellt sich unverändert genauso dar, wie ihn die Eltern, Groß- und Urgroßeltern heutiger Besucherkinder in ihrer eigenen Kindheit erlebt haben: Nichts, aber auch gar nichts hat sich geändert, was für das Gros der Besucher, die mit ihrem Nachwuchs hierherkommen, gerade den "Zauber" des völlig aus der Zeit gefallenen "Märchenzoos" ausmachen dürfte: Ganz so wie früher, ohne aufwändige Fahrgeschäfte oder Freizeitparkattraktionen, nur mit einem Sandkasten samt einer einfachen Rutsche. Und natürlich mit den Märchenstationen, über die die heutige Generation mit dem Märchengut der Gebrüder Grimm vertraut gemacht werden können: Von einer menschenfressenden alten Frau etwa, die in einen Backofen gestoßen und darin verbrannt wird: "Da gab ihr Gretel einen Stoß, dass sie weit hineinfuhr, machte die eiserne Tür zu und schob den Riegel vor. Hu! Da fing sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Gretel lief fort, und die gottlose Hexe musste elendiglich verbrennen" (Hänsel und Gretel). Oder von zwei bösen Stiefschwestern, denen zwei Tauben beide Augen aushacken: "Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr Lebtag bestraft" (Aschenputtel). Oder von einer Königin, die ein junges Mädchen seiner Schönheit wegen vergiften will, zuletzt aber selbst zu Tode gefoltert wird: "Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel" (Schneewittchen).

Nicht unerwähnt bleiben dürfen an dieser Stelle die antisemitischen Ressentiments, von denen die Märchen der Grimms weit mehr durchzogen sind, als dies auf den ersten Blick auffällt. Manches ihrer Märchen ist ganz unverhohlen antisemitisch: so sucht etwa ein "Jude mit einem langen Ziegenbart [=ein Rabbiner?]" in heimtückischer Manier einen Spielmann an den Galgen zu bringen, um sich dessen Geld anzueignen. Der Spielmann entlarvt das Lügenkonstrukt des Juden, der nun selbst zum Galgen geführt und aufgehängt wird (Der Jud‘ im Dorn). Im Gesamtwerk der Grimms findet sich eine lange Liste antisemitischer Textstellen.

"Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum …?"

In vielen Märchen der Grimms spielen Tiere eine tragende Rolle, meist kommen sie nicht gut weg (unabhängig davon, wie die jeweilige Geschichte tiefenpsychologisch oder sonstwie interpretiert werden mag): Ein Frosch etwa wird, als er von einer Prinzessin den versprochenen Lohn für eine Hilfeleistung einfordert, von dieser brutal an die Wand geknallt: "Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand: 'Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch'“ (Der Froschkönig). Merke: Frösche sind garstig, man darf sie getrost an die Wand werfen.

Foto: © GAP/Colin Goldner
Der Froschkönig, Foto: © GAP/Colin Goldner

Besonders schlecht kommt der Wolf weg: In einem der Märchen verführt er ein kleines Mädchen, das er letztlich, zusammen mit dessen Großmutter, auffrisst. Ein Jäger kommt des Weges und schneidet dem schlafenden Wolf den Bauch auf: "Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sprang das Mädchen heraus. Und dann kam die alte Großmutter auch noch lebendig heraus. Das Mädchen aber holte geschwind große Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, dass er gleich niedersank und sich totfiel. Da waren alle drei vergnügt" (Rotkäppchen). In einem anderen Märchen überlistet der Wolf sieben junge Geißlein, die er alle, bis auf eines, das sich zu verstecken weiß, verschlingt. Daraufhin schläft er ein. Als die Geißenmutter nach Hause kommt, schneidet sie "dem Ungetüm den Wanst auf, und kaum hatte sie einen Schnitt getan, so sprangen nacheinander alle sechs Geißlein heraus, und waren noch alle am Leben. Das war eine Freude! Die Alte aber sagte: 'Jetzt geht und sucht Wackersteine, damit wollen wir dem gottlosen Tier den Bauch füllen, solange es noch im Schlafe liegt.' Da schleppten die sieben Geißerchen in aller Eile die Steine herbei und steckten sie ihm in den Bauch, so viel als sie hineinbringen konnten. Dann nähte ihn die Alte in aller Geschwindigkeit wieder zu, dass er nichts merkte und sich nicht einmal regte. Als der Wolf endlich ausgeschlafen hatte, machte er sich auf die Beine, und weil ihm die Steine im Magen so großen Durst erregten, so wollte er zu einem Brunnen gehen und trinken. Als er aber anfing zu gehen, so stießen die Steine in seinem Bauch aneinander und rappelten. Da rief er: 'Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?' Und als er an den Brunnen kam und sich über das Wasser bückte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren Steine hinein, und er mußte jämmerlich ersaufen. Als die sieben Geißlein das sahen, kamen sie eilig herbeigelaufen und riefen laut: 'Der Wolf ist tot! Der Wolf ist tot!' und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den Brunnen herum" (Der Wolf und die sieben Geißlein). Merke: der Wolf ist hinterhältig und böse, man darf, ja muss ihn töten.

Der "Märchenzoo am Blauen See" hält neben den Märchenstationen eine Reihe an lebenden Tieren vor, die von den Besucherkindern gefüttert werden dürfen: einen Esel, ein Pferd, ein Hängebauchschwein, ein paar Hasen sowie Enten, Gänse, Hühner, Pfauen und eine Gruppe Ziegen. Letztere ist direkt in das Märchengeschehen eingebunden: der Ziegenstall stellt das Wohnzimmer der "sieben Geißlein" dar, durch dessen Fenster eben ein (Beton-)Wolf hereinspringt.

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