Kommentar

Deutsche Wirtschaftspolitik gefährdet die Europäische Union

Die Europäische Union ist in einer tiefen Krise. Die auseinanderdriftenden Kräfte sind derzeit deutlich stärker als das Gefühl zur europäischen Familie zu gehören. Die osteuropäischen Staaten gehen ihre eigenen, nationalistischen Wege, die südeuropäischen Länder, allen voran Griechenland, leiden unter der schon lange anhaltenden Krise mit schwächelnder Wirtschaftsentwicklung und hoher Jugendarbeitslosigkeit, und die Briten sind dabei sich zu verabschieden.

Deutschland geht es gut. Die Wirtschaft brummt und die Exporte steigen weltweit. Deutschland ist das wirtschaftlich stärkste Land in der Europäischen Union mit erheblichen Exportüberschüssen. Auch wenn der neue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Interview mit der Berliner Morgenpost (15.4.17) davon ausgeht, dass Deutschland die europäischen Partner als Gleichwertige ansehe, sieht die politische Realität vollkommen anders aus. Auf der Grundlage seiner wirtschaftlichen Stärke übt die deutsche Regierung erheblichen Druck auf die anderen Staaten der Europäischen Union aus, damit diese das deutsche, angebliche Erfolgsrezept übernehmen. Dieses Rezept lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: Neoliberale Reformen in der Wirtschaft und Sparen im Staatshaushalt.

Sparen ist gut und schön, aber sparen unter dem neoliberalen Diktat, bedeutet vor allem sparen bei Löhnen und Sozialsystemen und Entlastung der großen Vermögen, der Konzerne und Banken. In Deutschland hat diese Art von Reformen dazu geführt, dass vor allem die Arbeitnehmer durch niedrige Löhne und die mehr als zehn Millionen Beschäftigte im Niedriglohnsektor die wirtschaftliche Entwicklung finanzieren, und die deutsche Wirtschaft aufgrund der im Vergleich zu anderen europäischen Staaten niedrigeren Lohnkosten einen Konkurrenzvorteil hat. Dies führte zu langjährigen veritablen Exportüberschüssen, die inzwischen weltweit als Hindernis für ein faires Handelssystem kritisiert werden.

Außerdem hat die neoliberale Reformagenda dazu beigetragen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer tiefer wird. So besitzen die reichsten zehn Prozent der Deutschen rund zwei Drittel aller Fabriken, Immobilien und Wertpapiere. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt nichts oder hat Schulden. "Die Verteilung von Reichtum in Deutschland ist obszön" (D. Bartsch, Tagesspiegel 23.4.17). Würden die deutsche "Reformvorschläge" eins zu eins umgesetzt, was beispielsweise die französischen Gewerkschaften keinesfalls akzeptierten, so entstünde eine Abwärtsspirale, bei der alle Mitgliedsstaaten um die niedrigsten Löhne konkurrieren müssten. Die Löhne würden noch viel stärker unter Druck geraten als sie es jetzt schon sind. Am Ende würden alle verlieren.

Welche fatalen Folgen die Reformvorschläge aus deutschen Landen haben, lässt sich eindrucksvoll am Beispiel Griechenlands demonstrieren: Über zwei Drittel der Hunderte Milliarden von öffentlichen Geldern schweren Hilfspakete fließen direkt über Bankenrekapitalisierung oder indirekt über Staatsanleihen an den Finanzsektor, der die Krise zu weiten Teilen verursacht hat. Anstatt der griechischen Bevölkerung zu helfen, kommen die Maßnahmen Finanzinstituten und Spekulanten zugute. Die sozialen Folgen sind verheerend: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 27 Prozent, knapp die Hälfte der jungen GriechInnen ist arbeitslos. Die Renten wurden mehrmals hintereinander um insgesamt rund ein Drittel gekürzt, Gehälter und Löhne sind um ein Viertel gesunken. Viele GriechInnen verarmen, werden obdachlos. Schwerkranke können ihre Medikamente nicht mehr bezahlen, die Suizidrate hat sich nahezu verdoppelt.

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble hat diese Politik massiv vorangetrieben, gibt gern den Zuchtmeister und möchte Griechenland am liebsten ganz aus der Europäischen Union oder zumindest aus der Eurozone vertreiben. Derzeit ist er bemüht den Internationalen Währungsfond aus den Verhandlungen mit Griechenland herauszuhalten, vermutlich weil dieser schon länger einen Schuldenschnitt fordert, was Schäuble und die CDU fürchten, wie der Teufel das Weihwasser. Dabei wären dies nach Meinung renommierter Ökonomen neben einem europaweiten Investitionsprogramm die einzig realistischen Maßnahmen, die den Namen Griechenland-Rettung verdienten.

In Griechenland sind völkische und nationalistische Bewegungen wie in vielen anderen Gesellschaften der Europäischen Union entstanden, denn die linke SYRIZA, die seit 2015 die Regierung stellt, konnte an der griechischen Misere bisher auch nichts wesentlich ändern. So hat bei der Europawahl 2014 die rechtsradikale Goldenen Morgenröte fast zehn Prozent der Stimmen geholt. In vielen anderen Staaten der Europäischen Union haben nationalistisch und völkisch orientierte Parteien zwischen zehn und zwanzig Prozent der WählerInnen hinter sich. In Österreich fehlten nur wenige Prozentpunkte, und die FPÖ hätte den Bundespräsidenten gestellt.

An dem Sonntag der Stichwahl in Frankreich hat die Kandidatin des europafeindlichen Front National Marine Le Pen bei der Wahl zum Präsidenten rund 35 Prozent der Stimmen geholt. Wenn man in Rechnung stellt, dass ein Drittel der WählerInnen gar nicht zur Wahl ging, und dass viele WählerInnen Emmanuel Macron als kleineres Übel gewählt haben, wird deutlich, dass der neue Präsident seine MitbürgerInnen nur überzeugen kann, wenn er eine solidarische Politik für alle Französinnen und Franzosen macht. "Emmanuel Macron muss Erfolg haben – wenn er scheitert, wird Frau Le Pen in fünf Jahren Präsidentin" (Sigmar Gabriel, Berl. Zeitung 8.5.17).

In den osteuropäischen Ländern stellen die nationalistischen Parteien längst die Regierung. Am Beispiel Polens lässt sich verdeutlichen, wie es der Partei von Jaroslaw Kaczynski gelungen ist, stärkste Partei mit bis zu 38 Prozent der Stimmen zu werden. Obwohl viele Polinnen und Polen und europäische Partner die völkischen Töne und demokratiefeindlichen Maßnahmen der von der PiS geführten Regierung kritisieren, bekommt sie mehr Zustimmung als die zweit- und drittstärkste Partei zusammen. Im Unterschied zu der liberal-konservativen Vorgängerregierung, die unter dem neoliberalen Diktat vor allem Wirtschaft, Konzerne und Banken förderte, setzt die PiS vor allem auf Sozialpolitik. Die Regierung hat ein Kindergeld von rund 150 Euro eingeführt, das die soziale Situation für arme und kinderreiche Familien deutlich verbesserte.

Sollten also nationalistische Parteien in Westeuropa Fragen der sozialen Gerechtigkeit für sich "entdecken", ist zu erwarten, dass sie deutlich mehr Zustimmung bekommen, als dies jetzt schon der Fall ist. Und sie wollen und werden, das haben sie schon lauthals verkündet, die Europäische Union zerstören.

Seit Jahrzehnten dominiert in den Europäischen Institutionen wie in allen ihren Staaten die neoliberale Doktrin, die Konzernen, Banken und Finanzhaien freie Hand lässt und bei Löhnen und Sozialsystemen lediglich das Wort Sparen kennt. Anstatt eine solidarische Wirtschaftspolitik auszuarbeiten setzten die Verantwortlichen auf das Motto: Der Markt wird es schon richten. Diese Politik hat rund ein Viertel der Bevölkerung zu Verlierern gemacht, und die Verunsicherung über zukünftige sichere Arbeitsplätze und gute Einkommen strahlt weit in die Mittelschicht. Sicher ist das Problem der sozialen Schieflage nicht die alleinige Ursache für den Erfolg der nationalistischen Parteien, aber das Beispiel Polen zeigt, dass dies für viele Menschen ausschlaggebend sein kann.

Wenn die Politiker der Europäischen Union die nationalistischen und völkischen Bestrebungen wirksam und langfristig bekämpfen wollen, müssen sie die neoliberale Doktrin über Bord werfen, die Interessen aller MitbürgerInnen berücksichtigen und zu einer solidarischen Politik finden. Das bedeutet eine Umverteilung des Reichtums von oben nach unten, höhere Spitzensteuersätze und Vermögenssteuern und Löhne, die ein gutes Leben ermöglichen. Es erfordert weiterhin einen solidarischen Umgang der Länder der Europäischen Union untereinander und Investitionsprogramme anstelle weiterer Spardiktate.

Deutschland hat für diese Problemlage die größte Verantwortung, denn es ist das Land mit der stärksten Wirtschaft, die am meisten von der derzeitigen europäischen Krisensituation profitiert. Die deutsche Regierung muss ihre Blockadehaltung verbunden mit einem rigiden Spardiktat aufgeben und das Ihre dazu beitragen ein weitreichendes europaweites Investitionsprogramm aufzulegen um die lahmende Wirtschaft vieler Länder der Europäischen Union voranzubringen.