Nachdem Martin Schulz Anfang dieses Jahres zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt wurde, und er die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit zum Schwerpunkt seiner Wahlkampagne ausgerufen hatte, erfolgte ein politisches Erdbeben. Erstmals seit vielen Jahren zog die SPD in der Sonntagsfrage mit 32 Prozent an der CDU vorbei, und tausende BürgerInnen traten in die Partei ein. Die SPD sah sich auf der Gewinnerstraße und Martin Schulz als kommenden Kanzler.
Nach drei verlorenen Landtagswahlen ist der Frust in der Partei groß, die SPD in der Wählergunst dort angelangt, wo sie vor der Wahl von Martin Schulz war, bei rund 25 Prozent. Der Schulz-Zug sei entgleist, wie Kritiker und politische Gegner höhnisch bemerkten. Wie konnte dies in so kurzer Zeit geschehen?
Martin Schulz und mit ihm die SPD definieren soziale Gerechtigkeit vor allem als Chancengerechtigkeit mit Schwerpunkt in der Bildungspolitik. Dies ist nicht falsch, aber einseitig. Denn die wirklich Bedürftigen, die prekär Beschäftigten, Minijobber, Langzeitarbeitslose, Harz IV Empfänger und alleinerziehende Mütter, also rund ein Viertel der deutschen Bevölkerung, bleiben bei diesem Verständnis außen vor. Von daher ist zu vermuten, dass viele dieser Menschen, nachdem sie erkannt haben, dass die mit viel Getöse verkündete soziale Gerechtigkeit an ihrer sozialen Misere nichts verbessert, sich um eine weitere Hoffnung betrogen fühlten und ihre Sympathien von der SPD wieder abgezogen haben.
In diesen Tagen haben führende GenossInnen erneut gezeigt, wie sie es mit der sozialen Gerechtigkeit halten. In einem Eilverfahren, das allen demokratischen Gepflogenheiten Hohn spricht, wurde das Gesetzespaket über die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, das mit zahlreichen Änderungen des Grundgesetzes verbunden ist, innerhalb von 48 Stunden durch Bundestag und Bundesrat gepeitscht. Eine der wichtigsten Bestimmungen dieses Pakets besagt, dass beim Bund eine zentrale Stelle für Autobahnen und Bundesstraßen gegründet wird, die ab 2021 Bau, Planung und Betrieb der Autobahnen und wichtiger Bundesstraßen betreibt.
Was zunächst als sinnvolle Reform daherkommt, zeigt sich bei näherer Betrachtung als Verschleuderung öffentlichen Eigentums. Denn diese Gesellschaft ist als Öffentlich-Private Partnerschaft konzipiert, die schließlich in eine GmbH übergehen soll. Diese entscheidet dann auf Grundlage des Aktiengesetzes, und der Bundestag bleibt außen vor. Private BeraterInnen haben diese Infrastrukturgesellschaft, wie sie inzwischen genannt wird, konzipiert, um Autobahnen in Deutschland zu privatisieren und Finanzprodukte für Banken, Versicherungskonzerne und andere Finanzhaie zu schaffen. PolitikerInnen verkaufen, was ihnen nicht gehört, zu Schleuderpreisen an private Investoren, die sich über sichere und risikolose Profite freuen dürfen, denn wenn es finanziell eng wird, ist immer noch der Staat mit im Boot – und der zahlt ja bekanntermaßen gerne, wenn es darum geht Arbeitsplätze zu sichern. Außerdem kassieren die Investoren über die Maut, die nach und nach an die "aktuellen Erfordernisse" angepasst werden kann.
Aus dieser Sicht macht auch die von Verkehrsminister Dobrindt und der CSU durchgeboxte Mautregelung Sinn, denn damit verfügt die zukünftige Infrastrukturgesellschaft quasi eine Lizenz zum Geld drucken.
Auf diese Weise bezahlen Bürgerinnen und Bürger, die Autobahnen und Straßen schon über ihre Steuern finanziert haben, mit der Maut ein zweites Mal, was ihnen eigentlich schon gehört. Es gibt zwar in dem Gesetz eine von der SPD durchgesetzte Privatisierungsschranke, die Privatisierung bis maximal 100 Kilometer Autobahn erlaubt. In der Praxis wird dies darauf hinauslaufen, dass sich die Investoren die Rosinen herauspicken und die weniger attraktiven Teile der Autobahn von der Öffentlichen Hand betrieben werden müssen. So befürchten Kritiker im Bundestag, dass die Berliner Stadtautobahn aufgrund des großen Verkehrsaufkommens und der hohen Baukosten für die Investoren besonders interessant sein könnte (Berliner Zeitung, 2.6.17).
Bei den Vorreitern des Neoliberalismus werden die Champagnerkorken knallen. Die Ideologen des schlanken Staates arbeiten seit jeher daran, profitable Bereiche der öffentlichen Daseinsfürsorge zu privatisieren, um sich fette und risikolose Profite zu sichern. Ob es sich nun um Gas. Strom oder Wasser handelt, Hauptsache der Rubel rollt. Jetzt also Autobahnen und Bundesstraßen. Damit wird ein zentraler Bestandteil der deutschen Infrastruktur, ein Stück deutscher Identität, den Hyänen des Kapitalmarktes zum Fraß vorgeworfen. Während in Berlin und anderen Kommunen daran gearbeitet wird, Gas, Strom und andere Güter der Grundversorgung wieder unter die Kontrolle der Öffentlichen Hand zu bekommen, ist dies Einsicht bei der Bundesregierung offensichtlich noch nicht angekommen.
In diesem Zusammenhang sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es der damalige Parteivorsitzende der SPD Sigmar Gabriel war, der die Idee der Infrastrukturgesellschaft auf die Tagesordnung brachte und als Wirtschaftsminister in Zusammenarbeit mit Finanzminister Schäuble und Verkehrsminister Dobrindt eine Kommission berief, die den Vorschlag konkretisierte (Berliner Zeitung, 23.3.17).
Neben anderen führenden GenossInnen war es auch Hannelore Kraft, die den genannten Plan vorantrieb, weil sie auf den Geldsegen aus Berlin hoffte. Was sind schon Prinzipien, wenn es um Geld geht? Der Prophet der sozialen Gerechtigkeit, Martin Schulz, hat zu diesem Komplex kein Wort verloren; er hätte den Ausverkauf noch stoppen können, da viele SPD-Mitglieder und Abgeordnete dem Projekt sehr kritisch gegenüberstehen. Die führenden GenossInnen beteuern, sie hätten das Schlimmste verhindert – doch wer glaubt noch einem Sozialdemokraten?
12 Kommentare
Kommentare
Wolfgang am Permanenter Link
Die Reichen machen Gesetze für die Armen. Man nennt es auch zynisch Soziale Gerechtigkeit. Und machen wir uns doch nichts vor, Reiche und Arme hat es schon immer gegeben und es wird auch so bleiben.
Nick am Permanenter Link
"Gebetet wird übrigens nur bei den Armen."
Bei mir nich :-)
Andrea Diederich am Permanenter Link
Ohne Knete helfen keine Gebete.
Rainer b. am Permanenter Link
"...doch wer glaubt noch einem Sozialdemokraten?"
Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten! Seit mittlerweile 15 Jahren(!) ist dieser Satz bei den verschiedensten Themen vollauf berechtigt. Ob Rentenkürzung/-privatsierung, Hartz IV, Steuergeschenke/-verzicht bei Unternhemen und Reichen, Kriegsbeteiligung (Jugoslawien, Afghanistan, Syrien), Privatisierungswellen in der öffentl. Daseinvorsorge, TTIP, Ceta, Tisa - die SPD ist stets willfähriger Büttel von neoliberaler Umverteilung. Selbst von der Parteibasis beschlossene "rote Linien" werden vom Vorstand bei Bedarf rücksichtslos geschleift. Nach alldem ist es eigentlich schon Realsatire, dass der Kanzlerkandidat ausgerechnet mit dem Thema soziale Gerechtigkeit in den Wahlkampf zieht. Nicht weil es dafür zu wenig Zuspruch in der Bevölkerung gebe, sondern weil sich die SPD bei diesem Thema hochgradig unglaubwürdig gemacht hat, und die verdrucksten bzw. fehlenden Stellungnahmen eines Herrn Schulz dies bestätigen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Volle Zustimmung!
Nur - wer macht es besser? Die Linke?
Wenn ja - warum hat die angesichts ihrer mageren %e ein Problem damit, das erfolgreich zu kommunizieren?
Kay Krause am Permanenter Link
Sagt mal ehrlich, liebe deutsche Mitbürger: wird es nicht langsam Zeit, dass wir mal unser Auto stehen lassen und statt dessen auf die Straße gehen?
Letztlich liegt diese schleichende Bereicherung der Großkopfeten am "Volks-Eigentum" auch daran, dass wir seit über 70 Jahren in unseren bequemen Sesseln sitzen, diese Mafia machen lassen und sagen: "Es wird schon gut gehen, bisher ist's ja auch gut gegangen!" Nein, es geht eben nicht gut, jedenfalls nicht für uns, die Bevölkerung. Da nützt uns auch der weise Satz unseres Alt-Bundespräsidenten Weizsäcker nichts: "Wir Deutsche jammern auf einem relativ hohen Niveau", denn der Vergleich mit anderen Ländern gehört hier nicht her, wo es darum geht, dass wir die mit unseren sauer verdienten Steuergeldern bezahlten Strassen nun noch einmal bezahlen sollen. Mit Wasser, Strom und Gas verhält es sich ähnlich.
Vielleicht sollten sich mal Organisationen wie AVAAZ oder CAMPACT mal mit diesen Themen befassen?
Mad Scientist am Permanenter Link
Man definiere soziale Gerechtigkeit... Umverteilung ist es jedenfalls schon mal nicht.
Schulz ein Prophet? Vielleicht der Gier, als Spesenritter der EU hat er ja die größte Erfahrung, aber schon der Job als OB ging ja leicht daneben...
Ansonsten ist der Artikel ein einzigartiges Sammelsurium der sozialistischen Schlagworte ohne jeden Inhalt. Und ganz schlecht gegendert.... Ich als Mann fühle mich jedenfalls nicht angesprochen, ich bin halt keine der GenossInnen. Leute, lernt erstmal richtig Orthographie!
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Es ist nichts weniger als ein Verbrechen, die vom Steuerzahler bereits bezahlte Infrastruktur zum Renditebringer für Großinvestoren zu machen.
Es geht nur um eines hierbei: Zu Zeiten von Nullrenditen auf dem Kapitalmarkt den Großanlegern eine lukrative Verzinsung für die Geldberge zu verschaffen, auf denen sie sitzen. Der Bundesrechnungshof und nahezu alle Landesrechnungshöfe betonen seit Jahren die Zweifelhaftigkeit und wirtschaftliche Unattraktivität solcher Modelle. Da hat die öffentliche Hand die Möglichkeit, nahezu zum Nullzins in die Infrastruktur zu investieren und was tut sie? Überträgt diese Investitionen an Private, denen sie eine Rendite garantiert, die wohl derzeit auf dem Kapitalmarkt überhaupt nicht erreichbar ist. Cui bono? Follow the money! Diese beiden Grundweisheiten sind hier höchst angebracht.
Es ist schlicht und einfach Veruntreuung von Volksvermögen.
Roland Weber am Permanenter Link
Die Überschrift passt nicht zum Gegenstand des Kommentars.
Zum Text passt eher:
Wer hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Lukas 19,26
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Der Schulz-Zug sei entgleist" - der ist m.E. nicht nur nicht entgleist, er hat auch nie bestanden, es war Augenwischerei. Die 2010-Verursacher und Gerechtigkeit? Nehme ich denen nicht mehr ab.
Heidi Dettinger am Permanenter Link
Schulz wurde bejubelt - von den Dateifunktionären. Aber auch nur von denen.
Das "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" hat tatsächlich eine weitaus längere Geschichte... auch nach dem Krieg. Brandt, der Extremistengesetze eingeführt und damit unzähligen Lehrern, Postboten, Schaffnern Berufsverbot beschert hat. Schröder mit seinem Wahlkampfslogan "Arbeit, Abreit, Arbeit" - von Bezahlung, zumal gerechter, war keine Rede. Danach der bekannte Dreck von Harz IV.
Neben den Autobahnen zeigt Schulz seine wahre soziale Ader ja nun auch in Asyldebatte... SPD, mir graust's vor dir!
Arno Gebauer, ... am Permanenter Link
Moin,
eine soziale Gerechtigkeit gibt es nur dann, wenn die
Religionen endlich überwunden worden oder verschwunden sind.
Das will aber die SPD nicht.
Diese Partei paktiert mit den Religionsorganisationen und wird von diesen für ihre Zwecke benutzt und eingespannt.
Die Kirchen waren schon immer Teil des Problems, aber nie Teil der Lösung.
"Kirche ist keine Demokratie." - Joachim Kardinal Meisner !!!!!!
Deshalb ist nur eine entkirchlichte Gesellschaft fit für die Zukunft!
Viele Grüße
Arno Gebauer