Seit einer Woche können wir nun erleben, wie zerbrechlich der Frieden auch in Europa ist. Was über 30 Jahre zusammengewachsen ist, wird wieder auseinandergerissen. Und Schlimmeres könnte passieren, wenn es jemand darauf anlegt. Mut macht auf der anderen Seite die seltene Einigkeit im Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine.
Vergangenen Sonntag hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst vor einem Krieg. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich bin 1990 geboren, für mich ist Frieden eine Selbstverständlichkeit, den Kalten Krieg kenne ich aus Geschichtsbüchern und James Bond. Nun wurden wir – wieder einmal, historisch gesehen – Zeuge, wie zerbrechlich so ein Frieden ist. Und wie schnell er zerbrechen kann. Auch in Europa. Dabei waren wir uns doch eigentlich alle einig, dass wir nie wieder Krieg wollen.
Als dann zum ersten Mal das Wort "Weltkrieg" fiel, konnte ich es nicht fassen. Dieses Wort gehört nicht in die Gegenwart. Dann der nächste Tabubruch: Der russische Präsident versetzte seine Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft. Für Menschen, die über Jahre mit dieser potentiellen atomaren Bedrohung gelebt haben, mag es vielleicht anders gewesen sein, aber für mich war es ein Schock, überhaupt darüber nachzudenken, das als Option in Erwägung zu ziehen, was keine Option ist. Was wollte man mit einem Atomkrieg erreichen? Solange jeder etwas zu verlieren hat, geht die Rechnung der gegenseitigen Drohgebärden auf. Aber was ist, wenn auf einer Seite jemand steht, der glaubt, nichts mehr zu verlieren zu haben und unbedingt ein politisches Vermächtnis hinterlassen will? Der in Erinnerung bleiben will, egal zu welchem Preis? Ich sage es offen: Mir macht diese Möglichkeit Angst. Und ich wünsche mir sehr, dass sie unbegründet ist.
Nach dem Abitur habe ich an einem Partnerstadtaustausch mit Russland teilgenommen. Wir haben uns gegenseitig unsere Städte und Länder gezeigt und zusammen gefeiert. Das, was bei solchen Reisen und Begegnungen hängen bleibt und was sie so ungemein wertvoll macht, ist, dass wir alle einfach nur Menschen sind, die in Ruhe ihr Leben leben wollen. Im idealistischsten Fall verhindert so etwas Kriege, weil man sich nicht fremd ist und deshalb weniger leicht gegeneinander aufgehetzt werden kann. Letzte Woche schrieb mir jemand von damals, dass "die Militäroperation (…) nicht der Anfang, sondern das Ende des Krieges" sei. Wir versuchten, uns auszutauschen, aber es ist, als würden wir in zwei Welten leben. Unser Bild von der Realität unterscheidet sich diametral.
Es gäbe so viele wichtige Dinge zu tun, die die Welt nur als Gemeinschaft lösen kann – den Klimawandel bekämpfen zum Beispiel, oder die Corona-Pandemie beenden, die ja immer noch in vollem Gange ist, auch wenn das seit einer Woche in den sich überschlagenden Livetickern untergeht. Stattdessen müssen jetzt alle Ressourcen darauf verwendet werden, Menschen zu helfen, die aus ihrer Heimat fliehen, aus Angst um ihr Leben, und darauf, einen souveränen Staat bei der Verteidigung seiner Existenz zu unterstützen und nebenbei zu versuchen, keinen Weltkrieg auszulösen. Das alles müsste nicht sein.
In nur einer Woche wurden viele Strukturen auseinandergerissen, die über 30 Jahre gewachsen sind. Es ist traurig, das mitanzusehen. Andererseits macht es Mut, wie entschlossen viele Länder und andere Akteure aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Sport und Kultur handeln. In jedem Bereich wird dem russischen Staat signalisiert, dass er eine rote Linie überschritten hat. Obwohl Putin sich über Jahre bemüht hatte, in EU und USA Spaltungstendenzen voranzutreiben, hat er zahlreiche Staaten durch sein Vorgehen nun zu selten gesehener Einigkeit gebracht. Der vorläufige Höhepunkt dessen war die Abstimmung über die Resolution in der UN-Vollversammlung, welche den Krieg in der Ukraine verurteilt. Nur vier Staaten – Nordkorea, Eritrea, Syrien und Belarus – stimmten mit Russland gegen die Resolution. 34 Länder enthielten sich, 13 stimmten nicht ab. 141 votierten dafür. Russland steht mit seinem Vorgehen also in zweifelhafter Gesellschaft ziemlich allein da. Auch wenn die Resolution rechtlich nicht bindend ist, ist ihre Botschaft doch eindeutig: Die Welt will keinen Krieg und heißt es nicht gut, wenn ein Staatenführer einen solchen aufgrund persönlicher Machtansprüche vom Zaun bricht und die Grundregeln, auf die wir uns geeinigt haben, mit Füßen tritt.