Chile – das (unbekannte) Land der Extreme

SANTIAGO DE CHILE. (hpd) Seit Februar 2016 lebt und arbeitet der langjährige HVD-Funktionär Dr. Bruno Osuch in Santiago de Chile. Zusammen mit seiner Frau hat er eine Stelle als Lehrer und Koordinator an der Deutschen Schule angenommen – eine der traditionsreichsten Deutschen Auslandsschulen, die in diesem Jahr ihr 125-jähriges Jubiläum feiert. Bruno Osuch hat sich bereit erklärt, für den hpd von seinen Erfahrungen aus dem für uns Deutsche doch recht weit entfernten Kontinent Südamerika in regelmäßigen Abständen zu berichten.

"Vidal – Honecker – Pinochet – Anden" - das sind in der Regel die ersten und oftmals auch einzigen Assoziationen, die viele Deutsche beim Stichwort Chile haben. Und ich muss zugeben, dass auch ich überrascht war, wie wenig ich letztlich von diesem Land wusste, als das Angebot der Deutschen Schule Santiago de Chile im Sommer 2015 auf unseren Schreibtischen lag. Zwar versuchten wir, bis zum Start nach Südamerika so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Aber das reale Leben vor Ort war und ist dann doch deutlich anders, als im fernen Europa gedacht. Kurzum: Mit dem Flug vom deutschen Winter in den chilenischen Sommer im Februar 2016 begann ein einziges großes Abenteuer.

Schon der Blick auf die Anden während der letzten Etappe des Fluges von Argentinien nach Chile war überraschend: eine einzige riesige zerklüftete "Mondlandschaft" – d.h. weit und breit kein Baum und kein Strauch, kein Grün in den Tälern, nahezu keine Straßen oder Ortschaften. Der Grund: Santiago liegt etwa auf dem Breitengrad von Marrakesch – nur eben auf der Südhalbkugel. Die Anden sind hier vergleichbar mit dem Atlasgebirge in Nordafrika. Also extrem trockene, heiße und lange Sommer, in denen auch die letzten Gräser nach kurzer Zeit verdorren. Und nur die 6000er Gipfel ragen schneebedeckt heraus. Eine Region, die für menschliches Leben nahezu ungeeignet erscheint. Für unser an bewaldete Alpenhänge und grüne Hochgebirgsmatten gewohntes Auge jedenfalls eine völlig fremde Landschaft.

Schon daran wird deutlich, dass wir Europäer kaum eine wirkliche Vorstellung von der extremen Geografie Chiles haben. So entspricht die Nord-Süd-Ausdehnung des Landes mit 4.300 km etwa der Lage zwischen Schweden und Mali südlich der Sahara! Gleichzeitig beträgt die maximale Ost-West-Ausdehnung Chiles gerade einmalmal 180 km, d.h. die breiteste Stelle des Landes ist kleiner als die Entfernung Hannover-Dortmund. Das lange und schmale Land liegt somit eingequetscht zwischen dem Hochgebirge der Anden und dem Pazifischen Ozean und hat andererseits fast alle wichtigen Klimazonen der Erde: Von der teilweise vergletscherten Südspitze Patagoniens und Feuerlands mit Pinguinen, der eher "mitteleuropäische" Zone ebenfalls im Süden über das mediterrane Klima im Zentrum um Santiago herum bis zur subtropischen Atacama-Wüste im Norden, die zu den trockensten Regionen der Erde gehört.

Doch dürfte die Mehrheit der Chilenen in ihrem Leben kaum die Gelegenheit haben, all diese höchst faszinierenden Regionen ihres Landes je besuchen und genießen zu können. Denn es fehlt ihnen einfach am Geld. Das Land ist vor allem ökonomisch tief gespalten.

Obwohl die sozialdemokratisch geführten Regierungen die extreme Armut in den letzten Jahren deutlich verringern konnten, ist der Unterschied zwischen Arm und Reich nach wie vor enorm. So verfügen rein statistisch die oberen 20 Prozent der Bevölkerung über die Hälfte aller Einkommen. In Wirklichkeit aber wird die Wirtschaft – und damit auch indirekt die Politik – von ein paar Dutzend superreichen Familienclans beherrscht.

Da sich Santiago in den letzten Jahren zu einer der dynamischsten Metropolen Südamerikas entwickelt hat, will jeder, der nur irgendwie kann, in dieses wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum kommen. Folge: Fast die Hälfte aller 18 Millionen Einwohner des Landes konzentriert sich auf den Großraum Santiago. Da sich die "Deutsche Schule Santiago de Chile" (es gibt noch eine Reihe weiterer "Deutscher Schulen" in der Hauptstadt, aber alle mit anderen Bezeichnungen) im vornehmsten und reichsten Bezirk befindet, merkst Du jedoch von alledem kaum etwas. Nur beim Einkaufen wundert man sich, dass jeder Kunde an der Kasse in jedem Laden gefragt wird "Credito?" – also "Einkauf auf Kredit?"

Egal, ob du eine Waschmaschine oder eine Tube Zahnpasta kaufst. Daran wird deutlich, dass ein Großteil der Menschen ständig "auf Pump" lebt und permanent verschuldet ist. Hinzu kommt, dass das Preisniveau trotz deutlich niedrigerer Durchschnittslöhne für viele Alltagsartikel sogar noch höher als in Deutschland liegt – zumindest in den großen Supermarktketten. Folge: Die Masse der Menschen versorgt sich hauptsächlich über die großen Straßenmärkte, wo die Bauern aus dem Umland ihre Waren sehr viel günstiger anbieten. Und das Wort "Urlaub" dürfte für die meisten Menschen ohnehin ein Fremdwort sein. Als deutscher Lehrer aber gehörst du zu den eher Privilegierten und freust Dich schon auf den ersten Urlaub in deiner neuen Heimat. Und dieses Gefühl kommt bereits bei der Autofahrt vom Flughafen ins Zentrum hoch – wenn du merkst, dass Du auf der Südhalbkugel der Erde bist – die Sonne steht sengend heiß im Norden!