Flüchtling Yazan

Im hpd berichtet ein syrischer Flüchtling über seine Flucht aus dem bürgerkriegsgeschütteltem Land und seine vier Versuche, die Türkei Richtung Europa über das Mittelmeer zu verlassen. Unsere Autorin hat Yazan getroffen und mit ihm über seine Flucht und seine Ankunft in Deutschland gesprochen.

Yazan (Name geändert), 21 Jahre, lebt in Schenkenzell. Nachts bekommt er kein Auge zu. Krasse Bildern aus seinen Erinnerungen rauben ihm den Schlaf. Parallel dazu leben seine Eltern in einer Region die fast täglich bebombt wird.

Auf Europäer wirken Yazan Geschichten abstrakt. Die Grausamkeit geht über unser komplettes vollkommenes Begreifen. Regelmäßig trifft er seine Patin, die ihn durch Behörden und den Alltag leitet. Erst mit der Zeit brechen bruchstückhaft Episoden aus dem jungen Syrer. Beim Geschirr abräumen. Beim Lernen von neuen Vokabeln. Beim Blumen gießen. »Erzählst du mir einmal deine ganze Geschichte?«, fragte die Patin neulich.

Geboren wird Yazan im Süden Syriens als ältester Sohn einer Lehrerin und eines Rechtsanwalts. Die Schwester ist ein Jahr, der Bruder fünf Jahre jünger. Zu Hause betreibt die Familie eine kleine Landwirtschaft. "Hätte ich nicht studiert, müsste ich mich zu Al-Assads Armee einziehen lassen. Ich will doch kein Soldat sein", erklärt Yazan. Der junge Syrer erinnert sich:

"Ich sah und hörte den ersten Schuss mit 16 Jahren. Der Krieg begann in Daraa. Es war im Jahr 2011, die Zeit als die Soldaten Al-Assads den Kindern die Fingernägel mit Zangen herauszogen. Deshalb protestierten viele Leute gegen Assad. Wir wollen nicht, dass Assad dasselbe unseren Kindern antut. In unserer Stadt lebten 40.000 Menschen. Davon demonstrierten 39.000 Menschen gegen Assad, dem nur 1000 Anhänger blieben. Da wir nah an der Grenze zu Libanon haben, besitzen viele Leute Waffen und es kam zu Kämpfern. Assad schickte bald 200 Panzer und 10.000 Soldaten. In der Stadt bildete sich eine Freearmy mit 500 Leuten. Helikopter warfen Bomben über der Stadt ab. Feuerwerkskörper haben übrigens denselben Geruch der Bomben. Viele Männer, Frauen, Kinder, alte Leute starben. Nach 15 Tagen zog Assads Armee dann nach Damaskus ab.

Nach diesem Kampf sagte mein Vater, dass es nicht sicher genug um in der Stadt zu bleiben. Er hatte Angst um uns. Er hatte einen Freund in einem Nachbarort, nur wenige Kilometer entfernt. Die Fahrt dafür dauerte in dem bergigen Gebiet aber zwanzig Minuten. Baba buchte uns ein Hotel, damit wir in Sicherheit sein konnten. Es war verboten die Häuser zu verlassen. Meine Eltern nahmen lediglich einige Wertsachen mit, und wir flohen ohne Gepäck kurz vor dem nächsten Kampf nach Bludan mit dem Auto meines Vaters. Niemand durfte uns sehen. Die Freiarmee wollte uns schützen, Al-Assads Armee wollte uns töten. Unterwegs sahen wir viele Familien die ebenfalls flohen. Als wir im Auto waren hörten wir, wie die Kämpfe wieder starteten. Dieser Kampf hörte bis heute nicht mehr auf.

Meine Familie blieb in Bludan. Nach zwei Tagen im Hotel fand der Freund meines Vaters ein Haus das wir anmieteten. Etwa 30000 Syrian Pounds verdient meine Mutter als Lehrerin. Umgerechnet sind das etwa 15 Euro. Die Miete kostet jeden Monat 7000 Syrian Pound (3,50 Euro). Mein Vater konnte nicht mehr arbeiten, sein Arbeitsplatz war zerbombt. Ich hatte meinen Hund, einen Haski, in Zabadani lassen müssen. Er wollte unser Haus verteidigen. Die Soldaten erschossen ihn.

Unser erstes Haus in Bludan war unter der Erde. Der Bruder meines Vater und meine Großeltern lebten auch dort. Wir hatten nur zwei Räume, aber zwei Bäder. Mein Vater wählte diesen unterirdischen Wohnraum, damit wir sicher sein konnten. Drei Monate blieben wir dort. Danach nahmen wir eine andere Wohnung, diese Mal über der Erde im Erdgeschoss. Dort leben meine Eltern heute noch. Das Haus ist 60 Quadratmeter groß, inklusive zwei Räume, einem Bad und dem Balkon.

Die Menschen in Bludan organisierten keine Demonstrationen und so war das Leben relativ sicher. Sie behaupteten, sie seien für Al-Assad. Aber sie sagen das bis heute nur aus Angst, um nicht ebenso wie der Nachbarort Zabadani zerbombt zu werden. Sie möchten nur ihre Kinder schützen.

Meine Mutter arbeitet seit 2013 als Lehrerin, Baba fand keine Arbeit. Er versucht seinen Job so gut es geht auszuüben, aber nur manchmal bekommt er Kunden.

Wir Kinder gingen in Bludan zur Schule. Ich war 15 Jahre alt damals. Dort lief der Unterricht relativ normal ab. Nur ab und zu kamen die Soldaten, um die Kinder der Familien aus Zabadani zu checken. Dann rannten wir Kinder aus der Schule davon und versteckten uns, und die Lehrer deckten uns. Das passierte etwa zwei Mal pro Woche. In 2013 nahmen Al-Assads Soldaten aber die Lehrer aus Zabadani mit. Die brachten sie an ihren Standort, ähnlich einer Kaserne. Sie folterten die Lehrer, brachen ihnen Arme und Beine. Ein Lehrer erzählte mir, wie er gefoltert wurden. Die Soldaten fesselten ihn an einen Baum. Sie schlugen ihn mit der Rückseite ihrer Gewehre oder mit Stöcken und bewarfen ihn – zum Spaß – mit Steinen. Danach konnten die Lehrer mehrere Wochen nicht arbeiten. Ein Lehrer kann jetzt zwar wieder arbeiten, aber er wird wohl sein Leben lang humpeln. Ein beliebter Weg um Menschen zu foltern sind auch das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut oder Elektroschocks.

Ende 2014 Zeit bekamen wir rund 10.000 Terroristen des ISIS in unsere Region, wir nennen sie Daesh.

Bludan liegt im Gebirge. Die Armee von Al-Assad umzingelt Bludan von drei Seiten aus. In den höheren Bergen stecken rund 10.000 dieser Esel (Daesh). Das Problem ist, dass die Armee auf den Daesh schießt und der Daesh auf die Army. Bludan steckt in der Mitte und bekommt viele Bomben und Schüsse ab. Das passiert nicht so oft, nur etwa zwei oder drei Mal pro Woche. Erschossene Soldaten werden schnell ersetzt. Ich hasse niemanden aus der Armee, denn die Soldaten werden dazu gezwungen. Wollen sie ausbrechen, werden sie erschossen. So gut wie niemand ist freiwillig in AL-Assads Armee.

Studium in Damaskus

Ich beendete meine Schulzeit Ende 2014 mit einem guten Abitur. Meine Eltern schickten mich danach nach Damaskus um Elektrotechnik und Kommunikation zu studieren. Ich hatte ein kleines Zimmer in der Nähe der Universität, das teilte ich mit sieben weiteren Studenten. Meine Leistungen waren an der Universität sehr gut.

In der Nähe von Damaskus treibt sich auch der Daesh herum. Sie begannen Bomben auf die Regierungsgebäude zu werfen. In der Nähe meiner Universität ist ein sehr wichtiges Lager für Generäle und Soldaten. Genau diese Gebäude wollte der Daesh bebomben.

Eines Tages war ich mit meinen Kommilitonen gerade auf dem Weg in die Uni, wir sollten Prüfungen schreiben. Da hörte ich die Bomben und warf mich wie üblich auf den Boden. Es ist eine normale Reaktion. Wenn du eine Bombe hörst, legst du dich im Reflex auf den Boden.

Zu Hause gab es keinen Strom. Dann aber startete Baba den Generator um Radio zu hören. Ausgerechnet an diesem Tag berichteten sie von dem Anschlag auf die Universität. Sie riefen mir an und fragten, ob mit mir alles in Ordnung sei. Drei Bomben waren zuvor gefallen:

Ich sah insgesamt drei meiner Mitstudenten auf dem Boden liegen. Ihre Kleidung war sehr blutig. Nach der ersten Bombe sah eine große Staubwolke – und ich konnte sie auch riechen. Den ersten verletzten Studenten versuchten wir zu tragen, um ihn in das Auto eines Professors zu tragen. Als wir ihn anhoben, fiel seine hintere Schädelplatte heraus und das Gehirn schlackerte aus seinem Schädel auf den Boden. Wir wussten, dass er nicht mehr zu retten waren. So konnten wir nur noch den Leichnam ins Auto tragen.

Dann hörten wir eine zweite Bombe zischen und warfen uns wieder auf den Boden. Die Bombe flog direkt über unsere Köpfe hinweg, bevor sie einschlug. Ich kann Bomben manchmal fühlen. Wieder lag ein Student am Boden. Ein Bombensplitter hatte seinen Arm getroffen und steckte noch tief im Fleisch. Wir trugen den Freund in einen anderes Auto.

Nach etwa einer Stunde hörten wir die dritte Bombe, die am Ende der Universität einschlug. Viele Studenten kamen angerannt und wollten helfen, waren aber in eine Schockstarre gefallen. Bombensplitter hatten einen Studenten vor allem in den Bauch getroffen, der Boden war von Blut durchtränkt. Kleine Metalle steckten in der Haut und im Bauch, im Arm und in den Beinen. Wir hatten keine Autos mehr zur Verfügung. So brachten wir den Verletzten mitten auf die Straße. Das nächstbeste Fahrzeug stoppten wir und ordneten dem Fahrer an, dass er den Mann ins nächste Krankenhaus fahren musste.

Meine Eltern wurden fast wahnsinnig vor Angst. Am nächsten Tag rief mein Vater an und befahl mir, nach Europa zu gehen. Er schickte mir Geld, damit ich einen syrischen Pass anfertigen lassen konnte. Dafür musste ich bei der Assad Army ein Pfand von 300 US-Dollar hinterlegen. Das Geld reichte nicht ganz und so jobbte ich noch eine Woche lang dafür.

Mein Vater wollte außerdem, dass ich meinen kleinen Bruder mit mir nehme, um ihn in Sicherheit zu bringen. Es war gar nicht einfach meinen Bruder aus Bludan heraus zu bringen. Die Al-Assad Armee hatte einen Checkpoint eingerichtet, den musste man passieren. Nur durch einen Trick gelang das. Mein Vater ging zu seinem Bruder, einem Arzt. Der schrieb ein Attest, dass mein Bruder eine Vergiftung habe und dringend ins Krankenhaus nach Damaskus müsste. Nur so konnte er die Grenze überwinden. Als mein Bruder kam hatte er das Gold meiner Mutter dabei. Das sollte ich in Damaskus verkaufen, damit wir genug Geld für die Flucht hatten.

Ich holte meinen Bruder ab, wir bekamen unsere Pässe und bereits eine Stunde später saßen wir in einem Auto unterwegs nach Libanon. Wir erreichten den Airport "Rafek al Harere" in Beirut. Sechs Stunden warteten wir auf unseren Flug. Unser Flugzeug war das Letzte, das von Libanon in die Türkei flog. Ich war sogar der letzte Passagier der einstieg, bevor die Tür schloss. Nach zwei Stunden landeten wir in Adana. Wir bekamen sogar noch einen Stempel in den Pass, da wir auf einem legalen Weg gekommen sind.

Flucht nach Europa

Ich kannte nur einen Freund in der Türkei und der half uns. Wir kamen 15 Tage in einem Apartment in Istanbul unter. Wir mussten einen Türken finden, der uns über die Ägäis nach Europa brachte. Nach langer Suche fanden wir schließlich einen Schlepper. Zuerst fuhr er uns sechs Stunden durch das Land und erreichten so das Meer. 700 US-Dollar sollte die Überfahrt nach Griechenland kosten. Der Schlepper sagte, das Boot sei neun Meter lang und 40 Personen könnten damit fahren. Er hatte gelogen. Das Boot war aber nur sieben Meter lang und wir waren 65 Kinder, Frauen und Männer. Es sah so unsicher aus, dass wir die Walnussschale gar nicht besteigen wollten. Doch bedrohte uns der Schlepper mit einer Waffe damit wir einstiegen. Ich protestierte nicht weiter, denn ich wollte meinen Bruder schützen. Vielleicht waren wir auch erfolgreich?

Die Nacht war kalt. In der Mitte des Meeres entdeckte uns die türkische Seepolizei. Sie umkreisten unser Boot lange Zeit und wir hatten Angst. Plötzlich fuhr das Polizeiboot mit Absicht so nah an uns heran, dass unglaublich viel Wasser ins Boot schwappte. Wir kenterten. Wer stark genug und alleine war, der sprang ins Wasser und begann zu schwimmen – sofern er es konnte. Es gab aber auch einige Familien mit kleinen Kindern und Babies. Wir versuchten zu den Schwachen helfen. Ich sprang ins Wasser und schrie einer Mutter "gib mir das Baby". Ich schwamm lange Zeit auf der Stelle und hielt dabei das Köpfchen des etwa 18 Monate alten schreienden Kindes über Wasser.

Nach einer Weile kam dasselbe Polizeiboot wieder an – um uns aus dem Meer zu retten. Zuerst wollten sie uns versenken, danach retten? Doch bevor sie uns aus dem Wasser zogen schossen sie noch eine Menge Fotos von uns. Die Seepolizei zeigte sich sehr erbost über uns Flüchtlinge. Sie schlugen uns oder warfen uns unsanft in ihr Boot. Auch Kinder ab fünf Jahren etwa wurden geschlagen. An Land wurden wir auf die Polizeistation gebracht, fotografiert und einfach entlassen.

Unsere Gruppe blieb zusammen und wir gingen wir nach Cesme. Von dort aus versuchten wir mit einem Boot nach Chios zu kommen. Wir waren noch nicht eingestiegen, da erwischte uns die Polizei am Strand. Wir mussten wieder zur Wache, wurden fotografiert – und entlassen.

Beim dritten Versuch wollten wir von Izmir aus nach Mytilene auf der Insel Lesbos kommen. Die Abmachung war dieses Mal neu. Wir waren noch 40 Leute und das Boot sollte neun Meter lang sein. Aber am Ende hatte das Boot lediglich fünf Meter Länge. Die Überfahrt hätte wieder 650 US-Dollar gekostet. Zur Abmachung gehörte aber auch, dass der Schlepper das Geld erst bekommt, wenn wir in Griechenland heil angekommen sind.

Als wir sahen, dass das Boot nur fünf Meter lang war, wollten wir nicht erst einsteigen. Wieder zog der Schlepper eine Waffe und zwang uns einzusteigen. Aber alle in der Gruppe waren fertig mit den Nerven. Wir sagten, dann solle er uns einfach erschießen. Erschossen zu werden ist immer noch besser, als im kalten Meer zu ertrinken. Das war mein Ernst. Ich war empfindungslos und fühlte mich tot, weil ich selbst so viel Tote gesehen hatte. Sollte ich jetzt sterben? Okay. Aber bitte nicht im Meer nach stundenlangem Kampf gegen die Wellen.

Der Schlepper sah, dass wir keine Angst vor dem Tod hatten. Dann kam etwas, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Plötzlich rannte der Mann davon und schrie, er sei nicht verantwortlich für uns. Das Boot löste sich derweil vom Strand und wurde ohne Passagiere ins Meer hinausgezogen.

Vom Strand aus rannten wir in den nahen Wald und liefen die ganze Nacht hindurch, um die Hauptstraße zu erreichen. Es war so kalt, minus fünf Grad vielleicht. Für die Bootsfahrt hatten wir kaum Kleidung angezogen, weil sie einen im Wasser nach unten ziehen kann. Wir hatten aber noch unsere Rettungswesten an, die uns ein wenig wärmten. Wir kamen erst um vier Uhr nachts an eine Straße. Wie es der Zufall will trafen wir dort genau den Türken, der uns am Abend zuvor das Boot andrehen wollte. Er kam mit seinem Auto angefahren und wollte damit in unsere Gruppe rasen, uns ermorden. Er erwischte mit seinem Fahrzeug einen 16-jährigen Jungen, so alt wie mein Bruder und brach ihm damit zuerst das Bein. Dann stieg er aus, schlug ihn und zog ein Messer. Ein anderer Flüchtling von kräftiger Statur griff ein, schlug den Schlepper und warf dessen Messer in die Büsche. Der Schlepper verzog sich danach.

Plötzlich kam die Polizei angefahren und sie brachten uns in ein Revier. Wir trugen noch immer die Rettungswesten und waren daher leicht erkennbar gewesen. Zwei Stunden saßen wir im Gefängnis. Wir wurden schließlich fotografiert – und entlassen.

Ein viertes Mal wollte ich nicht mehr gehen. Sollte ich in der See ertrinken? Oder von der Polizei oder der Mafia erschossen werden? Ich änderte meinen Plan zu fliehen. Aber mein Freund war mental sehr stark. Er drängte mich, dass wir die Überfahrt nochmal versuchen sollten. Ich weiß nicht, woher ich die Kraft genommen hatte. So gingen wir zum vierten Schlepper. Wenn wir überleben? Okay. Aber wir hatten ohnehin kein Zuhause mehr. Wir versuchten wieder nach Mytilene auf der Insel Lesbos zu kommen. Das Meer war an diesem Abend sehr still. Der Schlepper fragte uns noch, ob wir einen Fahrer brauchen. Auf den verzichteten wir aber.

Wir strukturierten die Überfahrt genau. Ein Freund von uns war der Fahrer und wir erteilten klare Befehle. Im Boot bauten wir eine Festung. Die Kinder sollten in der Mitte sitzen, dann kamen die Frauen und die Männer sollten außen sitzen, um die Schwachen zu schützen. Niemandem gestatteten wir zu sprechen. Ich ordnete an, dass nur der GPS-Mann und der Fahrer sprechen durften – ansonsten würde ich sie eigenhändig ins Wasser werfen. Die Drohung zeigte ihre Wirkung. Keiner sprach. Das Boot startete.

Im ersten Moment hatte ich dasselbe mulmige Gefühl, wie beim ersten Versuch. Ich dachte, nach zwei Metern im Wasser, werden wir wieder sinken. Durch die schlechten Erfahrungen hatte ich furchtbare Angst. Mein Adrenalin war auf Höchststufe, und ich war zu allem bereit. Aber wir erreichten Lesbos – und sogar meine Socken blieben trocken – zumindest bis ich aus dem Boot stieg.

Auf Lesbos halfen uns freiwillige Helfer aus den Booten. Ich dachte nur, wir sind im Paradies angekommen, hatten es geschafft. Ich spürte endlich feste Erde unter meinen Füßen und legte mich dankbar auf den Boden. Allen ging es so. 40 Menschen lagen auf der Erde, sprachen kein Wort und schauten nur in den Himmel. Freiwillige einer Hilfsorganisation brachten uns nach einer Weile in ein Camp. Wir bekamen Schuhe, Kleidung, heißen Tee und Essen. Wir bekamen sogar Jacken. Wir kamen in ein Zelt, dort erholten wir uns zwei Tage.

Wir wurden mit einem großen Schiff nach Thessaloniki gebracht (80 Euro/Person). Danach erreichten wir bei Idomeni die mazedonische Grenze. Zwölf Stunden schliefen wir dort. Dann steckte uns die Polizei einen Bus. Wir durchfuhren Mazedonien und kamen nach Serbien in ein anderes Camp. Von dort ging es weiter nach Kroatien und nach Slowenien. In Slowenien wurden wir bestohlen. Sie nahmen uns Geld ab, wenn wir mehr als 200 Euro mit uns hatten (ich hatte nur noch 40 Euro bei mir), Feuerzeuge, Schmuck und Metalle aller Art, wie etwa Schlüssel, wurden uns abgenommen. Wir wurden in ein großes Zelt mit bestimmt 1000 Leuten darin gebracht. Ich lauschte dort nach den Atemzügen der anderen und konnte selbst nicht schlafen. Morgens bekamen Nummern an die Hände, ich hatte die Fünf. Wir sollten in den Bus einsteigen und dort schlief ich ein. Als ich wieder aufwachte, war ich in Österreich. Dort gab es nur einen Buswechsel, ich bestaunte die hohen Berge und lernte mein erstes Wort in Deutsch: Willkommen.

Ankunft in Deutschland

In München wurden wir vom deutschen Militär registriert und geprüft. Dort blieben wir bis zum nächsten Morgen. Mein Freund wurde von einem Soldaten ganz nah ins Gesicht angebrüllt. Er sagte: "Why you are here? Go back and fight for your country. We have a lot of refugees here. We don’t need more refugees!". Mein Freund begann zu weinen. Er bekam ein Ticket, um zurück nach Österreich zu fahren. Wir wurden auseinander gerissen und waren verzweifelt.

Ich bekam einen freundlichen Soldaten. Vorsichtig fragte ich, ob mein Bruder und ich auch zurück nach Österreich gehen müssten. Er verneinte. Ich sollte in Deutschland bleiben. Einerseits war ich schrecklich traurig darüber, dass ich meinen Freund gehen lassen musste, andererseits froh, dass ich nach Deutschland gehen konnte. Der Soldat schickte uns nach Ellwangen zur Landeserstaufnahme.

Wir blieben 15 Tage in Ellwangen. Dann hatten wir einen Transfer nach Rottweil. Das Sozialamt steckte uns vom Bus in eine Unterkunft in einem Dorf.

Das ist am 1. Februar 2017 ein Jahr her. Nach einem Monat verliebte ich mich in eine deutsche Frau. Sehr schnell lernte ich die Sprache. Im April werde ich mit dem Sprachlevel B1 abschließen. Ich war seit dem Frühsommer fast dauernd in Praktika zum Elektroniker. Außerdem bin ich ehrenamtlich in der DRK-Ortsgruppe aktiv. Für den Herbst habe ich einen Ausbildungsplatz zum Elektroniker."