Kommentar

"Woran liegt es, dass wir noch immer Barbaren sind?"

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Holocaust-Mahnmal in Berlin

BERLIN. (hpd) Wir leben in entfesselten Zeiten. Liberale Demokratien geraten zunehmend in eine Defensivstellung. Grund genug, sich über die Rolle der Aufklärung in der heutigen Zeit Gedanken zu machen.

"Das Zeitalter ist aufgeklärt, [...] woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?"

Es war Friedrich Schiller, der diese Frage in seinen Briefen "Über die Ästhetische Erziehung des Menschen" stellte. Sie war eine selbstkritische Reaktion auf die Französische Revolution, die in ihrer zweiten Phase zu einer gewaltvollen Schreckensherrschaft ausartete: Verfolgung im Namen der Freiheit, blutiges Morden im Namen der Brüderlichkeit – so als hätte es das Ideal der Aufklärung nie gegeben. Schillers Glaube an die humanisierende Wirkmacht der Vernunft entpuppte sich als Irrglaube. 

"Die Aufklärung, deren sich die Gebildeten nicht mit Unrecht rühmen, ist bloß theoretische Kultur, und zeigt, im ganzen genommen, so wenig einen veredelnden Einfluss, auf die Gesinnung, daß sie vielmehr bloß dazu hilft, die Verderbnis in ein System zu bringen und unheilbarer zu machen", schrieb Schiller am 13. Juli 1793 an Friedrich Christian von Augustenburg. Er brachte damit seine schmerzhafte Enttäuschung zum Ausdruck und nahm dabei einen Gedanken vorweg, der im 20. Jahrhundert unter den Protagonisten der "Kritischen Theorie" populär werden sollte.

Die "Dialektik der Aufklärung"

Auch Adorno und Horkheimer fragten sich, warum die düstere Realität so gar nicht den schönen Prognosen der Aufklärer folgen wollte. In ihrem bahnbrechenden Werk "Dialektik der Aufklärung" von 1947 versuchten sie die Frage zu klären, "warum die Menschheit anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt". Eine Antwort fanden sie im "Doppelcharakter der Aufklärung", durch den die selbstzerstörerische Aufklärung quasi geschichtsnotwendig in "Mythologie" zurückschlage. 

Für die Denker der "Kritischen Theorie", die trotz allem am Projekt der Aufklärung festhielten, war die Vernunft jedenfalls nicht imstande, "ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen". Denn Adornos und Horkheimers Denken und Fühlen waren von der Kenntnis des vollständig industrialisierten, nach Produktivitätsvorgaben und Fahrplan geregelten millionenfachen Massenmordes in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten geprägt. Es war ein Massenmord, an dem sich die Vernunft offenbar selbst beteiligte. 

Der Fortschrittsoptimismus der Moderne und die Theorien vieler Aufklärer wurden durch das unfassbare Grauen von Auschwitz in ihren Fundamenten erschüttert. Gekommen war kein "ewiger Frieden" im Sinne Kants, noch ein "Reich der Freiheit" nach marxistischer Vorstellung, sondern bloß die nackte Barbarei. Auf den Schlachtfeldern der beiden hochtechnologisierten Weltkriege wurden nicht nur Körper von Soldaten in Stücke zerrissen, es detonierten auch die Heilsgeschichten und die mit ihnen verbundenen Hoffnungen und Illusionen. Die albtraumhafte Realität moderner Kriegsführung machte keinen Unterschied zwischen "Held" und "Feigling". Sie interessierte sich nicht für persönliche Ideale und alte Weltbilder, sondern tötete und zerstörte mit mörderischer, anonymer Effizienz. 

Der radikale Humanist Albert Camus umschrieb die Mentalität der desillusionierten Generation der Nachkriegszeit in seiner Nobelpreisrede 1957 folgendermaßen:

"Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine noch größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern. Als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, tollgewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der Mächte ohne Größe heute wohl alles zu zerstören, aber niemand mehr zu überzeugen vermögen, in der die Intelligenz sich so weit erniedrigt, dem Hass und der Unterdrückung zu dienen, sah diese Generation sich vor die Aufgabe gestellt, in sich und um sich ein weniges von dem, was die Würde des Lebens und des Sterbens ausmacht, wiederherzustellen."

Die "halbierte Aufklärung"

Adorno und Horkheimer erkannten die Gefahren einer durchrationalisierten Welt, in der das menschliche Leben verobjektiviert und einer umfassenden Kontrolle unterworfen wird. Es ist eine Welt der vernunftorientieren Kalkulation, in der das einzelne Individuum nur wenig zählt. Und auch in einem weiteren Punkt hatten die Denker der "Frankfurter Schule" Recht: Die Früchte der Aufklärung steigerten das technische Vernichtungspotential, das ohne die Prinzipien rationaler Erkenntnis und Naturbeherrschung nicht möglich wäre.